Wittenberg und die Mark Brandenburg

1931.03.28. Unser Heimatland

Wittenberg und die Mark Brandenburg
Geschichtliche Erzählung aus der Zeit des falschen Waldemar

1. Herzog Rudolf I. als Regent der Mark.

      Auf einer der letzten Anhöhen im Norden der Stadt Wittenberg stand an einem warmen Junitage des Jahres 1319 ein Mann. Sein hoher, starker Wuchs, das reiche blonde Haar, welches unter der Kappe hervorquoll, und das breite Gesicht mit den etwas grobgeschnittenen Zügen ließen ihn unschwer als einen Nachkommen jener Ansiedler erkennen, die Markgraf Albrecht von Askanien, der Bär zubenannt, ins Land rief, aus dem er zuvor in hartem, blutigen Kampfe die heidnischen Wenden vertrieben hatte. Fläminger nannte man die neuen Bewohner nach ihrer Heimat Flamland, die sie verließen, weil ihnen die wilden Fluten der Nordsee Haus und Hof genommen. Nach ihnen erhielt der sandige Höhenzug, der meilenweit das rechte Ufer des breit dahinflutenden Elbstroms begleitet, seinen Namen Fläming.

Lange stand der Mann im Anschauen versunken da. Seine Hände stützte er auf einen derben  Knotenstock, während die Blicke über die wogenden Kornfelder zu seinen Füßen schweiften, um zuletzt an den Häusern der Stadt Wittenberg haften zu bleiben, die aus dem Grün der Bäume hervorschimmerten. Aus ihrer Mitte reckte sich der schlanke, spitze Turm der erst vor wenigen Jahren erbauten Marienkirche empor, deren helles Ziegelbach sich scharf von den vielfach noch mit Stroh bedeckten Dächern abhob.

Der Mann war so in den Anblick vertiefst, daß er nicht bemerkte, wie jest ein Zweiter um das nächste Kornfeld bog.

 „Hallo!“ rief er dem Dastehenden zu, „Nachbar Prambalg, du schaust ja so aufmerksam um dich, als sähest du das alles zum ersten Male“.

 „Guten Tag, Gevatter Kranepuhl,“ antwortete der Angeredete, indem er dem Angekommenen die Hand zum Gruße reichte. „Der Anblick fesselt mich auch immer wieder von neuem, dieweil ich dabei immer daran denken muß, wie sich unsere Gegend hier in knapp 150 Jahren so völlig verändert hat. Mein Vater hat es mir oft erzählt, und der hatte es vom Großvater, welcher mit unter denen war, die aus Flamland hier einwanderten. Als sie hier ankamen, war das Land durch die langen, blutigen Wendenkriege verwüstet. Kaum ein Stück Ackerland war zu sehen. Meilenweit erblickte man nur weißen Sand, den der Wind vor sich her trieb.“

     „Danach hat ja unsere Stadt Wittenberg auch ihren Namen erhalten“, warf der andere ein.

     ,,Ganz recht. Und zwischen die Sandflächen schoben sich unabsehbare Kiefernwälder und weite Strecken von dürrem Heidekraut, in dem sich Füchse und anderes Raubzeug versteckte.“

     „An Sand, Heidekraut und Kiefern ist ja nun freilich auf unserm Fläming auch heute noch kein Mangel. Du brauchst nur die Augen nach rückwärts nach Thießen hin zu wenden.“

     „Da hast du wohl recht, Gevatter Prambalg. Aber du wirst doch gewiß zugeben, daß rings um unsere Stadt und um die Dörfer, die unsere Vorväter hier anlegten, die Ackerfläche von Jahr zu Jahr anwächst und der Wildnis immer weniger wird.“

„Ja, das Beispiel der frommen Väter vom Orden der Zisterzienser im Kloster Zinna hat reichen Segen gewirkt. Sie bauten einen trefflichen Ackerpflug, der den Boden tiefer aufreißt, als es der alte hölzerne Hakenpflug der Wenden vermochte und beschafften besseres Saatkorn, namentlich auch von solchen Gewächsen, wie man sie in dieser Gegend noch nicht kannte, vornehmlich Weizen und Flachs. Und wenn wir uns jetzt an köstlichem Obst erquicken und man bei Teuchel sogar Weinreben pflanzt, wem anders haben wir es zu danken, als den weißen Kuttenträgern? Da ist es denn auch kein Wunder, wenn sich in den Dörfern die Leute um die frommen Väter scharen, wenn diese am Feierabend ober am Sonntag von göttlichen Dingen zu ihnen reden. Sogar die Wenden, die noch übrig geblieben sind, hören gern zu, weil sie einsehen, daß die Mönche auch ihr Bestes wollen, und der Christengott, den diese verkündigen, mächtiger ist als die alten Heidengötter Triglav, Belbog und Zernebog, deren hölzerne Tempel in Schutt und Asche sanken.“

Unter diesen Gesprächen waren beide Männer auf dem Wege angekommen, der nach Wittenberg führte. Plötzlich vernahmen sie hinter sich Hufschlag, und als sie sich umwandten, erblickten sie einen Reiter, der offenbar ebenfalls der Stadt zustrebte. Er mochte schon recht lange unterwegs sein, denn Staub lagerte auf Mann und Roß, und das Tier schritt langsam und müde dahin.

Der Ankommende grüßte artig, indem er seine Kappe lüftete.
„Ist der Ort dort Wittenberg?“ fragte er, wobei er nach vorn zeigte. „Wie weit ist’s noch bis dahin“, setzte er hinzu, als er eine bejahende Antwort erhielt.

   „Wenn ihr scharf zureitet, so könnt ihr in weniger als einer halben Stunde amTore eintreffen“, antwortete ihm Kranepuhl.

„Das scharfe Reiten werde ich freilich lassen müssen“, entgegnete jener, „denn mein Brauner ist bereits todmüde.“ Dabei klopfte er zärtlich den Hals des Tieres, das bei dieser Liebkosung ein schwaches Wiehern vernehmen ließ. „Freilich ist’s kein Wunder“, fuhr er fort, „denn wir sind schon seit Morgengrauen geritten und haben in dieser trockenen Gegend seit Stunden kein Wasser angetroffen, so daß uns beiden die Zunge am Gaumen festklebt.“

„Nun, wenn’s bloß das ist, so kann geholfen werden“, meinte Kranepuhl. „Ich denke, hier in meiner Flasche wird noch ein Schluck sein, der euch über den schlimmsten Durst hinweghilft, und wenige Schritte von hier fließt ein Bach, wo euer Roß nach Herzenslust saufen kann.“ Mit diefen Worten reichte er dem Reiter, der unterdes aus dem Sattel gestiegen war, die Flasche, die er am Gürtel befestigt trug.

Jener trank in langen Zügen und setzte nicht eher ab, bis daß der letzte Tropfen aus der Flasche gerollt war. „Das war Labsal. Gott Lohne es euch“, sprach er, indem er das Ieere Gefäß seinem Eigentümer zurückgab.

Gemeinsam setzten die drei Männer ihren Weg fort bis dahin, wo der Trajuhner Bach die Straße kreuzte. Beim Anblick des Wassers stieß das Pferd ein helles, freudiges Wichern aus, riß sich von der Hand seines Reiters los und sprang in den Bach, daß dessen Wasser hochaufspritzte, welches er in durstigen Zügen schlürfte.

Wohlgefällig schauten die Drei dem Tiere zu.

„Erlaubt, daß ich mich ein wenig ruhe, bis mein Brauner satt ist, denn der lange, scharfe Ritt hat mich weidlich müde gemacht.“ Mit diesen Worten streckte sich der Fremde am Rande des Baches ins Gras. Die beiden anderen folgten seinem Beispiel.

„Darf man fragen: Woher des Wegs?“ wandte sich Kranepuhl an ihn, nachdem er ihn eine Weile verstohlen betrachtet hatte.

„Aus den Spreestädten Berlin-Kölln komme ich; bin mit dem ersten Hahnenschrei dort ausgeritten“, war die Antwort.

„Das nenne ich eine Leistung!“ rief Prambalg mit aufrichtiger Bewunderung. „Und nun wollt ihr nach Wittenberg?“

„Das will ich. Ich habe eine wichtige Botschaft an den Herzog Rudolf. Er ist doch hoffentlich daheim?“

Die beiden Wittenberger Bürger horchten auf. „Zu unserm Herrn Herzog wollt ihr!“

„Ja, ich sagte es schon. Finde ich ihn daheim?“
„Gewiß, er ist in seinem Wittenberger Schlosse“, gab Kranepuhl zur Antwort. „Das muß aber eine wichtige Botschaft sein, die ihr bringt, sonst hättet ihr wohl euer Roß nicht so angestrengt. Darf man nichts davon erfahren?“

Der Fremde überlegte eine Weile. „Nun, weshalb soll ich es euch verschweigen?“ Sagte er dann, „es wird doch bald in aller Munde sein. Die Sache ist die: Unser großer Markgraf Waldemar ist gestern zu Bärwalde verschieden, und unser Aldermann Herr Heinrich Uden hat mich beauftragt, dem Herzog Rudolf von Sachsen schnellstens diese Trauerbotschaft zu bringen.“

Die beiden Wittenberger waren bei diesen Worten jählings in die Höhe gefahren. „Der große Markgraf Waldemar ist tot!“ riefen beide wie aus einem Munde. „Wie ist das möglich! Er war ja noch so jung.“
Ja – erst 28 Jahre alt – und doch ist es leider so“, entgegnete der Reiter ernst.

„Was wird denn da aus der Mark?“ sprach Kranepuhl: „Soviel mir bekannt, ist des Markgrafen Sohn noch ein junges Kind.“

Das ist’s eben, was uns Märkern schwere Sorge macht“, erwiderte der Bote. „Mir ahnt schwere Trübsal für unser Land. Doch verzeiht“, setzte er hinzu, indem er sich aus dem Grase erhob, „ich sehe, daß mein Brauner gesättigt ist und muß eilen, meine Botschaft auszurichten, damit sie der Herzog nicht schon vor mir erfährt.“

Mit diesen Worten schwang er sich in den Sattel und trabte nach kurzem Gruß der Stadt Wittenberg zu. Die beiden Bürger hatten sich gleichfalls erhoben und folgten dem sich rasch entfernenden Reiter. „Gevatter Prambalg“, unterbrach Kranepuhl das Schweigen, „ich fürchte, die Botschaft, die wir soeben vernommen haben, ist eine Unglücksbotschaft auch für unsere Stadt.“

     „Wie meinst du das?“

 Es ist dir doch wohl bekannt, daß unser Herr Herzog ein naher Verwandter des verstorbenen Markgrafen Waldemar ist. Wie wir ihn kennen, wird er nicht säusen, die Vormundschaft über den minderjährigen hinterlassene Sohn des Markgrafen – Heinrich heißt er ja wohl – zuverlangen. Aber da sind noch andere, die das gleiche tun werden, als da ist zum Exempel der Erzbischof Burkhard von Magdeburg. Es sollte mich sehr wurdernehmen, wenn dieser streitbare Herr als Lehnsherr von Brandenburg nicht seine Rechte zur Geltung bringen würde.“

   „Hm. Und du meinst, daß unser Herr Herzog nicht nachgeben wird?“            „Wie ich ihn kenne – sicherlich nicht.“

„Die Folge würde dann ein Krieg zwischen beiden sein“, meinst du.

 „Freilich, das ist es ja, was ich fürchte. Und da die Bürgerschaft zur Heeresfolge verpflichtet ist, so kannst du dir alles andere leicht selbst ausmalen.“

„Gott verhüte, daß es dahin kommt.“

Während die beiden Männer noch weiter ihre Gedanken über das Geschehene austauschten, waren sie durch das Kreuztor (später Elstertor genannt) in die Stadt eingetreten. Hier trennten sie sich mit freundlichem Gruß, und jeder schritt mit schwerem Herzen seinem Hause zu.

Es geschah, wie es Gewandschneider Kranepuhl vorausgesagt: Bereits in den später Nachmittagsstunden dieses Tages verließen zwei reitende Boten des Herzogs Rudolf die Stadt Wittenberg, um dem Rate der vereinigten Städte Berlin-Kölln ein Schreiben ihres Fürsten zu überbringen, in welchem dieser erklärte, daß er kraft seines Rechts als Anverwandter des verstorbenen Markgrafen Waldemar die Vormundschaft über den jungen Markgrafen Heinrich und damit die Regentschaft über die Mark Brandenburg übernehmen wolle. Herzog Rudolf werde so meldete das – Schreiben weiter – bereits in den nächsten Tagen in eigener Person kommen, um die Huldigung der Städte entgegenzunehmen.

Sogleich schickte der Rat der Spreestädte Boten an die übrigen märkischen Städte, um deren Meinung in dieser Sache zu vernehmen. Sie selbst – so ließen sie mitteilen – seien bereit, die Vormundschaft und Regentschaft des sächsischen Herzogs anzuerkennen.

Die Städte mit wenigen Ausnahmen ließen erklären, daß sie sich dem Beispiele Berlin-Köllns anschließen wollten, sofern Herzog Rudolf ihre Rechte nicht antasten würde.

Dieses alles wurde dem Herzog nach Wittenberg durch eilige Boten überbracht, und noch ehe acht Tage vergangen waren, verließ dieser mit einem glänzenden Gefolge die Stadt, um im gemeinsamen Rathause der Städte Berlin- Kölln die Huldigung der Märker zu empfangen.

Die Fürstin Agnes, Waldemars Witwe, eine Tochter des edlen Markgrafen Hermann, führte ihn selbst den versammelten Vertretern der Städte zu und empfahl ihnen diesen als Vormund und Regenten, worauf ihm diese huldigten.

Mit großem Unwillen vernahm der Erzbischof von Magdeburg, was geschehen war. Alsbald tat er entschiedenen Einspruch gegen den Beschluß, indem er auf seine Rechte als Lehnsherr verwies. Dieser wurde jedoch von den Städten der Mark zurückgewiesen und den erzbischöflichen Gesandten bedeutet, „ein Erzbischof habe wohl anderes zu tun, als sich in weltliche Sachen zu mischen“:

Erzbischof Burkhard wütete. Alsbald sammelte er ein Heer, um seinen Ansprüchen auf Brandenburg mit Waffengewalt Anerkennung zu verschaffen. Aber weder die Märker noch Herzog Rudolf ließen sich dadurch einschüchtern. Sogleich erging an die Städte und Gemeinden des Herzogtums Sachsen der Befehl, zum Heereszuge zu rüsten.

Wie ein Blitz wirkte dieser Befehl in der Stadt Wittenberg.
Wo nur zwei Bürger sich trafen, kam das Gespräch auf diesen Kriegszug, dessen Für und Wider eifrig beredet wurde. Mittlerweile wurde Tag und Nacht eifrig geschafft, um Rüstungen und Waffen instand zu setzen, damit alles zum festgefetzten Tage fertig sei.

Als dieser anbrach, standen auf dem Marktplatze 90 Fußknechte in langer Reihe aufgestellt, jeder mit einem eisernen Harnisch angetan und einer Sturmhaube auf dem Kopfe. Ein Teil von ihnen hielt in der rechten Hand einen langen Spieß, ein anderer Teil eine Hellebarde; an der Seite aber hing jedem ein langer Degen. Hinter den Fußknechten waren die sechs wohlausgerüsteten, mit aller Notdurft versehenen Heerwagen aufgefahren, die von den dazu gehörenden Wagenknechten begleitet wurden.

Der Stadthauptmann Johann Prettin schritt mit dem Harnischmeister prüfend die Reihe entlang. Die Musterung mochte wohl zu seiner Befriedigung ausfallen, denn wiederholt nickte er beifällig mit dem Kopfe. Aber noch zögerte er, sein wohlgerüstetes stattliches Pferd zu besteigen und den Befehl zum Aufbruch zu geben. Wiederholt wandte er das Gesicht der Elbgasse zu.

Endlich vernahm man vom Tore her ein starkes Geräusch. Es waren die von den Städten Kemberg und Schmiedeberg gestellten Reisigen nebst ihren Heerwagen, die bald darauf zum Marktplage einbogen und sich hinter den Wittenberger Mannen aufstellten. Es waren nunmehr 150 Fußknechte nebst zehn Heerwagen und den dazu benötigten Wagenknechten, die versammelt waren.

Der Rat der Stadt Wittenberg mit den Bürgermeistern war vollzählig erschienen. Die Seiten des Platzes aber säumte eine dichtgedrängte Menge, die den Ausmarsch schauen wollte. Mancher Seufzer aus dem Munde der Frauen ließ sich vernehmen, und in gar manchem Auge schimmerten Tränen. Die Kinder aber freuten sich über das kriegerische Schauspiel, das sich ihnen bot und machten durch lauten Zuruf einander auf dies und jenes aufmerksam.

Die Führer der Kemberger und Schmiedeberger Mannen hatten unterdessen dem Wittenberger Stadthauptmann Meldung getan und seine Anweisungen empfangen. Gleich darauf wurden Fußknechte und Heerwagen zu Marschkolonnen geordnet. Der Stadthauptmann bestieg sein Pferd und stellte sich an die Spitze des Zuges; er hob sein Schwert, daß es in den Strahlen der Morgensonne funkelte und gab damit das Zeichen zum Aufbruch. Die Schar marschierte die Schloßgasse hinab und zum Coßwitzer Tor, das nachmals den Namen Schloßtor bekam, hinaus. Ein großer Teil des Volkes gab ihnen bis zum Weichbild der Stadt das Geleit. Die Mannen des Herzogs waren schon am frühesten Morgen vorausgezogen bis nach Jüterbog, wo sie sich mit den übrigen Truppen aus dem Herzogtum Sachsen vereinigen sollten.

In banger Sorge warteten die Bewohner der Stadt Wittenberg auf Nachrichten. Zehn Tage waren seit dem Ausmarsch verflossen, da verbreitete sich das Gerücht, bei Beelitz sei es zur Schlacht zwischen den Herzoglichen und den Kriegern des Magdeburger Erzbischofs gekommen; Genaueres aber wußte niemand zu sagen. Am Mittag des folgenden Tages aber brachte ein Abgesandter des Herzogs die Gewißheit. Bei Bocka, jetzt Bock geheißen, zwischen Beelitz und Brück, stießen beide Heere aufeinander. Die Erzbischöflichen wurden gänzlich besiegt und in die Flucht geschlagen. Die Nachricht wurde in Wittenberg wie im ganzen Herzogtum Sachsen mit großem Jubel begrüßt.

Es war einige Monate später. Da trafen sich an der Fähre, da, wo jezt die Brücke beide Ufer des Elbstromes verbindet, die beiden Bürger Tuchmacher Prambalg und Gewandschneider Kranepuhl.

Sie boten einander freundlich die Zeit.
„Wo hinaus, Gevatter Kranepuhl?“ fragte der erstere.
„Nach Brode (Pratau), habe dort Geschäfte“, war die Antwort.

„Nun, das trifft sich gut; auch ich will dahin. Also können wir zusammen wandern.“

„Hast du schon gehört, was zu Berlin geschehen ist?“ nahm Kranepuhl nach einer Weile wieder das Wort.
„Du meinst den Tod des jungen Markgrafen Heinrich?“

Ganz richtig. Und da seine Mutter, die Witwe des großen Markgrafen Waldemar, dem Braunschweiger Herzog Otto die Hand zum neuen Ehebunde gereicht und auf alle Ansprüche auf die Mark Brandenburg verzichtete, so ist unser Herzog Rudolf dort der alleinige Erbe. Wie bekannt wurde, haben ihm die meisten Städte der Mark bereits als ihrem Landesherrn gehuldigt. Aber mich freut diese Botschaft nicht.“

„Warum nicht, Gevatter?“

„Nun, wenn unser Herzog Markgraf von Brandenburg wird, dann ist zu fürchten, daß er den Hof von Wittenberg fort und nach Berlin-Kölln verlegt. Was ist dann aber unsere Stadt noch? Sie wird wieder zu einem unbedeutenden Landstädtchen zurücksinken, und wir Bürger haben den Schaden davon.“

   „Du magst recht haben. Auch mir sind diese Dinge schon durch den Kopf gegangen.“

Die Fähre hatte unterdessen am anderen Ulfer angelegt, und die beiden Freunde schritten dem nahen Brode zu.

   „Freilich, noch ist es nicht so weit, daß unserem Herrn Herzog die Mark auch wirklich verbleibt“, nahm Kranepubl wieder das Wort.

 „Wie man vernimmt, so steht das klare Recht keineswegs auf seiner Seite. Nach dem geltenden Herkommen muß er als Seitenverwandter zur Erbfolge die Mitbelehnschaft besitzen. Das ist aber, wie ich mir habe sagen lassen, keineswegs der Fall. Die Mark wäre also ein freies Reichslehen geworden, und Kaiser Ludwig vom Bayernlande wird daher sicherlich nicht säumen, sie als solches für sich zu beanspruchen, nachdem er seines Mitbewerbers um die Kaiserkrone, des österreichischen Friedrich, mächtig geworden ist. Ulad da er einen Sohn besitzt – er heißt ja wohl auch Ludwig wie der Vater – , so dürfte ihm die Mark Brandenburg für diesen hochwillkommen sein.“

     „Aber der ist, wie ich hörte, noch ein Kind, – er soll kaum acht Jahre zählen“, warf Prambalg ein.

   ,,Was verschlägt das? Der kaiserliche Vater wird dann eben einstweilen für ihn das Regiment führen. Ich glaube nicht, daß unser Herr Herzog dem Kaiser ernstlich wird widerstehen wollen, wenngleich er unerschrockenen Mutes ist.“

 „Das verhüte Gott! Das würde ihn und das ganze Herzogtum und nicht zuletzt unsere Stadt Wittenberg ins Unglück bringen. Wir haben im Reiche durch den Streit der beiden Thronbewerber schon genug Unheil erlitten und möchten endlich in Frieden leben.“

Unter solchen Gesprächen waren die beiden in Brode angelangt. Hier trennten sie sich, um jeder seinen Verrichtungen nachzugehen.

Nach wenigen Tagen schon eilte die Kunde durch das Land, Kaiser Ludwig vom Bayernlande habe die Mark Brandenburg zum erledigten Reichslehen erklärt und für seinen minderjährigen Sohn in Besitz genommen.

Herzog Rudolf von Sachsen war klug genug, ihm keinen aussichtslosen Widerstand zu leisten. Er ließ verkündigen, daß er die Mark nur einstweilen in Verwaltung genommen habe, um sie vor Beraubungen durch noch weniger Erbberechtigte zu bewahren.

Als nun der Kaiser mit seinem jungen Sohne dort Einzug hielt, da räumte er willig das Land und kehrte nach seiner Stadt Wittenberg zurück, wo ihn die Einwohner freudig begrüßten. Als Lohn für seine bei der Verwaltung der Mark aufgewendete Mühe und Sorgfalt verlieh ihm Kaiser Ludwig pfandweise die Mark Niederlausitz.

2. Um den falschen Waldemar.

     Herzog Rudolf von Sachsen konnte es nicht verwinden, daß ihm das Brandenburger Erbe durch das Dazwischentreten des Kaisers entgangen war. Mit scheelen Blicken sah er deshalb auf den jungen Markgrafen Ludwig und wartete auf eine Gelegenheit, sich an ihm zu rächen. Diese sollte ihm auch bald werden.

Es war an einem Septembertage des Jahres 1348. Da schritt der Gewandschneider Peter Kranepuhl, der vor einem Jahre zum Ratmann der Stadt Wittenberg erwählt worden war, die Lange Gasse (Collegienstraße) hinauf seiner Wohnung zu. Er kam von einer Ratssitzung, und was er dort vernommen, beschäftigte seine Gedanken so sehr, daß er seine Umgebung nicht wahrnahm. Beinahe wäre er mit seinem Freunde und Gevattersmann, dem Tuchmacher Niklas Prambalg, zusammengestoßen, der die Gasse heraufkam.

„Hoho, Gevatter!“ rief dieser lachend, „bin ich denn Luft geworden, daß du mich nicht siehst? Es fehlte nicht viel, und du hättest mich über den Haufen gerannt.“

Ratmann Kranepuhl schrak zusammen. „Verzeihe, Gevatter“, sprach er, indem er dem anderen die Hand zum Gruße bot, „ich war so in meine Gedanken versunken, daß ich des Weges nicht achthatte.“

„Das habe ich wohl bemerkt. Aber was ist es denn, was dich so tief beschäftigt?“

   „Ach, es sind so seltsame Dinge, die ich heute in der Versammlung des Rates vernommen, daß man an manchem schier irre werden möchte.“

 „Nanu! Du machst mich aber neugierig. Was sind denn das für sonderbare Dinge, die ihr verhandelt habt? Darf man es nicht erfahren?“

„Hier auf der Gasse kann ich es dir nicht erzählen. Hast du ein wenig Zeit?“

 „Für ein Stündchen kann ich schon abkommen.“

„Dann komm mit in mein Haus. – Doch da sind wir ja schon.“

Sie traten in das hochgiebelige Haus des Ratmannes, das zu den ansehnlichsten der Stadt zählte. Kranepuhls Hausfrau begrüßte den willkommenen Gast mit großer Herzlichkeit, und nachdem sie beiden Männern je einen Krug selbstgebrauten Bieres vorgesetzt, ließ sie diese auf einen Wink ihres Eheherrn allein.

Nachdem beide einen kräftigen Schluck genommen, begann Ratmann Kranepuhl:

   „Gevatter, du erinnerst dich wohl noch, wie vor Jahresfrist Kaiser Ludwig, der Bayer zubenannt, auf der Bärenjagd durch einen Sturz vom Pferde eines plötzlichen Todes starb.“

   „Gewiß, und es erregte heftigen Unwillen, daß der Papst seinem Leibe sogar das christliche Begräbnis in der Gruft seiner Väter weigerte.“

     „Ja, weil er unter dem Banne stand, in welchen der heilige Vater ihn getan, weil er nach der Kaiserkrone griff gegen den Willen des Papstes, der sie einem anderen zu gedacht hatte.“

   „Es ist eben ein Unglück, daß der Pabst sich in weltliche Dinge mengt, bloß weil ihm sein Sinn selbst nach weltlicher Macht und Ansehen steht, statt sich um das wahre Heil der Kirche und das Seelenheil der Gläubigen zu sorgen.“

„Gevatter Prambalg, laß solche Worte nicht draußen hören, du möchtest sonst als ketzerisch gesinnt verdächtigt werden“, mahnte Kranepuhl.

„Ich werde mich hüten. Aber wahr ist es dennoch. – Doch erzähle weiter.“

„Mit dem Tode des kaiserlichen Vaters“, fuhr der andere fort, „war der Markgraf Ludwig des starken Rückhalts beraubt, und seine Feinde erhoben ringsum ihr Haupt. Zu diesen gehört auch der Magdeburger Erzbischof und unser Herzog Rudolf, die beide grollen, weil ihnen das Brandenburger Erbe entging. Aber auch der neue Kaiser Karl, der mit Ludwigs Vater um die Kaiserkrone stritt, ist dem jungen Markgrafen feindlich gesinnt.“

„Nun hat ja freilich dieser auch nicht verstanden, sich die Herzen der Märker zu gewinnen, die ihn immer als Fremden, als Eindringling betrachteten. Auch mag es ihm wohl an dem rechten Geschick und den Tugenden eines Regenten fehlen. Die mancherlei Fehden, die er führte, haben dem Lande nicht zum Vorteil gereicht, sondern nur Schaden gebracht. Und so ist es denn dahin gekommen, daß an Stelle des Wohlstandes, wie er unter dem großen Markgrafen Waldemar und auch noch während der Regentschaft unseres Herrn Herzogs in der Mark bestand, eitel Not und Elend gekommen ist. Handel und Gewerbe liegen darnieder. Dazu hat sich schlimme Unsicherheit im Lande eingestellt. Wenn der Bürger sich vor die Stadtmauern hinauswagt, so läuft er Gefahr, Strauchdieben und Mordgesellen in die Hände zu fallen. Deshalb getrauen sich die Kaufleute mit ihren Waren auch nicht ohne starkes bewaffnetes Geleit auf die Landstraße, und ihre Schiffe, die sonst mit schwerer Fracht gen Magdeburg oder bis hinab nach Hamburg fuhren. liegen im Hafen still und verfaulen. Wo sonst üppige Fruchtfelber die Augen ergötzten und den Bewohnern reichlich Brot gaben, da bedeckt heute Unkraut und wilde Heide den Boden. Man kann es dem Bauer nicht verdenken, wenn er es aufgegeben hat, den Acker zu bestellen, denn sobalb die Frucht reift, kommen die Schnapphähne und ernten, wo sie nicht gesät haben, und treiben ihm das Vieh aus dem Stalle oder von Pflug und Wagen weg. Ein Wunder ist’s da wahrlich nicht, wenn das Volk verkommt und statt zu arbeiten zu Bettlern und Dieben wird. Dazu hat sich ein schrecklicher Würgeengel angemeldet. die Pest, der schon viele erlegen sind, vornehme lich in den Städten, wo die Menschen enger aneinander wohnen.“

   „Das sind ja erschreckliche Bilder, die du malst„, warf der Tuchmacher dazwischen.

   „Aber leider ist’s die nackte Wahrheit, und man kann es begreifen, wenn das arme Volk mit Sehnsucht sich der guten Zeit unter dem großen Fürsten Waldemar erinnert.“

   „Der ist aber leider doch tot und schon vor bald 30 Jahren zu Bärwalde gestorben und liegt im Kloster zu Chorin begraben“, entgegnete Prambalg.

„Ja, gestorben – aber vielleicht auch nicht“, meinte Kranebuhl nachdenklich.

Sein Hausfreund sah ihn verwundert an. „Vielleicht auch nicht, sagst du? Gevatter, was soll das heißen? Tote stehen doch nicht wieder auf – es sei denn am jüngsten Tage.“

 „Das ist eben das Wunderbare, von dem man nicht weiß, mas man glauben soll.“ ,

„Gevatter, du gibst mir ein Rätsel auf.“

„Die Deutung wirst du sogleich vernehmen. Seit geraumer Zeit ließ sich bald in den Klosterkirchen zu Lehnin und Chorin, wo die edlen Fürsten aus dem Geschlecht der Ballenstädter ruhen, bald in den Domen zu Brandenburg und Havelberg eine hohe, würdige Gestalt schauen, mit langem weißen Barte und angetan mit dem Pilgergewande. Wer sie sah, der wurde bei dem Anblick wunderbar ergriffen. Alle, die noch den großen Markgrafen Waldemar gekannt, überraschte die große Aehnlichkeit, welche die Züge des Pilgers mit dem verstorbenen Fürsten zeigten. Sobald man diesen aber anredete, winkte er schweigend mit der Hand und verschwand plötzlich, wie er gekommen.“ ,

„Sonderbar. – höchst sonderbar“, murmelte Prambalg und nahm einen Zug aus dem Bierkruge, wobei ihm der Ratmann Bescheid tat.

„Du kannst dir wohl denken“, fuhr dieser dann fort, „wie diese Erscheinung auf das abergläubische Volk wirkte, und daß bald ein Raunen durch die Städte und Dörfer der Mark ging, der große, gütige Fürst Waldemar sei zur Rettung seines Volkes erschienen.“

„Ich habe“, warf Prambalg ein „,auch schon etwas davon munkeln gehört, freilich bei weitem nicht alles, was du mir jetzt erzählt hast, aber ich verlachte es als ein Märchen, was man leichtgläubigen Weibern und Kindern auftischt.“

„Nun, ein bloßes Märchen ist es freilich nicht“, entgegnete der andere ernst.

     „Was sagst du dazu, wenn ich dir mitteile, daß der Erzbischof von Magdeburg den Pilger für den wirklichen, wiedergekehrten Markgrafen Waldemar erklärt hat?“

„Der Erzbischof ist Markgraf Ludwigs Feind“, warf Prambalg ein.

„Gewiß! Aber was ihn zu seiner Erklärung bewogen hat, das gibt zum mindesten zu denken. Vor etwa vierzehn Tagen erschien nämlich im Schlosse zu Wolmirstedt, wo der Erzbischof zur Zeit Hof hält, jener greise Pilger und verlangte, den Erzbischof zu sprechen. Der Diener wies ihn jedoch ab, indem er ihm bedeutete, sein Herr sei beschäftigt und empfange daher niemanden, er möge am nächsten Vormittag wiederkommen. Jener ließ sich aber nicht abweisen und wiederholte sein Verlangen dringlicher, indem er hinzufügte, es seien Dinge von großer Wichtigkeit, die er dem geistlichen Herrn zu berichten habe. Als nun der Diener seinem Wunsche noch immer nicht willfahren wollte, erbat er sich einen Trunk Wein, der ihm denn auch wie jedem Pilger gewährt wurde. Der sonderbare Fremdling leerte den Becher und ließ dann in diesen einen großen goldenen Siegelring fallen. Er forderte den Diener auf, das Gefäß mit dem Ringe sogleich dem Erzbischof zu überbringen, was dieser denn auch tat und dabei den Vorfall berichtete.

„Das scheint ja ein sonderbarer Kauz zu sein“, meinte der Erzbischof, der gerabe mit erlauchten Gästen bei der Tafel saß, „läßt mir für einen Becher Wein dieses Kleinod als Gegengabe reichen.“ Dabei schüttete er den Ring aus, den er aufmerksam betrachtete. Plötzlich aber fuhr er von seinem Stuhle empor. „Was ist das?!“ rief er so laut, daß man es im ganzen Saale hörte. „Der Ring trägt auf seinem Steine das Wappen der Ballenstädter Fürsten. Und hier lese ich den Namen des großen Markgrafen Waldemar!“

Der Ring wanderte von einem zum anderen, und alle betrachteten ihn mit Verwunderung. Ein alter Ritter aber, der noch im Dienste des Markgrafen Waldemar gestanden, versicherte mit großer Bestimmtheit, daß er solchen Ring an der Hand dieses Fürsten gesehen habe.

Der Pilger wurde darauf in den Saal gerufen.

„Wie kommst du zu diesem Ring?“ herrschte ihn der Erzbischof an.            „Der Ring ist mein Eigentum,“ erwiderte jener furchtlos und mit Würde.

„Wer bist du?“ forschte der Erzbischof weiter.

„Wer ich bin, möge Euch der Name künden, der auf dem Ringe eingegraben ist“, war die Antwort.

„Du willst also damit sagen—-

Aber noch bevor der Erzbischof den Satz beenden konnte, rief der alte Ritter, der das Angesicht des Fremden aufmerksam betrachtet hatte:

Er ist es! Er ist der große, unvergeßliche Markgraf Waldemar, den wir schmerzlich be weinen!“

„Ja, ich bin’s“, antwortete der Pilger. „Ich bin Waldemar, den man gestorben wähnt.“

Alle Gäste waren in höchster Erregung aufgesprungen und umringten den Fremdling.

„Beweise, was du sagst!“ rief ihm der Erzbischof zu.

 „Bedenke, daß du keine leichtgläubigen alten Weiber oder Kinder vor dir hast. Wie willst du beweisen, daß Markgraf Waldemar nicht vor 29 Jahren gestorben ist und im Kloster zu Chorin bestattet wurde, daß sich seine Gemahlin Agnes, die Aerzte, die Ritter und all die anderen sich damals in seinem Tode geirrt haben?“

„Eure Aufgabe wird es sein“, antwortete der Pilger mit hoheitsvoller Würde, „durch gerechte RichterEure meine Aussagen prüfen zu lassen. Für heute möchte ich aber noch folgendes bemerken:

„Als ich zu Bärwalde weilte, verfiel ich nach kurzer, schwerer Krankheit in einen Starrkrampf, der mich wie einen Toten auf das Lager streckte. Unfähig, mich zu rühren oder ein Lebenszeichen geben zu können, mußte ich hören, wie ich als tot beweint ward. In meiner Not tat ich zu Gott das Gelübde, sofern er mich, noch ehe man mich in die Gruft senkte, aus dem todesähnlichen Schlummer erwecken würde, so wollte ich der weltlichen Macht und Ehren entsagen und ein gottgeweihte Leben beginnen.
Und Gott erhörte mein Gebet. Als mein Leib in der Nacht vor dem zum Begräbnis bestimmten Tage im Sarge vor dem Altar der Klosterkirche zu Chorin stand, da fühlte ich auf einmal, wie sich allmählich die Starrheit meiner Glieder löste. Zum Entsetzen der Totenwächter entstieg ich dem Sarge. Es gelang mir, sie zu bewegen, den Sarg wieder zu schließen, nachdem sie diesen statt meines Leibes mit Steinen beschwert hatten und mir mit einem feierlichen Eide zu geloben, das Geheimnis gegen jedermann unverbrüchlich zu bewahren. So wurde denn andern Tages der Sarg ohne meinen Leib in die Gruft gesenkt. Ich aber zog als schlichter Pilger von dannen, um im fernen Morgenlande an den heiligen Stätten, da unser Herr und Heiland gewandelt, demütig Buße zu tun für so manches Unrecht, das ich begangen und den Frieden für meine Seele zu erlangen.

Meine Fahrt war nicht vergebens. Während ich so büßend und betend von einer heiligen Stätte zur anderen wallfahrte, fühlte ich, wie immer mehr und mehr der Frieden in mein Herz einzog. Endlich entschloß ich mich, wieder zur lieben Heimat zurückzukehren. Als ich schon auf dem Rückweg war, fiel ich in die Hände der Ungläubigen und wurde gezwungen, ihnen jahrelang als Sklave zu dienen. Endlich rührte Gott das Herz eines vornehmen Sarazenen, dem ich entdeckte, wer ich sei, daß er mir die Freiheit schenkte und mich mit Geldmitteln für die Heimreise ausrüstete. Kaum war ich glücklich zu Venedig gelandet, als ich in der Herberge mit einem Kaufmann aus Deutschland zusammentraf. Von ihm erfuhr ich, welches Elend durch einen unfähigen Regenten über meine geliebte Mark gekommen sei. Da machte ich mich stracks auf den Weg zum heiligen Vater in Avignon, um mir seinen Rat zu erbitten. Freundlich und gerührt hörte er den Bericht über meine seltsamen Schicksale. „Wahrlich“, so rief er aus, „in dem allen spürt man Gottes Walten! Gott hat dir, mein Sohn, alle Schuld vergeben und dich wunderbar geleitet, damit du deinem unglücklichen Lande als Retter erscheinen möchtest. Ziehe hin in Frieden und vollende das Werk, welches Gott dir aufgetrage.
Und er entließ mich mit seinem Segen. Und so bin ich denn“, schloß der Pilger, „gekommen, um das mir von Gott geheißene Werk zu vollbringen und mein geliebtes Volk aus dem unsagbaren Elend zu erretten, in welches ein unfähiger fremder Zwingherr dieses gebracht. Möge mich niemand an diefem Werke hindern.“

„Wohlan“, entgegnete ihm der Erzbischof, „sofern bei der Prüfung deine Angaben sich als wahr beweisen und du als der erfunden wirst, der du su sein behauptest, so werde ich dir meinen Beistand leisten.“

„Also, Gevatter“, schloß Ratmann Kranepuhl seinen Bericht, „lautet das Schreiben, das unser Bürgermeister gestern aus Berlin empfangen hat und das er dem Rate heute vorgelesen.“

Tuchmacher Prambalg war mit großer Verwunderung der Erzählung des Freundes gefolgt. Als dieser geendet, schaute er eine Weile nachdenklich vor sich hin, dann schüttelte er den Kopf indem er sagte: „Es will mir nicht in den Sinn, daß jener Pilger wirklich der totgeglaubte Markgraf Waldemar sein soll. Wenn es nur nicht doch ein Betrüger ist, der ein Ränkespiel treibt, an welchem der Erzbischof und wer weiß noch von den Feinden des Markgrafen Ludwig teilhaben.“

„Auch mir“, versetzte Kranepuhl, „will es schwer fallen zu glauben, daß einer, den man begraben hat, nach so langer Zeit wiederkommt. Indessen ist der Schein für ihn. Wie der Bürgermeister weiter mitteilte, ist ihm heute in aller Frühe neue Nachricht zugegangen, daß der Erzbischof den Pilger bei sich behalten habe, und daß es diesem gelungen sei, ihm allen Zweifel an seiner Echtheit als Markgraf Waldemar zu nehmen. Mir tut nur die arme Mark leid, denn es ist vorauszusehen, daß Markgraf Ludwig mit seinem Anhange sich gegen den Eindringling zur Wehr setzen wird, was für das Land neue Unruhe und wohl gar den Bürgerkrieg bringen dürfte – das Schlimmste, was einem Volke geschehen kann.“

 „Hoffentlich werden wir nicht wieder in die Sache verwickelt“ meinte der andere besorgt.

„Das ist’s eben, was uns im Rate so schwere Sorgen bereitet. Unser Herzog Rudolf grollt dem Markgrafen Ludwig noch immer, weil er ihn aus der brandenburgischen Erbschaft, die er schon gesichert hielt, verdrängt hat. Mich soll es nicht wundern, wenn er nach dem Beispiel des Erzbischofs sich für den angeblichen Markgrafen Waldemar erklärt, sei es auch nur, um dem Wittelsbacher Schwierigkeiten zu bereiten.“

     „Gott verhüte, daß daraus Unheil für unsere Stadt Wittenberg sich entspinnt“, erwiderte Prambalg. „Doch nun muß ich gehen; ich werde daheim erwartet. Sei bedankt ür die Kunde, wenn sie mir freilich auch Sorgen bereitet.“ Mit festen Händedruck trennten sich beide Männer.

———————————————————————————-

Die Nachricht von der Wiederkehr des totgeglaubten Markgrafen Waldemar ging wie ein Lauffeuer durch alle Städte und Dörfer der Mark Brandenburg. Wohl schüttelten viele dazu ungläubig die Köpfe, die andern aber glaubten der wunderbaren Botschaft. Erschien ihnen doch der Wiedergekehrte als der Retter aus allem Elend.

Nachdem sich der Erzbischof für ihn entschieden hatte, raten auch die Grafen von Anhalt und Herzog Rudolf von Sachsen auf seine Seite und beschlossen, ein gemeinsames Heer aufzustellen, um ihn als, Herrn der Mark in seine Rechte Einzusetzen, nachdem er ihnen versprochen hatte, diese nach einem Ableben an seine „lieben Vettern“ zu vererben.

Anfangs fand der Zurückgelehrte bei seinem Zuge durch die Mark nur wenig Widerstand. Die Städte der Altmark öffneten ihm bereitwilligst ihre Tore und holten ihn unter dem Geläut der Glocken und dem Jubel des Volkes in feierlichem Geleit ein. Nur einige wenige Burgen an Elbe und Havel leisteten Widerstand und mußten bezwungen werden; bald aber stand ihm der Weg in die Mittelmark offen. Ein Bündnis mit den Herzögen von Mecklenburg, Holstein und Pommern vermehrte sein Ansehen und seine Macht. Nunmehr richtete er auch an die Städte der anderen Landesteile die Aufforderung, ihn als ihren Landesherrn zu huldigen, wogegen er ihre Rechte nicht nur bestätigen, sondern auch erweitern wolle. Und in der Tat erklärten sich Brandenburg, Rathenow, die Städte der Priegnitz und andere dazu bereit. Unter jenen, die Markgraf Ludwig die Treue hielten, befand sich auch Brietzen, das zum Danke dafür von diesem nachmals den Namen Treuenbrietzen bekam.

Auch der Rat von Berlin-Kölln zögerte noch, der Aufforderung Folge zu leisten. Die Haltung der Bürger war anfangs zwiespältig, aber schließlich gewannen die Anhänger Waldemars die Oberhand und zwangen unter Drohungen den Rat, dem Wiedergekehrten die Tore zu öffnen. An der Spitze der Ballenstädter Krieger und umbraust vom Jubel des Volkes, zog dieser am 20. September 1348 in den Spreestädten ein.

Markgraf Ludwig weilte unterdessen im Bayernlande. Die Nachricht vom Erscheinen des totgeglaubten Fürsten Waldemar verlachte er als ein Märchen, von dem er für sich keinerlei Schaden befürchtete. Erst als die Botschaften ernster lauteten, kehrte er in die Mark zurück, fand jedoch den größten Teil derselben bereits besetzt, zumal man im Lande verbreitet hatte, er werde überhaupt nicht mehr zurückkehren. Nur noch das Land jenseits der Oder war offen, und nur recht klein war die Schar die Krieger, die sich auf seinen Aufruf bei ihm einfand.

Trotzdem setzte er sich kräftig zur Wehr, und obgleich selbft Kaiser Karl IV. seinen Gegnern durch ein ansehnliches Heer unterstützte, gelang es ihm allmählich doch, vieles schon verlorene Land wieder zurückzugewinnen. Nicht wenig trug dazu bei, daß der angebliche Waldemar die auf ihn gesetzten Hoffnungen der Einwohner nicht erfüllte, denn dieser zeigte durchaus nicht die Tatkraft und die edlen Eigenschaften des verstorbenen großen Markgrafen. Als nun der Ansturm von Ludwigs Feinden trotz ihrer Uebermacht an den festen Mauern der treugebliebenen Stadt Frankfurt zerschellte, da wurden viele Städte in ihrer Haltung zu Waldemar wieder wankend.

Die Spreestädte Berlin-Kölln aber hielten noch immer zu ihm und weigerten Ludwig den Gehorsam. Da zog, von diesem gerufen, König Waldemar von Dänemark mit einem starken Heere herbei und schickte sich zur Belagerung der Städte an. Das verbreitete unter deren Bewohnern neuen Schrecken, gab aber den Anhängern Ludwigs unter ihnen neuen Mut. Dazu entstand diesem in den Mauern ein neuer Verbündeter: es war die Pest, die unter den Einwohnern eine schreckliche Ernte hielt.
„Das ist die Strafe des Himmels, weil wir unserm rechtmäßigen Herrn die Treue gebrochen!“ Diese Meinung wurde von Ludwigs Freunden verbreitet und fand immer mehr Glauben bei den erregten Gemütern. Und während draußen sich das Dänenheer zum Sturm auf die Städte anschickte, müteten drinnen die beiden Parteien in blutigem Straßenkampfe gegeneinander. Die Anhänger Ludwigs gewannen schließlich die Ueberhand auch im Rate der Städte, zumal diesem hinterbracht wurde, Kaiser Karl habe sich mit Markgraf Ludwig wieder vertragen und den angeblichen Waldemar für einen Betrüger erklärt.

Unterdessen wütete die Seuche weiter, und fast ohne Unterbrechung läutete die Totenglode ihre dumpfe Klage. Unter Hinweis auf die gemeinsame Not gelang es dem Bemühen des Rats und einer Anzahl besonnener Bürger endlich, beide Parteien zur Einstellung der bewaffneten Feindseligkeiten zu bewegen. An den Dänenkönig wurden Abgesandte geschickt, um ihn vom Sturm auf die Städte abzuhalten, indem man ihm bedeuten ließ, man würde beraten, welchen von beiden – ob Ludwig oder Waldemar – man hinfort als Herrn anerkennen wolle. Darauf brach dieser die Belagerung ab, um so mehr als der mit den Ballenstädtern verbündete Herzog Albrecht von Mecklenburg zum Entsatz der Städte heranzog.

Bald darauf ließ auch die Seuche nach, und die Bürger konnten wieder aufatmen. Freilich dauerte der Streit zwischen den Parteigängern Waldemars und des Wittelsbachers noch immer an. Indessen rückte Kaiser Karl IV., obgleich er bisher Waldemar wiederholt als „seinen lieben Schwager“ begrüßt hatte, immer entschiedener von ihm ab, und auf den beiden Fürstentagen zu Bautzen (am 14. Februar 1350) und zu Nürnberg (am 6. April 1350) fällte er nach vorgenommener Prüfung das Urteil, daß dieser „ein elender Betrüger“ sei.

Trozdem zeigten sich in Berlin-Kölln die Parteigänger Waldemars noch nicht gewillt, von diesem abzulassen und setzten der Huldigung Ludwigs heftigen Widerstand entgegen. Als dieser aber im Sommer 1351 mit einem größeren Heere heranzog, fügten sie sich, wenn auch erst nach stürmischen Auftritten in Rat und Bürgerschaft, und Markgraf Ludwig konnte wieder in den Spreestädten Einzug halten.

———————————————————————————–

An einem Herbsttage desselben Jahres bewegte sich ein Fähnlein Reisiger auf der Straße, welche aus der Mark Brandenburg über den Fläming nach der Stadt Wittenberg führt. An der Spitze des Zuges ritt ein Ritter in reicher Rüstung. Die Helmzier ließ ihn als einen Mann aus fürstlichem Geblüt erkennen.

Die Schar ritt aber nicht in Wittenberg ein, sondern bog kurz vor der Stadt von der Straße ab und umging die Mauern, um im Süden die Fähre über den Elbstrom zu erreichen. Es war die Zeit der Grumternte (Grummet); als daher die stattliche Reiterschar sich am Elbufer zeigte, liefen die auf den nahen Wiesen beschäftigten Arbeiter an der Fährstelle zusammen, um den seltenen Zug zu bestaunen.

Unter den Schauenden waren auch der Ratmann Kranepuhl und sein Gevattersmann der Tuchmacher Prambalg, die gerade auf einem Gange nach ihrem jenseits der Elbe gelegenen Wiesen begriffen waren. „Wer mag der Führer der Ritter sein?“ meinte Prambalg. „Das edle Roß und die fostbare Rüstung lassen einen Mann vornehmer Herkunft vermuten.“

„Betrachte dir die Helmzier mit dem bayrischen Löwen und dem brandenburgischen Adler beieinander, und du wirst dir die Frage selbst beantworten können, zumal wenn du dich der Vorgänge in der Mark erinnerst, von denen wir ehegestern sprachen“, antwortete Kranepuhl.

„Du meinst, das wäre.. .?“
„Der Markgraf Ludwig. Ganz gewiß er und kein an derer. Die Widerwärtigkeiten, die ihm durch das Erscheinen des falschen Waldemar widerfahren sind, haben ihm die Mark Brandenburg derart verleidet, daß er zu dem Entschluß kam, diese seinem jüngeren Stiefbruder Ludwig, der Römer zubenannt, zu überlassen und sich nach seiner bayrischen Hei mat zubegeben. Auf dem Wege dahin ist er just nun, wie du siehst.“

„So endet Glück und Macht“, entgegnete der andere, indem er ernst dem Zuge nachblickte, dessen Spitze mit ihrem Führer soeben am jenseitigen Ufer dem Fährboote entstieg und kurze Rast hielt, um die Nachkommenden zu erwarten. ,,Was aber mag aus dem falschen Waldemar geworden sein, dem es nicht anders ergangen ist?“ wandte er sich an Kranepuhl.

„Je nun, er hat einsehen müssen, daß seine Sache verloren war, nachdem seine Freunde und Helfer ihn alle verließen, und die Städte der Mark eine nach der anderen wieder von ihm abfielen. Wie mir ein Geschäftsfreund aus Anhalt schreibt, ist er am fürstlichen Hofe zu Ballenstädt gesehen worden, wo man ihn wie einen Fürsten ehrte.“
„Ob es wohl wahr ist, was man sich von seiner Herkunft erzählt?

„Daß er ein schlichter Müllerknecht mit Namen Jakob Rehbock aus Hundeluft bei Dessau sei. Warum sollte es nicht wahr sein? Wie man vernimmt, soll dieser längere Zeit bei dem großen Markgrafen Waldemar in Diensten gestanden haben. Da hatte er als findiger Kopf gemiß genugsam Gelegenheit, sich mit dessen Gewohnheiten und Eigenheiten vertraut zu machen. Als er sich nun am erzbischöflichen Hofe zeigte, mag den hohen geistlichen Herrn die große Aehnlichkeit mit dem Verstorbenen aufgefallen sein, und er benutzte ihn als Werkzeug, dem verhaßten Markgrafen Ludwig im  Einverständnis mit dessen übrigen Widersachern durch jenes Ränkespiel die Mark zu vergällen.“

„Daß aber die Märker den Betrug nicht merkten?“

„Du mußt bedenken, wie groß Elend und Not waren, die nach dem Tode des großen Markgrafen über das brandenburger Land gekommen waren, und daß Markgraf Ludwig der Wittelsbacher nicht der Mann war, dieser abzuhelfen. Da sah dann das Volk in dem angeblich wiedergekehrten Fürsten den Retter aus aller Trübsal. Denn in der Not greift der Ertrinkende bekanntlich selbst nach einem Strohhalm. Daß nun der falsche Waldemar nichts anderes war denn ein schwacher Strohhalm, konnte man nicht wissen.“

„Eine Lehre aber sollte dieses Geschehene den Fürsten geben.“

„Und welche Lehre wäre das?“

 „Am Beispiel der Märker sieht man, mit welcher Liebe ein Volk an einem guten, edlen Regenten hängt, und wie es einem solchen selbst noch über den Tod hinaus die Treue bewahrt. Das sollten alle Fürsten wohl bedenken.“

„Da hast du recht, Gevatter“, antwortete Kranepuhl ernst, indem er dem Freunde voll Wärme die Hand drückte.

Auch unter: Falscher Woldemar – Wikipedia

zum Seitenanfang