1923.10.30. Wanderungen in der Umgebung
Wanderung Wittenberg – Straach – Rabenstein – Niemegk
Eine anstrengende, aber auch schöne Wanderung liegt hinter uns.
Diesmal hatten wir uns den Fläming, dieses leider viel zu wenig beachtete ausgedehnte bergige Waldgebiet nördlich der mittleren Elbe, zum Ziele erkoren.
Der Abmarsch erfolgte nicht mit der gewohnten Pünktlichkeit – schon ein schlechtes Zeichen, das sich auch tatsächlich verwirklichen sollte.
Es war 9 Uhr geworden. In flottem Marschtempo war Dobien mit seinen Ziegelwerken erreicht. Kurz vor diesem Dorfe noch eine kleine Unterbrechung. Unter der Aufsicht des Direktors eines der Werke waren mehrere Arbeiter damit beschäftigt, eine in der Nacht zum Freitag gestohlene Lichtfernleitung wieder aufzustellen.
Es erscheint sonderbar, daß hierüber in der Oeffentlichkeit nicht mehr bekannt geworden ist; wenn die Diebe nicht mit Sachkenntnis Sicherheitsvorkehrungen gegen die Folgen der Berührung elektrischer Stromleitungen getroffen hatten, müssen sie – die Stromstärke wird auf etwa 500 Volt angegeben – einen gehörigen elektrischen Schlag erhalten haben.
Dobien, ein langgezogenes Dorf mit zwei Wirtschaften Stadt Brandenburg“ (Besitzer Eckert) und „Zum grünen Tal“ (Besitzer Luther), erstere links am Eingange des Dorfes dicht an der Straße, das andere in der Mitte desselben rechts gelegen ist bald durchschritten, und auf sanft ansteigender Straße geht es rüstig vorwärts.
Vor uns in greifbarer Nähe und doch noch so fern die ausgedehnten Waldungen des Flämings, links grüßen die roten Dächer von Braunsdorf und Nudersdorf herüber, und bald umfängt uns Nadelwald mit seinen immer grünenden Beständen.
Da knisterts in den „Kuscheln“, wie in der Wittenberger Gegend das Nadelholzgestrüpp genannt wird, „Meister Lampe„, der jetzt jagdfrei geworden ist, zeigt uns seine Blume und hoppelt voller Angst über Kartoffel und Saatfelder; da er aber weder Jäger noch Hund hinter sich spürt, macht er bald Halt und äugt uns höhnisch nach. Tonwaren-, Ziegelei- und Mühlenwerke bleiben bald hinter uns, und wir kommen an aus gedehnten Wiesen, der Stadt Wittenberg gehörig, vorüber mit den vier Sammelbrunnen des Wasserwerks, rechts lassen wir den Bullerbach mit seinen keineswegs imposanten Waldungen hinter uns.
Am Eingange nach Straach (von Wittenberg 10 km entfernt), einem Dorfe mit etwa 500 Einwohnern, das einen auf Wohlstand zeugenden Eindruck macht und in unserer Gegend durch seine Töpfereien bekannt geworden ist, sehen wir die Haltestelle der Kleinwittenberg Straacher Kleinbahn, – die Irrtum vorbehalten – etwa ums Jahr 1910 eröffnet wurde, aber heute noch den gleichen Dornröschenschlaf schlummert wie am Eröffnungstage, wo es dürfte im Leben des „Bähnle“ der einzige Tag gewesen sein ihr die Ehre zuteil wurde, einen Zug mit Personenverkehr zu befördern. Freilich brachte dieser „Salon„zug mit seinen vielen Steh- aber umso weniger Sitzplätzen seine Passagiere Wittenberger Herren vom Landratsamte, von Magistrat und den Stadtverordneten mit Eisenbahnbeamten, Industriellen usw. wohl nach Straach, wo bei der „schönen Frau“ in der Stadt Hamburg “ ein Festessen stattfand (Gedeck 1,50 Mark ohne Wein), aber nicht zurück, wenn man nicht nach einer halben Stunde bereits wieder zurückfahren wollte.
Es blieb damals den Teilnehmern nichts anderes übrig, als Schusters Rappen anzuspannen oder aus Wittenberg ein Fuhrwerk kommen zu lassen, und das letztere taten mehrere Wittenberger Ratsherren, von denen ich – man pflegte schon damals gute Beziehungen zur Presse – zur Rückfahrt eingeladen wurde, ein Anerbieten, das ich gern annahm und für den Ich ihnen noch dankbar bin.
In Straach legen wir eine Frühstückspause ein, und zwar besuchen wir, um jeder gerecht zu werden, beide Gastwirtschaften, sowohl die von Bräsigke als auch von Paul.
In beiden ist es gleich gut sein, und in selben walteten freundliche Großmütter Ihres gastlichen Berufes.
Wir hatten es gut getroffen: eine frische, saftige Schinkenschnitte von kernigem Landbrote, dazu ein Schälchen duftige Bohnenkaffees, ein Glas Bier und ein „Körnchen“, alles zurecht annehmbarem Preise in tadelloser Beschaffenheit und bei lebhafte Unterhaltung, das findet man wohl nur in Straach.
Eine derartig Verpflegung macht Mut zu neuer Wanderung und kräftigt Herz und Sinn, und frisch-frei-fromm-froh wird die Weiterwanderung in den herbstlich – sonnigen Herbsttag angetreten.
Die Mittagszeit ist herangekommen, doch heute wird das sonst übliche „Nur ein Viertelstündchen“ der Bewegung in Gottes herrlicher Natur geopfert.
Bald hinter Straach überschreiten wir die preußisch-anhaltisch Landesgrenze und treten in das „Calvin’sche“ über, wie der Volksmund den jetzigen Freistaat Anhalt bezeichnet, doch bald, noch vor Groß Marzehns, sind wir wieder auf preußlichem Boden. Holzsammler, die Handwagen hoch beladen, der Mann ziehend und Frau und Kinder stoßend, begegnen uns mehrfach.
Zwischen prächtige Waldungen führt unser Weg dahin, bis wir, stets nördliche Richtung verfolgend, Groß-Marzehns, ein mittleres Dorf im Kreis Zauch-Belzig berühren. (Von Straach 4-5 km entfernt)
Hier befragten wir uns bei Landleuten über dieEntfernung bis zur Burg Rabenstein, aber sonderbarer Weise wußten sie uns darüber entweder gar keinen oder nur wenig bestimmten Bescheid zu geben.
Auf meiner vielen Wanderungen habe ich überhaupt oft gefunden, daß die ländliche Einwohnerschaft sich meist um die Umgebung ihrer Orte recht wenig kümmert, sicherlich aber gehören Entfernungsangaben nach bestimmten Maßen, zB. nach Kilometern, nicht zu den Errungenschaften der Bewohner ländlicher Bezirke.
Doch halt, dort am End des Dorfes, das wir nur knapp berühren, wird uns mitgeteilt, es sei noch ein Stündchen, in Wirklichkeit ist es aber eine reichliche Stunde. Merkwürdig war, daß einzelneDorfbewohner den Rabenstein gar nicht kennen wollten. Wo bleibt da die Heimatstunde im Schulunterricht?
Bald hinter dem Dorfe treffen wir einen biederen Landbewohner der mit der Harke in der Hand radelnd zur ländlichen Arbeit fährt.
Auf Anfrage nach dem Rabenstein teilt er uns mit, daß die Burg Rabenstein von dem neuen Oberförster abgesperrt worden sei und also nicht besucht werden könne. Es entsteht nun für uns die Frage, setzen wir den Weg in nördlicher Richtung weiter nach Burg Rabenstein fort oder wenden wir uns nordöstlich nach Klein-Marzehns zu, um von dort aus den Garreyer Kessel und die Rummeln, diese vorzeitlichen tiefen Erdeinschnitte und Schluchten, eine Sehenswürdigkeit, die im märkischen Bädeker unbedingt mit drei Sternen bezeichnet werden müßte, zu besuchen, um von dort aus über Neuendorf nach etwa halbstündigem Marsch Niemegk, das Ziel unserer heutigen Wanderung, zu erreichen.
Wir entschieden uns für das erstere, uns die Besichtigung der Rummeln für ein andermal aufhebend. Rüstig geht es vorwärts.
Prachtvolle Hochwald, in dem uns eine wohltuende Ruhe umfängt, ab und zu nur leise unterbrochen von einem scheu dahinhuschenden Eichhörnchen, einem Waldvogel oder anderem Getier.
Da hört man endlich mal nichts von Kartoffelnot und Fleischteuerung, nichts von Futtermangel und Fettknappheit, nichts von Volksansammlungen und Maßnahmen der Schutzpolizei, nichts von johlenden Haufen halbwüchsiger Burschen und Mädchen, nichts von Dollarstand und Marktsturz – so wollten wir es haben -hier ist es gut sein, und hier möchten wir Hütten bauen.
Einer der unseren wirft die Frage auf:
Was mögen hier für ungeheure Werte in den Wäldern stecken? !
Vor uns ein sechsspänniges Fuhrwerk, hochbeladen mit Grubenholz – das erste Zeichen, uns in die Wirklichkeit zurückrufend, erinnernd an den Kampf des Menschen mit den Elementen.
Ein Wegweiser zeigt uns den Weg zur Burg Rabenstein, aber nicht weit von ihm die Bekanntmachung des Oberförsters:
Der Zutritt zur Burg und zur Kapelle ist verboten!
Noch trauen wir unserm Stern: In der Hoffnung , daß ein gutes Wort einen guten Ort finden und uns die Besichtigung der Burg mit ihrem unvergleichlich schönen Ausblick auf die prächtigen Waldungen der
Umgebung mit den dazwischen gestreuten Dörfern und einzelnen
Häusern doch noch gestattet werden würde, schlagen wir den Weg rechts ab ein und gelangen, in einem weiten Bogen gehend, bald vor das Tor der Oberförsterei.
Hier die Verbote in verschärfter Form mit derUnterschrift: „Herzogl. Revierverwaltung“.
Gehört Burg Rabenstein zu Anhalt oder ist die auf preußischem Grund und Boden belegene Besitzung Eigentum des Herzogs von Anhalt?
Oder eines andern Herzogs?
Wir konnten keine Auskunft erhalten, da weit und breit ein Mensch zu sehen war und das Schild:
„Bissige Hunde“
uns ein Betreten des Hofes nicht ratsam erscheinen ließ.
Ich gebe zu, daß ich auch auf Burg Rabenstein Leute bemerkbar gemacht haben mögen, die sich nicht einwandfrei zu benehmen vermochten, die vielleicht die Eigentumsbegriffe oder Sittlichkeit und Schicklichkeit nicht kannten – das Betreten der Burg aber samt und sonders zu verbieten, selbst ruhigen, gesitteten Personen gegenüber – das berührt peinlich und läßt ein bitteres Gefühl in uns aufkommen das erst nach weiterer Wanderung von uns wich. Neben der Oberförsterei an einem einfachen Gebäude ein Schild mit der Inschrift Kreis Zauch – Belzig“, wir befinden uns also nicht auf anhaltinischem, sondern auf deutschem Boden.
Daß an den schönsten Stellen des Deutschen Vaterlandes heute doch meist ein Schild steht:
„Zutritt verboten!“
Und wieder nehmen wir den Stock zur Hand, die ungastliche Stätte zu verlassen.
An einer stillen Waldstelle halten wir eine kurze Rast, um eine Stärkung einzunehmen, einer von uns, um den Stachel, der gegen seine Ferse löckte, durch eine Fußbandage zu beseitigen.
Bald geht es auf gutem Waldwege weiter.
Hier liegen Bruchhölzer und „Kienäppel“ in ungeheurer Menge umher – ein Dorado für die Holzsammler, die in der Umgebung unserer Stadt jedes Stümpfchen auflesen, die Äste herunterbrechen und oft, sehr oft junge Stämme schlagen, zerkleinern und mit heimnehmen. Wenn die Förster das wüßten!
An einer hochgelegenen Stelle des Weges bannt uns ein prächtiger Rundblick auf die in hellem und dunklem Grün, in herbstlichem Bunt prangenden Waldungen, die sich hier in Tälern, Schluchten und Höhen in wundervollem Aufbau ausbreiten.
Es ist bei uns ja viel zu wenig bekannt, wie schön die weitere Umgebung unserer alten Lutherstadt ist;
hier gibt sie Thüringen und dem Harze nichts nach.
Rädigke, ein kleines Dorf, winkt von weitem, und bald sind wir in ihm.
Die Nachmittagskaffeezeit ist nahe herbeigekommen, und in der Dorfgastwirtschaft gedenken wir ein Viertelstündchen zu verweilen.
Wohl grüßt uns ein gastlich Haus, und wir treten ein.
Doch nirgends ein dienstbarer Geist, der uns Speise und Trank bietet, nirgends eine lebende Seele in dem unverschlossenen Hause als ein Huhn, eine Gans, die ob des ungewohnten Geräusches schleunigst reißaus nehmen.
Die dritte Enttäuschung!
Wie ganz anders war es doch in Straach!
Freundliche Dorfbewohner weisen uns den Weg links nach Niemegk, das noch eine Stunde von hier entfernt sein soll.
Rastlos schreiten wir abwechselnd zwischen Waldungen und Feldern dahin. Ein leichter Sprühregen mahnt zur Eile. Bald winken Türme und Häuser von Niemegk, einem Städtchen mit knapp 3000 Einwohnern, im Kreise Jauch-Belzig.
Leider begingen wir die Unvorsichtigkeit, nicht die nähere chaussierte Straße rechts einzuschlagen, die in scharfem Winkel links einbiegend durch den lang gestreckten Ort sich hinzieht, sondern wir gingen links auf Waldwegen, mußten aber die Erfahrung machen, daß zwar viele Wege nach Rom führen, aber dieser erst in einem weiten Bogen um Niemegk herum, wo er dann am nördlichen Ende das Städtchen einmündet. Der Regen macht sich stärker bemerkbar und mahnt zur Eile.
Querfeldein heißt es nun, und über Wiesen und Felder geht es rasch vorwärts, und bald betreten wir die Stätten unermüdig arbeitenden menschlichen Schaffens.
Angenehm fallen uns die von Wohlstand zeugenden Häuser der meist auf Landwirtschaft, Ziegeleien und Mühlen angewiesenen Einwohnerschaft auf, unter ihnen das Geschäftshaus einer Wittenberger Fabrik landwirtschaftlicher Maschinen.
Wir fragen uns nach dem Bahnhofe hindurch und hören, daß der Zug schon um 5 Uhr abfährt, während der „gelbe Storm“ 5,11 Uhr verzeichnete.
Ein freundlicher Eisenbahnbeamter – Eisenbahnbeamte sind a .D. immer freundlich – belehrt uns, daß um 5 Uhr ein Zug zwar nach Belzig nicht aber nach Treuenbrietzen, dieser vielmehr erst um 7,55 abfährt – der vierte Reinfall. Und doch verging auch diese Zeit in angenehmer Gesellschaft von Niemegks Einwohnern.
Es war spät geworden, als wir nach mehrfacher Fahrtunterbrechung in Treuenbrietzen und Jüterbog endlich in Wittenberg eintrafen.
Auch diesem Tag wird ein schönes Blatt freundlicher Erinnerung in unserem Wanderbuche gewidmet sein.
A.T.