1926.08.14. Wittenberger Zeitung
Die Westfälische-Anhaltinische Sprengstoff-AG,
Chemische Fabriken in Reinsdorf bei Wittenberg
„Leicht bei einander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.“ An dieses geflügelte Dichterwort muß man unwillkürlich denken, wenn man auf den Reinsdorfer Sprengstoffwerken nahe dem Haupteingang den hohen Turm besteigt, in dessen Innern eine ruhelos Tag und Nacht pulsierende Destillieranstalt flüssiges Feuer in Gestalt von Alkohol durch seine Adern fließen läßt. Von der stolzen Höhe seiner Zinne hat man einen Rundblick, wie ihn Wittenbergs Umgebung so leicht nicht zum zweiten Male zu bieten vermag. Zu Füßen das ausgedehnte eigentliche Sprengstoffwerk mit angegliederter Wohnkolonie und Landwirtschaft und weiterhin die vieltürmige alte Lutherstadt mit dem Silberband der Länder verbindenden Elbe. Auf der anderen Seite in geschwungener Linienführung der Hubertus – und weiter der Apollensberg, hinter letzterem halb versteckt die Türme und Schornsteine der Nachbarstadt Coswig auf anhaltischem Gebiet.
Was uns hier unmittelbar zu Füßen liegt, ist ein Berg von kühnem Menschengeist, dessen Aufbau und Entstehen Zeugnis ablegt von der nie rastenden Schaffenskraft und Gedankenfülle, die wohl leicht beieinander wohnen. Dafür stoßen sich von Zeit zu Zeit die Sachen, das will hier sagen, die Fabrikate, hart aneinander, so hart, daß es zu Explosionen mit Feuersbrünsten und leider auch Vernichtung von Menschenleben geführt hat.
Die Westfälisch – Anhaltische Sprengstoff A-G Chemische Fabriken in Reinsdorf bei Wittenberg betreiben auf einem Gesamtareal von 1100 Morgen (275 ha) vereinigt, aber räumlich unter sich wegen der Explosions- und Feuersgefahr nach Gebäudekomplexen bis zum gewissen Grade getrennt die Herstellung von Schießpulver, Sprengstoffen und Zelluloid. Das gemeinsame Zwischenprodukt sowohl für Schießpulver als für Zelluloid bildet die Schießbaumwolle, und erst die weitere Bearbeitung dieser führt zur Scheidung der Herstellungsbetriebe. Wenn wir uns deshalb heute mit der Herstellung von Zelluloid als Rohware und in einzelnen Halberzeugnissen beschäftigen wollen, so müssen wir uns zunächst die Bereitung der Schießbaumwolle ansehen. Als Unterlage und Grundstoff dient die natürliche Baumwolle, die in Amerika geerntet wird und in Form von Abfällen der Baumwollspinnerei als sogenannte Linters in Preßballen zu uns kommt. Dieser Rohstoff ist stark verunreinigt, enthält neben der Baumwollfaser noch Staub, Reste der Baumwollsamenkapseln, Pflanzenreste usw. Ihre Entfernung geschieht durch Waschen mit Ätznatronlauge und Seife. Aus dem Waschprozeß geht die Baumwolle zwar gereinigt, aber noch nicht zart genug hervor, und die gewünschte reine weiße Farbe wird ihr durch Behandlung mit Chlor beigebracht, aus dessen Bad sie zart und glänzend weiß wie schaumgeboren entsteigt. Die Chlorsäure muß nun wieder ausgewaschen werden, was in großen Trögen mit ständigem Wasseraufluß und Rührwerk erzielt wird und wenn rechenartige Hebelvorrichtungen die ausgewaschene Baumwolle aus dieser Schwemme herausheben, gelangt sie auf geheizte Walzen, die die Wolle von dem meisten Wassergehalt durch Quetschen befreien, dann auf Transportbänder in Trockenschränke von erheblicher Ausdehnung und etagenförmiger Anordnung führen, die gut erwärmt die Austrocknung bis auf etwa 2 Prozent Wassergehalt herunterzudrücken vermögen. Die Baumwolle ist nun ein ganz zartes, weiches und flockiges Gebilde, das sich zwischen den Fingern trocken anfühlt. Ventilatoren saugen diesen zarten Flaum durch ein geheiztes Röhrensystem in die Abteilung der Zentrifugen, wo die sogenannte Nitrierung durch Salpeter- und Schwefelsäure vorgenommen wird. Es genügt zwar eine Behandlung mit reiner Salpetersäure, da sie aber wesentlich teurer ist, als Schwefelsäure, so behilft man sich aus Gründen der Kostenfrage mit einem erheblich wohlfeiler und rentabler herzustellenden Gemisch beider Säuren nach bestimmten Prozentsätzen. Ein Arbeiter läßt eine Zentrifuge voll Säuregemisch laufen und packt dann die entsprechende Menge Baumwolle hinzu. In kurzer Zeit durchbringt die Säure die an sich hohle Baumwollfaser, sättigt und macht die bisher natürliche Baumwolle zur Schießbaumwolle. Die Säure wird dann in den Zentrifugen abgeschleudert, die nitrierte Schießbaumwolle mit Aluminiumgabeln herausgenommen und in mit Wasserberieselung ausgestattete Röhren gegeben, die sie weiter schwemmen. Das äußerliche Abschwemmen mit Wasser genügt aber nicht, um der Schießbaumwolle in ihrer jetzigen Gestalt die Gefahr des gelegentlichen Aufbrennens zu nehmen. Während der Nitrierung ist das Säuregemisch in die hohle Baumwollfaser eingedrungen, hat sich dort festgesetzt und muß daraus entfernt werden, was sich nur so bewerkstelligen läßt, daß man die Masse in einem Holländer mit Messerwerk aufs feinste zerquetscht und aufschließt und damit die Säure freimacht. Um sie nun restlos zu beseitigen, wird die Schießbaumwolle in riesigen, mit glasierten Kacheln ausgelegten, zylindrischen Gefäßen unter Dampfzuleitung und Zusatz von Kalkmilch zum Sieden gebracht, wobei eine schnell rotierende Propellerschraube die Masse in gleichmäßiger Bewegung und Zusammensetzung erhält. Nach dem Kochprozeß wird die Flüssigkeit durch eine vertikal laufende Trommel abgeschleudert, und das halbfeuchte Produkt wird nun in wohlverschlossenen Blechtrommeln einer anderen Abteilung zugeführt, in der die noch anhaftenden Wasser teile durch Alkoholeinspritzung verdrängt werden. Der Alkohol hat das gierige Bestreben, sich mit dem Wasser zu verbinden, er nimmt also das Wasser mit und läßt die Schießbaumwolle alkoholfeucht zurück. Der verunreinigte Alkohol, in Zentrifugen zum größten Teil abgeschleudert, wird in hohen Destillierkolonnen, die in dem eingangs erwähnten Turm aufgestellt sind, wieder gereinigt, vom überflüssigen Wasser befreit und auf etwa 94 Grad aufgestärkt.
Zu der feuchten Schießbaumwolle wird nun Kampfer zugesetzt, der die Eigenschaft hat, die Schießbaumwolle zu gelatinieren, d.h. bei inniger Vermengung mit ihr eine zähe Masse zu bilden. Das Durcheinandermischen geschieht auf schraubenflügelartig gestalteten, gegeneinander arbeitenden Walzenpaaren in geschlossenen, mit Fensterchen zum Beobachten ausgestatteten Kastenapparaten, die mit Saugevorrichtung versehen sind, um den entweichenden Alkoholgehalt abzufangen, zu sammeln und zur Wiedergewinnung zu bringen. Nach halbstündiger Bearbeitung in dieser Knetmaschine ist die Masse homogen, d.h. gleichmäßig durchgewirkt, von Alkohol befreit und kann nun auf einen neuen Mischapparat verbracht werden, der den zähflüssigen Brei auf Walzen von denen die eine kalt, die andere geheizt als jetzt schon Zelluloid genannte Masse weiter innig und gleichmäßig, eventuell unter gleichzeitigem Farbzusatz mischt und zuletzt zu Tafeln auswalzt. Nun muß die Zelluloidmasse erst wieder von Unreinigkeiten befreit werden und dies geschieht in Pressen, die die angewärmte und zähe Masse mit hydraulischem Druck durch eine feine Platte von Leinwand drücken, die alle Verunreinigungen zurückhält. Die weiß belassene oder schon gefärbte Masse wird nun nochmals durch Walzen gezogen und zu Platten gestreckt und diese gibt man zu gewisser Lagenstärke unter eine mit hohem Druck und entsprechender Erwärmung ausgestattete Presse, wodurch die einzelnen Platten zu einer ganz gleichmäßigen, einheitlichen, starken Platte von großer Härte zusammengeschweißt werden. Dieses Schweißverfahren wiederholt sich später noch mehrmals. Solch eine fertige Zelluloidplatte kommt aus der Presse mit allerhand äußerlichen Schmutzteilen behaftet heraus, wird an der Oberfläche davon befreit und gelangt nun unter die Spaltmaschine. Mit dieser wird der auf starker eiserner geriffelter Platte festgeklebte Zelluloidblock gegen ein scharfes ganz fest eingespanntes Messer gedrückt, das von ihm Scherben und Platten abschält, deren Stärke bis zu 1/10 Millimeter genau abgestellt werden müssen. Der die Maschine bedienende Arbeiter prüft während des Schneidens fortgesetzt die Wandstärke der abgehobelten Platten mit der Mikrometerschraube nach und kontrolliert die Präzisionsarbeit der Maschine.
Durch ein solches Abhobeln von einem durchsichtig hergestellten Block werden z.B. Scheiben für Automobil – Ausstattung hergestellt und je nach Bestellung in den verschiedensten Wandstärken geliefert. Damit die Scheibe Durchsichtigkeit und Glätte gewinnt, wird sie zwischen zwei gut vernickelte, mit Hochglanz polierte Metallplatten gelegt, mehrere derselben werden zwischen die Heizplatten einer Druckpresse geschichtet und ein ganzer Stapel davon wird zusammen in einem Gange hohem hydraulischen Druck mit Beheizung ausgesetzt. Nimmt man dann die einzelnen Tafeln wieder heraus, so zeigen sie spiegelnde Glätte eine fast vollkommen fensterglasähnliche Durchsichtigkei.
Zur Herstellung der Elfenbein – Imitation bedient man sich folgenden Verfahrens: Es werden zunächst mehrere in den zarten Tönen des Elfenbeins gefärbte, in der Nuance etwas von einander abweichende Zelluloidblöcke gepreßt; diese werden mit der Spaltmaschine in feine Streifen geschnitten, letztere gegeneinander gepackt und unter der Presse wieder zu einem Block zusammengeschweißt. Schneidet man nun diesen an, so zeigt die Schnittfläche die feine zarte und ineinander übergehende Maserung des natürlichen Elfenbeins.
Aehnlich kommt die Schildpattnachahmung zustande: Man stellt mehrere Blöde in gelb, braun und einigen Zwischentönen her, schneidet diese in unregelmäßige Stücke je nach dem beabsichtigten Muster, schweißt die Streifen und Stüke wieder zusammen und der fertige Block gibt mit jeder abgespalteten Platte die gewünschte, besonders gegen das Licht gehalten wirkungsvolle Marmorierung wieder, die wir so sehr bei dem echten Schildpatt, der in dem Rückenpanzer der großen Seeschildkröten schätzen und der besonders gern zu Kämmen, Haarspangen, Taschenmesserschalen und Bürstengriffen verarbeitet wird.
Auf ähnliche, wenn auch umständlichere, eine ganze Reihe der Herstellung von einzelnen Blöcken in den verschiedensten, auf das feinste abgestimmten Tönen erfordernde Arbeitsweise werden Muster in Batick, Perlmutter, farbigen Streifen, Karierung, Rauten, und anderen linearen Zusammensetzungen erzielt. Die Sammlung der Versandabteilung weist Dutzende von Mustern in den schönsten Farben und Zusammenstellungen auf, die man sich nur denken kann und immer noch ist der ewig schaffende und erfindende Menschengeist auf neuen Wegen zu eigenartigen noch nie dagewesenen Dessins begriffen .
In der Hauptsache befaßt sich das Werk mit der Herstellung von Platten und Tafeln mehr als Roh- und Halberzeugnisse; nur auf einzelnen Gebieten werden verfeinerte Gegenstände, wie Stangen zu Schirmgriffen und Spazierstöcken, Röhren zu Puppengliedern in zartrosa Fleischtönen, Hühnerringe, schwarze und weiße Kämme, Zahnbürstenstiele, Rasiermesserschalen usw. hergestellt, allerdings auch immer nur in einer gewissen rohen Form, indem z.B. das Umpressen der rosa Röhren zu wirklichen Gliedmaßen der Puppen und Püppchen, das Polieren der Kämme, das Abschleifen und Bohren der Bahnbürstenstiele, das Glätten Formen und Zurichten der Messerschalen den Spezialfabriken überlassen bleiben muß, weil die Ausgestaltung der Erweiterungsbetriebe ins uferlose gehen würde.
Wir sehen aus dieser knappen Darstellung, die sich naturgemäß nur auf das allerwesentlichste beschränken konnte, wie weit es menschliche Kunst, in nie rastender Erfinderkraft gebracht hat. Hoffen wir, daß es ihr gelingt, das Damoklesschwert von dieser Stätte höchsten Gewerbefleißes, die drohende Gefahr der Explosionen und Brände, restlos und für immer zu bannen und sich damit die Strahlenkrone eines weltbeglückenden Erfindergriffs zu verdienen.
P . W.