Das Straacher Tal – Der Rischebach

Das Straacher Tal – Der Rischebach
Die nördliche Grenze unseres Heimatkreises Wittenberg verläuft über den Hohen Fläming. Wallartig türmt sich dieser Höhenzug auf und erreicht bei Berkau mit dem Hirseberg seine größte Höhe (187 m). Er ist als Endmoräne der Eiszeit anzusehen. Seine Entstehung bewirkten Gletscherablagerungen, sogenannte Geschiebe: Sand, Lehm,
Ton und Steine haben ihn aufgebaut.
Zwischen Elbe und Havel bildet er die Wasserscheide.
In der Nordwestecke unseres Kreises entspringt der Rischebach (rascher Bach), der schon in der Eiszeit Abflußrinne des Gletscherwassers gewesen ist. Das breite Tal, das er durchfließt,
ist als Straacher Tal bekannt. In gerader Nord -Südrichtung
schickt der Rischebach seine Wasser der Elbe zu.
Er hat dem Tal sein Gepräge gegeben.
13 Wassermühlen der verschiedensten Arten hat er angetrieben, und somit schon in alter Zeit eine große wirtschaftliche
Bedeutung gehabt.
Sein Lauf ist 14 km lang.
Von Wittenberg aus, das am Fuße eines Flämingausläufers liegt, erreichen wir das Straacher Tal, wenn wir durch die Eichstraße
der Schloßvorstadt und im weiteren Verlauf die Belziger Chaussee hinauswandern. Diese schöne Straße erhielt 1867/68 den festen Unterbau. Sie führt uns durch das landschaftlich schöne Tal.
Ehe wir den Hauptort Straach erreichen, sind von uns 25 Bodenwellen zu überschreiten, welche die Straße zum größten
Teil ausgleicht.
Straach: Von weitem grüßt uns der schlanke Kirchturm, der seit 1886 ins anmutige Tal schaut. Eine alte Flämingwehrkirche hat diesem stattlichen Kirchenneubau weichen müssen. Ueber die Gründung des Ortes selbst fehlen Urkunden. Man nimmt an,
daß er im Zuge der Besiedelung des Flämings durch Albrecht
den Bären (um 1180) entstanden ist. Ursprünglich war es
„Straucha“ genannt, wahrscheinlich nach dem vielen Strauchwerk, das die Siedlung umgab.
Straachs heutige wirtschaftspolitische Bedeutung beruht
auf vier Faktoren,
a) MTS: Maschinen-Traktoren-Station
b) Töpfereien
c) Holzabfuhrplatz
d) Wasserversorgung unserer Lutherstadt Wittenberg.

Zu a) Im Norden des Ortes, nahe der Kreisgrenze, liegen die modernen Wirtschaftsgebäude der MTS mit einem großen Maschinenpark neuester Konstruktion und mit eigenen Reparaturwerkstätten. Der Wirkungsbereich der MTS umschließt den nordwestlichen Teil unseres Kreises, sie ist heute aus der modernen Landwirtschaft nicht mehr wegzudenken. Unter den stattlichen Gebäuden sei besonders das schöne Kulturhaus erwähnt.
Auf der großen Wiese gegenüber der Station liegt das Quellgebiet
des Rischebaches, der unmittelbar auf den Ort zu seinen Lauf nimmt, Schon nach ca. 250 m tritt er in diesen ein. Hier hat der junge Bach seine erste Aufgabe zu erfüllen, denn vor dem Gemeindeamt ist er bereits zum Feuerlöschteich verbreitert.
Zu b) Tonlager in der Nähe des Ortes ließen hier 1818 das Töpferhandwerk erstehen, das lange Zeit für den Ort von großer Bedeutung war. Noch heute produzieren ein Privat- und ein VE-Betrieb Geschirr: Tontöpfe, Gärkruken und verschiedenes andere. Die Betriebe beziehen ihr Rohmaterial, vor allem das zur Herstellung der Glasur, von auswärtigen Tonlagern.
Zu c) Als Endpunkt einer Stichbahn von Wittenberg her ist der Ort seit 1911 an das Wittenberger Wirtschaftsgebiet angeschlossen. Geplant war diese Strecke als Verbindungsbahn zwischen Wittenberg und Belzig, um auch die nördlich gelegenen Flämingdörfer dem Verkehr zu erschließen. Zu allen Jahreszeiten herrscht auf dem Straacher Verladebahnhof reger Betrieb. Aus den nahen Wäldern der drei Flämingkreise Wittenberg, Roßlau und Belzig wird hier das angefahrene Grubenholz verfrachtet, das unsere Bergbaubetriebe sehr dringend benötigen.
Zu d) Auf der großen Wiese am Ortseingang liegen mehrere Tiefbrunnen, Sammelbecken für die Wasserversorgung unserer Stadt. In großen Tonrohren wird das Wasser mittels Pumpwerk zum Wittenberger Wasserwerk bei Dobien geleitet, das 1884 errichtet wurde. Dort wird es aufbereitet, um von hier aus die Stadt mit dem wichtigen Naß zu versorgen.
Bevor wir Straach verlassen und am Rischebach entlang nach Wittenberg wandern, ersteigen wir die Höhen um den Ort und erfreuen uns an der schönen Ortslage. Weit schweift unser Blick über die Fläminghöhen mit ihrem Waldbestand und den darin eingeschnittenen Ackerbreiten.
Nun nehmen wir Abschied von dem sauberen Ort und kommen zur ersten Wassermühle, der „Straacher Mühle“, die der Rischebach treibt. Als Mahlmühle hat sie ihren Dienst versehen. Sie liegt bereits 7 Meter tiefer als die Quelle des Baches. Bei dem starken Gefälle ist es möglich, daß die meisten der nun folgenden Mühlen mit direktem Zufluß des Baches ihr Räderwerk antreiben. Wir suchen also vergeblich den sonst üblichen Stauteich. Auf halbem Wege nach Nudersdorf zu schickt der Bullerspring, der ostwärts der Chausee im Walde sein Quellgebiet hat, sein Wasser zum Rischebach. Dieser Nebenbach war auch einmal dazu ausersehen, sein kristallklares Wasser für die Wittenberger Wasserversorgung herzugeben.
Auf seinem weiteren Lauf tritt der Rischebach in die Nudersdorfer Flur ein. Erfreute uns schon die schöne Landschaft um Straach, so ist Nuders dorf eine Perle im Straacher Tal.
Nudersdorf: Seine geschützte Lage der Ort ist von allen Seiten von Wald umgeben, seine interessante Vergangenheit und das alte Schloß sowie die zwei Mühlen haben uns sehr viel zu berichten. Früher bestand der Wald hauptsächlich aus Eichen, die der Axt zum Opfer fielen als in Deutschland das große Eisenbahnverkehrsnetz entstand. Zu Eisenbahnschwellen wurden sie bei diesem Riesenprojekt verarbeitet. Birken und Kiefern schließen heute den Ort ein.
Vom alten Schloß Nudersdorf, das dem heutigen gegenüber lag, wissen wir sehr wenig. 1702 entstand der jetzige Bau mit dem Rittergut, zu dem auch die 1911 eingegangene „Schloßmühle“ gehörte. Die „große“ Mühle im Ort selbst wurde schon 1720 von dem Wittenberger Professorengeschlecht von Leyser erbaut. Heute ist sie noch als Mahl- und Schneidemühle in Betrieb und im Besitz der Familie Bölke-Noack.
Während des Befreiungskrieges 1813/14 war Schloß Nudersdorf Hauptquartier des preußischen Generals v. Dobschütz, der hier den Plan festlegte, wie er die letzte Bastion des Korsen (die Festung Wittenberg) zu erstürmen gedachte. In der Nacht vom 13. zum 14. Januar 1814 nahmen preußische Freiheitskrieger zusammen mit ihren russischen Waffenbrüdern das jahrelange Joch von unserer Lutherstadt und fegten den napoleonischen Spuk aus Deutschland.
Im September 1849 kauften die Gebrüder Luther, beide Doktoren der Medizin und Nachkommen unseres Reformators, Rittergut und Schloß Nudersdorf. Sie kamen aus Dublin in Irland, richteten 1853 das Schloß als Kurhaus ein und bauten zusätzlich Badehäuser. Somit war Nudersdorf Kurort geworden, wo Heißluftbäder verabreicht wurden (eine Art römischer Bäder). Später wurde die Kur in Nudersdorf durch neuentdeckte Schwefel- und Stahlquellen, die eine vorzügliche Sole für Trinkkuren lieferten, bereichert. Außerdem wurden die Solewasser der „Hubertus- und Tintenquelle„, die die Wirkung verschiedener Mineralien in sich konzentrierten, nach Berlin, Leipzig, Dresden, Magdeburg, London und Zürich verschickt. Sie bewährten sich hauptsächlich bei Frauenleiden und rheumatischen Erkrankungen. Die gesunde, waldreiche Lage, dazu eine strenge Kontrolle der Patienten durch die Kurärzte, ließen die Erfolge nicht ausbleiben. So blühte der Badebetrieb, und Bad Nudersdorf war im Begriff, sich bestens zu entwickeln. Aber schon der Nachfolger auf Rittergut Nudersdorf sah in dem Badebetrieb nicht das lohnende Geschäft. Er wollte auf Grund der neu entdeckten Braunkohle Nudersdorf zum Industrieort machen. Der Verkauf der Eisenbahnschwellen erbrachte das notwendige Kapital, um auf dem Gelände des heutigen VEB Sandwäsche eine „Braunkohlenbergbau-A.G. auf Rittergut und Bad Nudersdorf“ zu errichten. Es wurde eine Ringofenziegelei und ein Kohlenpreßhaus erbaut (der Betrieb war auch eine Zeitlang im Besitz der Bergwitzer Braunkohlenwerke). Mit dem Jahre 1873 wurde der immer mehr vernachlässigte Badebetrieb eingestellt. Nudersdorf hatte aufgehört, Badeort zu sein. Die beiden Moorbäder Pretzsch (seit 1909) und Schmiedeberg (seit 1878) sind also wesentlich jüngeren Datums. Aus dem Kurhaus war 1877 eine ortseigene Schule mit zwei Lehrern geworden, also die Vorgängerin der heutigen Zentralschule.
Zwei weitere Ziegeleibetriebe und eine Töpferei an der Belziger Chaussee bildeten die damalige Nudersdorfer Industrie. Übriggeblieben ist nur der heutige VEB Sandwäsche, der in dem Gelände westlich Nudersdorf seinen Rohstoff (Glassand) im Tagebau erschließt. Der Sand wird im Betrieb in riesigen Trommeln gewaschen, gesiebt und mittels Förderband den Waggons zugeführt, die ihn dann in die Glashütten Torgau (Fensterglas) und Weißwasser-Oberlausitz (Weck- und Gebrauchsgläser) bringen.
Birkenbusch: Von der Zentralschule aus erreichen wir am Rischebach entlang, durch den schönen Park mit altem Baumbestand in einer knappen Viertelstunde das Nachtsanatorium „Birkenbusch“. Es gehörte zum alten Rittergut Nudersdorf. Nudersdorf (niederes Dorf) hieß früher „Brückes Busch“, nach dem Kanzler Gregor Brück, der zu Luthers Zeiten Nudersdorf besaß. Aus der birkenreichen Waldumgebung hat der Volksmund im Laufe der Zeit „Birkenbusch“ gemacht. Dieser Name hat sich in der ehemaligen Papiermühle „Birkenbusch“ bis heute erhalten. Schon 1622 verkaufte Brücks Schwiegersohn, der Wittenberger Professor der Rechte Vitus Oertel von Windsheim (II), die Papiermühle „vor Nudersdorf“ an Heinrich Löser. Dem Geschlecht der Löser aus dem Stammhause Pretzsch gehörte neben Nudersdorf das Schloß Reinharz mit Ort und Rittergut Ließnitz (d. i. Kropstädt). Die Lösers waren die größten Landbesitzer in dem damaligen Amt Wittenberg. Die Mühle fertigte hauptsächlich Druckpapiere an. Sie ist das Stammhaus des Papierverarbeitungs- Werkes Bickel in der Stalinstraße. 1868 kaufte Bickel das Mühlengrundstück, ließ Dampfkraftmaschinen und moderne Apparate zur Herstellung von Schrenzpapier einbauen. Schrenzpapier ist ein gröberes Packpapier, das aus Lumpen, Stroh, Holz und Leim hergestellt wird. 1906 wurde die Papiermühle „Birkenbusch“ an Flinsch veräußert, der den Herstellungsbetrieb einstellte und sich hier in der reizvollen Umgebung einen Ruhe- und Erholungssitz schuf. Unter Ausnutzung des Rischebaches legte er Teiche an, teilte den Bach und schuf in diesem Gelände einen Park, der heute einen prächtigen Baumbestand aufweist. Im Sommer ist er ein Dorado für Singvögel; überall jubiliert und zwitschert es, dazwischen rauscht der Rischebach sein gleichmäßiges Lied. Ein herrliches Stückchen Erde in unserer nächsten Nähe!

Das Nachtsanatoriumdes VEB Stickstoffwerk Piesteritz
aus: Archiv des HV WB

Nachtsanatorium:
Die Stickstoffwerke taten einen guten Griff, als sie im Herbst des vergangenen Jahres hier für ihre Werktätigen das erste Nachtsanatorium ins Leben riefen. Die landschaftlich schöne Lage, dazu das große efeuumrankte Haus, Liegewiesen, Liegehallen tragen alle Voraussetzungen für eine erfolgreiche Erholung in sich. In einer dreiwöchigen Kur können sich hier 20 Werksangehörige erholen. Das Nachtsanatorium stellt sich vor allem die Aufgabe, seine Insassen in ihrer Freizeit unter Aufsicht des Werkarztes zu behandeln und ihnen nach längeren Krankheiten die volle Gesundheit wieder zu geben. Hierin drückt sich die Sorge um den schaffenden Menschen wohl am sinnfälligsten aus.
Braunsdorf: Von Birkenbusch aus lenken wir unsere Schritte weiter das Rischebachtal entlang nach Braunsdorf (früher Brunsdorf“ genannt), das mit seiner festen Flämingskirche ebenfalls eine alte Siedlung ist. Im Dreißigjährigen Krieg (1618/48) hat dieser Ort schwerste Opfer bringen müssen. Die Kirche selbst wurde vollkommen ausgeplündert, die Höfe
verwüstet. Erst 1687 zeigte der Ort wieder neues Leben. Sieben Anwesen wurden neuerbaut, das Gotteshaus im gleichen Jahre wieder eingeweiht. Aus Dankbarkeit wurde auch die alte Linde gepflanzt, die noch heute, also nach fast 300 Jahren, ihr schützendes Blätterdach über die Kirche ausstreckt.
Der parkartige Garten mit seinen riesigen „Tannen“ (eigentlich Fichten) in der Ortsmitte gehört zu der bekannten Gaststätte „Zur grünen Tanne“. Sie ist seit Jahren ein beliebtes Ausflugsziel vieler Wittenberger, zumal die Bahnverbindung günstig ist. Seit dem Sommer 1955 ist dieses Lokal in besten Fachhänden, so daß der Ausflug hierher viel Freude schenkt. Ursprünglich war das Gebäude das Gutshaus des Allodialgutes, das ohne Fürsteneinmischung in der Familie, weitervererbt wurde im Unterschied zum Lehnsgut, das vom Landesherrn verliehen wurde.
Die günstige Lage des Ortes im Rischebachtal hatte zur Folge, daß sich hier zwei große Mühlen, die „obere“ und die „untere“ ansiedelten. Der Flurname „Walkmühlenfeld“ deutet darauf hin, daß hier Tuche gewalkt wurden. Die „obere“ Mühle war Tuchwalke der Wittenberger Tuchmacher bis zum Jahre 1863. Auch heute noch werden Tuche industriell gewalkt, vor allem Uniformtuche, um ein Verfilzen des haarigen Gewebes herbei zuführen und so die Reißfestigkeit des Stoffes zu erhöhen. Nach jener Zeit wurde sie Papiermühle, und zwar stellte die Firma Gustav Moritz vorwiegend Pappe für alle möglichen Zwecke her, u. a. Pack-, Knopf- und Lederpappe. Nach Kriegsende hat dieser Betrieb als „VEB Leichtbaustoffe- Braunsdorf“ eine völlig andere Produktionsart aufgenommen. Er fertigt Leichtbaustoffplatten aus Holzwolle und Zement, die für die Aufbautätigkeit in der DDR ein wichtiges, materialsparendes Bauelement darstellen. Eine wesentlich größere Produktionsmöglichkeit hat der Betrieb dadurch bekommen, daß er wieder an den Schienenstrang der Straacher Bahn angeschlossen ist. Somit kann das Versandmaterial gleich vom Fabrikhof aus verladen werden.
Die „untere“ Mühle, früher im Besitz von Hermann Moritz, liegt am Verbindungsweg von Dobien nach Braunsdorf und hatte als Fertigungsprogramm hauptsächlich Packpapier in Rollen von 1,40 m Breite. Sie ist vielen bekannt als „Thiemes Papierfabrik“.
Von Braunsdorf aus westwärts gelangen wir auf kürzestem Wege zum ehemaligen Vorwerk Gallun, das zum Rittergut Nudersdorf gehörte. Gallun ist früher ein Ort gewesen, der aber Wüstung wurde. Hier in nächster Nähe wurden die Quellen der Solewasser für das frühere Bad Nudersdorf erschlossen. 1813 hatten sich oben auf der Höhe russische Verbündete verschanzt, die von hier aus umherstreifende französische Patrouillen mehrfach niederritten.
Nun wieder zurück ins Tal zur „unteren“ Mühle. Ruhig und klar fließt der Rischebach durch saftige Wiesen. Wenn uns das Glück hold ist, erblicken wir in seinem Wasser die hurtige Bachforelle oder das Neunauge. Die Wittenberger Sportangler haben durch Aussetzen von Fischbrut (Jungforellen) den Bach wieder mit diesem Nutzfisch bereichert. Bis Reinsdorf ist das Wiesengelände 1934 geradlinig durchstochen worden, um dieses feuchte Wiesengelände zu entwässern. Der Bach schlängelt sich am Fuße der östlichen Höhe an mit Bäumen und Buschwerk bestandenen Ufern dahin. Die Wiesen lieferten früher Raseneisenstein, der in Lauchhammer ausgeschmolzen wurde.
Reinsdorf: Gleich beim Eintritt des Baches in den Ort Reinsdorf ragt ein hoher Schornstein aus einem größeren Anwesen: „Bollmanns Mahlmühle“. Im Herbst 1955 hat die Reinsdorfer Fleischkonservenfabrik Dexheimer diese Mühle für ihre Zwecke umgebaut, um hier in größeren Fabrikräumen ihre ,“schmackhafte“ Produktion weiter erhöhen zu können. Steigen wir von hier aus bergan, so sehen wir oben auf der Höhe, prächtig gelegen, die neue Zentralschule Reinsdorf. Dieser weiträumige Bau wird die Schulkinder der drei alten Ortsteile Reinsdorf, Braunsdorf und Dobien aufnehmen. Durch großzügige Mittel der Regierung und durch die tatkräftige Mithilfe der Bevölkerung im Nationalen Aufbauwerk entstand dieser schöne gemeinnützige Bau.
Wir sind nun in der Mitte des Ortes Reinsdorf, früher Reymsdorf-Rehnsdorf (Dorf am Rain) angelangt.
War schon das Schicksal Braunsdorfs im Dreißigjährigen Kriege hart, so hat Reinsdorf ein fast noch härteres ertragen müssen. Gänzlich niedergesengt durch die Schweden, lag es 50 Jahre wüst und entvölkert, Die Kirche war zerstört. Alle Bewohner des Ortes waren geflüchtet. Oft ist dieser Zustand der Grund dafür, daß wir ehemals blühende Orte auf der Landkarte nur noch als „Wüstung“ finden. Gerade unser Heimatkreis ist an Wüstungen besonders reich. 1697 blühte aber in Reinsdorf wieder neues Leben aus den Ruinen. Im gleichen Jahr wird auch die Kirche ausgebaut, Hüfner und Häusler siedelten sich wieder an. Auf dem Friedhof an der Kirche überdacht eine alte Trauerlinde einen großen Gedenkstein für die Todesopfer, die das Reinsdorfer Sprengstoffwerk immer wieder forderte. So wurde 1917, 1925, 1935 bei schweren Explosionen auch unsere 8 km entfernte Heimatstadt immer in Mitleidenschaft gezogen. Heute entsteht auf dem ehemaligen Werksgelände eine mit allen modernen Mitteln der Heilkunde ausgestattete Heilstätte für Tbc- Kranke. Eine Teilanlage ist bereits fertiggestellt, doch sieht der Bauplan eine riesige Erweiterung vor. Auch Reinsdorf hat eine interessante geschichtliche Vergangenheit. Im Mittelalter lag oberhalb des Ortes die Raubritterburg der Stellmeiser, die ihr Unwesen im benachbarten Brandenburg, Anhalt und in unserer Gegend trieben. 1446 machten die Wittenberger Stadtknechte diesem Raubgesindel den Garaus.
Im Westen des Ortes liegen die Flurstücke „Camingärten“, nach dem gleichnamigen, längst verschwundenen Ort Camin benannt. Vermutlich ist er im Bruderkrieg zwischen Friedrich dem Sanftmütigen und seinem Bruder Wilhelm zerstört worden. Später noch hat der Pflug oft Mauersteine und Gebäudereste freigelegt. Hier oben sind auch Funde von vor geschichtlichen Gräbern mit Urnen, Knochenasche usw. gemacht worden. Mitten im Orte interessiert uns das Gebäude, in dem sich heute der Kindergarten befindet. Dort lag ursprünglich eine mit Wällen umgebene Wasserburg, die dem Geschlecht der Bremer gehörte, von dem uns heute noch die „Bremer Lugwiesen“ auf Apollensdorfer Flur künden. Aus diesem Anwesen ging das spätere Rittergut hervor, von dem noch das vorerwähnte Wirtschaftsgebäude zeugt, während die Wälle eingeebnet und die Hofgebäude abgerissen sind. Bis zum Kriegsende war es Direktorenwohnung der Sprengstoffwerke. Der große Klinkerbau, das Jugendwohnheim ,“Martha Brautzsch“, ist der stattlichste Bau des sauberen Ortes.
Die Wittenberger Tuchmacherinnung hatte auch in Reinsdorf in der ,“hohen“ Mühle eine Tuchwalke, Schon 1569 Universitätsmühle, 1640 mehrmals ausgeplündert, wird 1817 auf Bitte der Wittenberger Tuchmacher diesen die „hohe“ Mühle als Tuchwalkmühle zugesprochen. Der Grund dazu war folgender: Im Zuge der Niederlegung der Vorstädte im Jahre 1813 hatte der französische Stadtkommandant Lapoipe am 30. April die eine der für die Wittenberger Tuchmacher so wichtigen Walkmühlen, die in der Nähe der heutigen Berliner-, Ecke Bachstraße lag, abreißen lassen. Nachdem der Krieg beendet war, erfüllte die Walkmühle in der heutigen Stadtrandsiedlung die gestellten Anforderungen nicht, so daß der Obermeister für eine zweite Tuchwalkmühle sorgen mußte. Die Tuchmacherinnung hat fast 500 Jahre zum Wohle unserer Stadt gearbeitet. Im Anfang unseres Jahrhunderts ist dieser Gewerbezweig aber eingegangen. Die Mühle dreht bis heute ihr Schaufelrad zum Mahlen des Kornes. Die danebenliegende Tuchwalkstraße erinnert noch an die einstige Blütezeit des Gewerbes.
Wir durchwandern Reinsdorf in westlicher Richtung. Der anschließende Feldweg führt uns hinüber ins Anhaltische, zum Hubertusberg bei Coswig. Die gute Bewirtschaftung zieht wieder viele Ausflügler an. Besonders schön ist das letzte Wegstück durch den Wald. Schluchtartig fällt das Gelände zum Grieboer Bach ab. Leider ist die Brücke seit Jahren zerstört. Aber ein kleiner Umweg bringt uns auf dem „Luthersteig“, so heißt dieser schöne Wanderweg, zum „Lutherstein“ an die Straach- Coswiger Chaussee, von wo aus wir linker Hand den Hubertusberg mit Aussichtsturm erblicken.
(Fußwanderweg ab Markt Wittenberg ca. 11 km.)
Reinsdorf hatte früher eine Ziegelei, außerdem wurde auf dem Gelände „Sachsenland“ (am Stadtwald) im Tagebau Braunkohle gefördert, die hauptsächlich nach Dessau geliefert wurde. Der im Osten des Ortes liegende Mummelsee ist der letzte Zeuge aus dieser Zeit. Einen kurzen Abstecher machen wir von hier aus noch zum Riesenberg. Im Orte selbst gesellt sich zum Rischebach der von Mochau kommende Krähebach.
Neumühle: Beide Bäche streben nun vereint der „Neumühle“ zu, die als Mahl- und Schneidemühle unterschlächtig angetrieben wird. Zur Reformationszeit war sie lange Jahre im Besitz der Familie Cranach. Sie diente auch als Pulvermühle, Auf dem Hofe dieses alten Grundstückes fließt die ,“erste Portion“ des „Rhodischen Röhrwassers“, das seit 1625 einen Teil der Häuser unserer Stadt mit Wasser versorgte. Kurz vor der „Neumühle“ zweigt ein Verbindungsgraben hinüber zur Piesteritz ab. Dieser dient heute zur Umleitung des Rischebaches, wenn der Bachlauf im Stadtgebiet gereinigt oder seine Ufer ausgebessert werden müssen. Geschieht dies, so fließt das Wasser im eigentlichen Bachbett dem Piesteritzer Streng zu, denn um 1320 ist sein Lauf künstlich in die Stadt geführt worden, um hier die damals neuerbaute kurfürstliche „Amts- oder Schloßmühle“, auch „Stadtmühle“ genannt, zu treiben. An dieser Abzweigstelle haben Wittenbergs Belagerer in den jeweiligen Kriegsverläufen den „Wittenbergern das Wasser abgegraben“, besser gesagt, abgedämmt. Die „Stadtmühle“ war dann nicht mehr betriebsfähig. Besonders unangenehm machte sich der Wassermangel bei dem schweren Bombardement am 25. September 1813 bemerkbar, bei dem eine größere Zahl Häuser in Brand geschossen wurde und es an Löschwasser fehlte.
Von hier aus wendet sich der Rischebach in einer scharfen Linkskurve durch die Rothemark unserer Stadt zu.
Rothemark: Das ganze Gelände, das der Rischebach nun durchfließt, war früher bis zum ehemaligen Festungsgraben mit Eichenwald bestanden. Mitten darin lag die bei den Wittenberger Musensöhnen sehr beliebte Ausflugsgaststätte „Rothemark“. Sie war ein Teil des ehemaligen Rittergutes gleichen Namens. Die heutige volkseigene Blechwarenfabrik Rothemark und der VEB Brauerei Rothemark besiedeln das Gelände. Kelch, der Begründer des letztgenannten Betriebes, war Ende des vorigen Jahrhunderts Besitzer dieser Ländereien. Er gründete auf dem Gelände des VEB Wittol eine Marmorschleiferei. Aus Carrara in Oberitalien bezog der Betrieb Marmorblöcke, die hier im Werk bearbeitet und hauptsächlich nach Berlin geliefert wurden. Später wurde aus diesem Werk die Putzmittelfabrik „Sidol“, die Vorgängerin des VEB Wittol. Kelch baute sich am Ufer des Rischebaches eine eigene Begräbniskapelle, die vor einigen Jahren zu einem Wohnhaus ausgebaut wurde.
Schatzung: Wir treten nun in das Gebiet ein, das die Schatzung heißt. Der hohe Uferwall des Baches hat uns einiges zu sagen. Der von mächtigen Bäumen gekrönte Wall zwängt nämlich den Bach in sein Bett. Wäre der Wall nicht vorhanden, so würde das Wasser das angrenzende fruchtbare Erzeugungsgebiet der Wittenberger Gemüsegärtner und Maiblumenzüchter überfluten. Wir stellen fest, daß sein Bett höher liegt als der ihn rechts begleitende Fahrweg. Dies ist ein untrügliches Zeichen dafür, daß der Bach künstlich in die Stadt geleitet, ihm also eine andere Laufrichtung gegeben worden ist (1320).
Schatzungsstraße: Rechts und links der Schatzungsstraße wird das Gelände seit Generationen von den „Wittenberger Vorstädtern“ landwirtschaftlich genutzt.
(Siehe Artikel über die Wittenberger Krautgärtner“,
Wittenberger Rundblick“, 2. Jahrgang. Nummer 4.)
Info unter: Email : dobiener@gmx.net
Die Holzstege im Bach dienen zum Säubern des Gemüses. Die Anlieger mußten früher sogar Wasserzins zahlen.
Am Ausgang der Schatzungsstraße treffen wir auf die Puschkinstraße, deren ehemaliger Name Clausstraße, auf den Heiligen Claus, den Schutzpatron der Schiffer und Kaufleute zurückgeht. Vor uns liegt die ehemalige, „Strohbachsche Mühlenbauanstalt“, die zur Reformationszeit als Papiermühle von Vitus Oertel von Windsheim (siehe „Birkenbusch“), unserer damals bedeutenden Druckerstadt diente. Die Tuchmacher hatten sie später als Färberei eingerichtet. Danach war sie Mühlenbauanstalt. Die Mühle hat oft den Besitzer und auch die Produktion gewechselt.
Schräg gegenüber grüßt die alte Gaststätte „Grauer Wolf“. Dieser schöne Fachwerkbau steht an dieser Stelle seit 1816. In früheren Zeiten finden wir ihn unter dem Namen „Wolfskrug“ an der Ecke Straße des Friedens Puschkinstraße (Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft) und ein Jahrhundert später an der nächsten Ecke (Melanchthonstraße), also weiter nördlich, bis er seinen heutigen Standort erhielt. Das Steinrelief über der Haustür zeigt einen Wolf und die Jahreszahl 1816.
Nun kreuzt der Rischebach die Eichstraße. Wir nähern uns der „Bruchmühle“, die als Walkmühle diente und 1911 als Mahlmühle ihre Pforten schloß. Auch sie liegt auf der Flur „Walkmühlenbreite“, wo früher die alte Walkmühle lag, die im Freiheitskrieg abgebrochen wurde. Der Rischebach nimmt nun seinen Lauf durch die Bachstraße, wo er gegenüber der Poliklinik verschwindet. Unter den Schrittplatten der Dr.-W.-Külz-Straße fließt er dem Stadtinnern zu.
Stadtinneres: Nach dem alten Stadtplan von 1640 setzte der Rischebach seinen Lauf noch ein Stück bis hinter die Melanchthon-Oberschule fort und bog dann scharf nach rechts über den ehemaligen Festungsgraben, wo er mittels einer Arche (Trog) durch die Stadtmauer geleitet wurde, bis er ungefähr an der Stelle des heutigen „Glöcknerstiftes“ die Fleischerstraße erreichte. Unter dem linken Bürgersteig der Rosa-Luxemburg-Straße strebte er nun, vorbei am Kirchplatz, dem Rathaus zu, wo er die Fischkästen hinter dem Rathaus versorgte. Nach Durchströmen der Coswiger Straße drehte er die Räder der alten „Stadtmühle“. Vereint mit dem Faulen Bach leistete er diese Arbeit, wozu ein ziemlich weit verzweigtes Bachsystem nötig war.
Der Faule Bach entspringt bei Woltersdorf. Er trieb das Abtsdorfer Mühlchen“, das schon 1356 erwähnt wird, und auf seinem weiteren Weg die ,“Antoniusmühle“, die als Plattnermühle (Ritterharnische) arbeitete. Durch Labetz fließend erreicht er die Specke und später das Hauptbahnhofsgebäude. Das Bahngelände quert er überbaut; auf dem Grundstück der Gärtnerei Negendank tritt er wieder an die Oberfläche. Gegenüber dem ,“Haus der Schaffenden“ sehen wir ihn dann erneut. Nun geht sein Weg gegenüber der Hauptpost auf die Häuser der Mittelstraße zu. Unter diesen fließt er bis fast zur Hälfte dieser Straße und erreicht weiter unter den Schrittplatten des Bürgersteiges den Holzmarkt. Hier biegt er in die Collegienstraße ein, durchfließt die Schloßstraße bis zur „Stadtmühle“.
Am „Haus der Schaffenden“ hat der Faule Bach noch den Trajuhnschen Bach aufgenommen, der zwei Quellgebiete hat. Einmal ist es der Teucheler Bach, der auf den Höhen des Exerzierplatzes entspringt und als erste Mühle die „Walkmühle“ in der Stadtrandsiedlung trieb, die schon 1572 erwähnt wird. Vereint mit dem Trajuhnschen Bach, der von Trajuhn herkommt, trieben sie die „Grützmühle“, die im vorigen Jahrhundert als Spinnerei erbaut wurde und zwischendurch Käsefabrik war. Zuletzt arbeitete sie eben als Grützmühle. Der Trajuhnsche Bach stößt auf die Berliner Chaussee am Palmenbaum. Durch die Bruderannendorfer Mark bis zur Kreuzstraße erreicht der Bach an Scheers Grundstück (Ecke Katharinenstraße) die Stalinstraße. Von hier abfließt er unterirdisch die Stalinstraße entlang, bis er sich am Haus der „Schaffenden“ mit dem Faulen Bach vereinigt. Auch der Letztgenannte ist wahrscheinlich künstlich in die Stadt geleitet worden.
Bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts flossen alle Bäche noch offen durch die Stadt. Sie mußten vielen Zwecken dienen. Die Gerber spülten ihre Felle darin, die Korbmacher vertrauten ihnen ihre Weiden an. Daß die Bäche auch viel Unrat aufnehmen mußten, ist verständlich. Die weit verbreitete und irrige Ansicht, daß in früheren Zeiten das Brauwasser aus ihnen entnommen wurde, müssen wir aber verneinen, denn dazu hatte Wittenberg vier Röhrfahrten mit klarstem Quellwasser. Noch heute laufen auf verschiedenen Höfen der Altstadt diese Brunnen.
Auch jetzt erfüllt der Rischebach innerhalb unseres Stadtgebietes noch eine wichtige Funktion. Er nimmt nach starken Regengüssen das aus den angrenzenden Straßen anfallende Regen- und Schmelzwasser auf.
Von der „Stadtmühle“ aus umfließt der Rischebach die Schloßkirche und führt schräg hinüber zum „Haus der Jungen Pioniere“, wo er wieder zutage tritt. An der Stirnfront des Hafens fließt er vorbei und dann neben diesem, bis er sich in der Nähe von Kleinwittenberg mit seinem großen Bruder, der Elbe, vereinigt.
Der Lauf des Rischebaches und das Straacher Tal haben viele Vergleichsmöglichkeiten mit den Industrietälern im Vogtland. Dort sind es vorwiegend kleine Textilbetriebe. An den Ufern des Rischebaches ist eine abwechslungsreichere Industrie zu Hause. Entlang dem Hafen schaut Wittenbergs aufwärtsstrebende Großindustrie in die nunmehr trüben Fluten; seine wirtschaftliche Bedeutung hat der Rischebach aber durch viele Jahrhunderte bewiesen und bis heute aufrechterhalten.

aus: Wittenberger Rundblick vom Sept. 1956