Herbei, herbei zur Martinsgans!

Der Martinstag in Sage, Brauch und Sitte

Nur wenige Festtage kommen an Volkstümlichkeit dem
10. November, dem Martinstage gleich. Es ergibt sich dabei die eigenartige Tatsache, daß in evangelischen Gegenden seine Feier dem Andenken des Reformators Dr. Martin Luther gilt, während man ihn in katholischen Landesteilen zu Ehren des Bischofs Martin von Tours festlich begeht. Die Wurzeln der Feier sind in einem uralten Erntedankfest zu suchen, das zu Ehren des Göttervaters Wodan veranstaltet wurde. Dabei zündete man Freudenfeuer an, hielt ausgedehnte Schmausereien, bei denen die gebratene Gans eine wichtige Rolle spielte. Wie man damals aus dem Aussehen des Brustbeines das Schicksal kündete, so will man noch heute an dessen Färbung – je nachdem, ob es weiß oder rötlich ist – erkennen, ob ein strenger oder milder Winter zu erwarten ist.

Mit der Einführung des Christentums wurde jene Feier ersetzt durch die zum Gedächtnis des frommen Bischofs Martin. Die alten Bräuche wurden aber auch bei der christlichen Festfeier unter dem Namen Martinsfeuer, Martinsgans und Martinshörnchen beibehalten. Das letztere Gebäck, das besonders in den Lutherstädten Wittenberg, Eisleben, Erfurt und Eisenach allgemein beliebt ist, soll wohl in seiner Form die Nachbildung eines Pferdehufes sein. Dabei mag es hingestellt bleiben, ob es den Huf von Vodans Roß abbilden soll oder den vom Pferde des heiligen Martin, zu dessen Ehren im Jahre 650 der Martinstag festgesetzt wurde. Der Heilige stammte aus Ungarn, wo er im Jahre 316 geboren wurde. Mit 16 Jahren trat er in das Heer des Kaisers Konstantin des Großen ein und brachte es hier durch seine Tapferkeit und Frömmigkeit zu hohem Ansehen. Bekannt ist, was die Legende von ihm aus der französischen Stadt Amiens zu berichten weiß:

St. Martin reitet durch Schnee und Wind,
Sein Roß trug ihn fort geschwind.
St. Martin reitet mit frohem Mut,
Sein Mantel deckt ihn warm und gut.
„O helft mir doch in meiner Not,
Sonst ist der harte Frost mein Tod!“
St. Martin hielt die Zügel an,
Sein Roß stand still beim armen Mann.
St. Martin mit dem Schwerte teilt,
Den Mantel unverweilt,
Und gibt dem Bettler den halben still.
Der Bettler ihm rasch danken will,
St. Martin aber ritt in Eil,
Hinweg mit seinem Mantelteil.

Daß die Gans bei der Feier zu Ehren des Heiligen eine so große Rolle spielt, soll daher kommen, daß dieser der Legende nach, als man ihn nach seiner 371 erfolgten Wahl zum Bischof von Tours mit den bischöflichen Gewändern bekleiden wollte, sich in einem Gänsestalle versteckte, aber von den schnatternden Vögeln verraten wurde. Wahrscheinlicher aber ist es, daß unabhängig vom heiligen Martin das Verspeisen von Gänsen im November von jeher üblich war, weil diese zu dieser Zeit besonders schmackhaft sind, und da sie nicht mehr auf die Weide getrieben werden können, geschlachtet werden, um das Futter für sie zu sparen. So war es bereits im Mittelalter. Selbst im Kloster labten sich die frommen Brüder am saftigen Gänsebraten, bei dem ein guter Trunk nicht fehlen durfte, wobei dann das fröhliche „Martinslied“ angestimmte wurde:

„Herbei, herbei zur Martinsgans!
Herr Burkhardt mit den Brezeln – jubilamus!
Herr Urban mit der Flasche – cantemus!
St. Barthol mit den Würsten – gaudemus!
Sind alle starke Patrone zur Martinsgans.“

Auch sonst ist der Martinstag ein wichtiger Termin. Früher wurde an diesem Tage der Pachtzins gezahlt; ebenso geschah es mit den Steuern und anderen Abgaben. Noch bis ins 20. Jahrhundert hinein wurden die Getreidepreise nach dem „Martinspreis“ bestimmt, und bei der in den Jahren 1821 bis1829 in Preußen erfolgten Ablösung der grundherrlichen Naturalabgaben wurde für die Getreidelieferungen der zehnjährige Durchschnitt des Martinipreises als Abfindungssumme festgelegt. – In der Harzgegend geschah die Ablieferung der „Zinshähne“ in eigenartiger Weise. Man setzte die „Zinshähne und „Zinshühner“ auf dem Dorfanger in Körbe von bestimmter Höhe, um festzustellen, ob die zur Abgabe bestimmten Tiere auch groß genug seien. Konnten sie über den Rand des Korbes fliegen, so galten sie als vollwertig, andernfalls wurden sie zurückgewiesen. Dabei soll es nicht selten vor gekommen sein, daß sie durch Locken und freundliche Büffe dazu genötigt wurden. Damit hängt wohl die Redensart zusammen:
„Er wird rot wie ein Zinshahn.“
Auch galt früher der Martinstag als „Ziehtag“ für das ländliche Gesinde. Ebenso geht das Weidejahr mit Martini zu Ende. In Mitteldeutschland war es lange Zeit Sitte, daß der Gemeindehirte mit seiner Frau am Abend des Martinstages in die Bauernhöfe kam und auf der Schalmei ein lustiges Lied blies. Er erhielt dafür Spenden an Wurst, Speck und Eiern, die seine Frau im Korbe heimtrug. In der „Bauernregel“ spielt der Martinstag ebenfalls eine Rolle. Der Bauer muß um diese Zeit daran denken, die Aussaat des Wintergetreides zu beenden, ehe der Schnee den Acker einhüllt, denn St. Martin kommt nach alten Sitten auf einem Schimmel hergeritten“.

In besonders festlicher Weise wird der Martinstag alljährlich in den Lutherstädten Nordhausen und Erfurt gefeiert. In Nordhausen soll die Martinsfeier ihren besonderen Grund darin haben, daß Luther, der als Wanderer unerkannt daherkam, von einem ehrsamen Schuhmacher zum Mittagessen geladen wurde, welches aus Gänsebraten mit Grünkohl bestand. Er nahm die Einladung an und gab sich nach der Mahlzeit seinen Gastgebern zu erkennen. Auf die Kunde von der Anwesenheit des großen Reformators strömten Bürger und Ratsherren zusammen, und zu Ehren des berühmten Gastes ließ man die Glocken läuten. Daher mag es kommen, daß man in Nordhausen noch heute am Martinstage Gänsebraten und Grünkohl auf den Tisch bringt.
In Erfurt wird der Martinstag auf dem weiten Platze vor dem Dome und der Severikirche gefeiert. Dort versammeln sich bei einbrechender Dunkelheit Tausende von Kindern mit bunten Papierlaternen, nachdem sie vorher durch die Straßen zogen und dabei unermüdlich sangen:

Martin, Martin, Martin!
Martin war ein braver Mann.
Steckt recht viele Lichter an,
Daß er droben sehen kann,
Was er unten hat getan.

Den Abschluß der Feier vor den Stufen des Domes bildet das von Groß und Klein unter Musikbegleitung machtvoll gesungene Lutherlied
„Ein feste Burg ist unser Gott.“
Auch in anderen Städten, die in Beziehung zu dem Reformator stehen – in Eisleben, Magdeburg, Torgau, Schleusingen, Langensalza usw., – wird der Martinstag durch festliche Veranstaltungen begangen.
Wie man in den evangelischen Gegenden unseres Vaterlandes den Martinstag zu Ehren Dr. Martin Luthers feiert, so begeht man ihn in den katholischen Landesteilen zum Andenken an den Bischof Martin ebenfalls vielfach durch festliche Umzüge, wobei dann die Kinder ebenso andauernd singen:

Martin, Martin, Martin!
Martin war ein braver Mann.
Schenkte seinen Mantel
Einem armen Mann!

Aus der Umdeutung des Martinstages vom heiligen Martin der katholischen Kirche auf den Reformator Dr. Martin Luther erkennt man jedenfalls recht deutlich, in welcher Weise vielfach alte Bräuche umgewandelt werden und einen neuen Inhalt erhalten, während die alten Formen bleiben.

Richard Erfurth †