1931.02.21. Unser Heimatland
„Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, und neues Leben blüht aus den Ruinen.“
An diese Worte aus Schillers „Wilhelm Tell“ wird man unwillkürlich erinnert, wenn man das rege Leben und Treiben auf dem Wittenberger Wochenmarkte und noch mehr gelegentlich der Jahrmärkte auf dem Neumarkte, dem früheren Arsenalplatze, beobachtet. Freilich nur wenige der Marktbesucher werden eine Vorstellung davon haben, daß einst an dieser Stelle Klosterstille und Klosterfrieden herrschte.
Die Herzogin Helene, die Gemahlin Albrechts I., war es, die an diesem Orte dem Mönchsorden der Franziskaner, auch Minoriten oder Barfüßer genannt, vermutlich im Jahre 1223 ein Kloster erbaute. Zu dem Gelübde des Ordens gehörte Besitzlosigkeit, Demut, Keuschheit und Selbstverachtung. Schon frühzeitig wurde er mit wertvollen Vorrechten ausgestattet. Im Jahre 1330 erhielt er vom Papst Benedikt XI. Befreiung von aller weltlichen Gerichtsbarkeit; außer seinen Generalen und Provinzialen war der Orden unmittelbar dem Papste unterstellt. Das Wittenberger Franziskanerkloster stand unter dem Magdeburger Erzbischof, der eifrig bemüht war, für dessen Unterhalt zu sorgen. Das geschah zunächst durch den Ablaß, den er 1336 allen denen verhieß, welche der Kirche des Klosters opferten. Dazu kam die Berechtigung, die Beichte zu hören, Almosen zu sammeln und zu predigen. Aber auch die Minnerbrüder selbst, wie die Mönche landläufig genannt wurden, verstanden es, durch Mitteilung ihrer „guten Werke“ ihrem Kloster Existenzmittel zu verschaffen. So erklärte der Abt Nikolaus Guardianus 1424 alle diejenigen, die dem Kloster aus ihrer Braupfanne jederzeit unentgeltlich zu brauen erlauben würden, aller Messen, Fasten und anderer guten Werke des Ordens teilhaftig zu machen. In kluger Weise wußten die Minnerbrüder den Bewohnern der Stadt den Glauben beizubringen, daß diese nicht besser für ihre Seligkeit sorgen könnten, als wenn sie sich eine lezte Ruhestätte auf dem Friedhofe des Franziskanerklosters erwarben und sich von dessen Mönchen die Messe lesen ließen, um sich so auf dem kürzesten Wege von den Dualen des Fegefeuers zu lösen. Aber auch sonst verstanden es die frommen Brüder, für ihr Kloster Schätze zu sammeln. Niemand hielt seine Hand verschlossen, wenn der Terminierer so nannte man die Mönche, die außerhalb der Stadt, also auf dem Lande und den umliegenden Städten, betteln gingen barfuß und barhaupt als Bild der Entsagung, an der Tür um eine Gabe bat.
Dem Stadtpfarrer freilich waren die Minoriten ein Dorn im Auge. Ging ihm doch durch diese manches Opfer aus der Gemeinde verloren, zumal diese auch die Beichte hören und predigen durften. Aber sein wiederholter Einspruch nützte nichts, denn die Mönche fanden stets starken Schutz bei ihren Oberen, namentlich beim Papste selbst. Der Probst von Kemberg Johann Specht versuchte es zwar, im Vertrauen auf sein Ansehen beim Landesherrn, ihnen das Beichtehören und Predigen zu verbieten, und das Einsammeln von Almosen nur unter der Bedingung zu gestatten, daß sie den vierten Teil an die zuständigen Pfarrer ablieferten. Augenblicklich aber erfolgte eine Anweisung des Provinzials Arnold, bei Androhung geistlicher Strafen die Mönche weder in ihren Befugnissen zu hindern, noch ihnen den Almosenertrag zu schmälern.
Nun schwoll den Minoriten der Kamm noch mehr. Sie wußten namentlich die Begräbnisse auf ihrem Friedhof so häufig und rücksichtslos sich zu sichern, daß dem Wittenberger Stadtpfarrer endlich die Geduld riß und er die Leiche einer Frau, die ihr Grab bei den Minnerbrübern erworben hatte, von der Pfarrkirche aus, in der alle Leichen eingesegnet wurden, geradewegs zum Kreuztore (dem späteren Elstertore) hinaus auf seinen Friedhof bringen und dort bestatten ließ. Herzog Rudolf, welcher aus früheren Erfahrungen wohl wußte, was eine Beschwerde der Mönche bedeutete, brachte glücklich einen Vergleich zwischen dem Stadtpfarrer und dem Franziskanerkloster hinsichtlich der Begräbnisse zustande. Nach seinem Tode aber zog sich der Stadtpfarrer vom Erzbischof Albrecht abermals eine Zurechtweisung wegen Benachteiligung der Minoriten zu. Die Stimmung gegen diese blieb freilich feindlich, und nachdem der Fürst und der Stadtpfarrer hinreichend üble Erfahrungen in dieser Hinsicht gesammelt hatten, wagte es 1372 ein Bürger, dem Kloster, das von seiner Frau bei diesem erwählte Begräbnis zu entziehen. Aber die Mönche ließen sich das nicht gefallen, und da jener Bürger sich im Zorn verleiten ließ, diese tätlich zu beleidigen, so tat ihn der Erzbischof in den Bann. Der Ordensprovinziale forderte ihn nach Magdeburg, und nur mit Mühe gelang es den Anstrengungen des Kurfürsten Wenzel, ihn aus dem schlimmen Handel herauszuziehen. Der Papst griff nunmehr selbst ein, und um allen Streitigkeiten ein Ende zu machen, bestätigte er 1376 nochmals feierlich alle Rechte des Ordens. Die durch den Schaden gewitzigten Wittenberger fügten sich wohl oder übel, zumal ihnen bald darauf durch eine geistliche Brüderschaft, welche die um 1377 erbaute Kapelle zum heiligen Leichnam Christi neben der Stadtkirche zugewiesen erhielt, ein Ersatz für das Begräbnis bei den Minoriten geboten wurde.
Es ist unter den geschilderten Umständen erklärlich, daß das Franziskanerkloster mit der Zeit immer mehr an äußerem Ansehen und an Wohlhabenheit gewann. Im Jahre 1355 hatte es bereits so viel erworben, um eine neue Kirche bauen zu können; auch kaufte es nach und nach Häuser in seiner Nähe an, die dann von allen Gemeindelasten befreit waren.
Dabei darf aber ein Verdienst, welches sich der Orden um Wittenberg erwarb, nicht verschwiegen werden – der Unterricht der Jugend. Neben dem Guardianus waren zwei „Lesemester der barvoten Bröder“ Vorgesetzte im Kloster. Diese erteilten an willige Kinder der Stadt unentgeltlichen Unterricht in den Anfängen der damaligen Wissenschaft, der sich jedoch durch den dadurch in den Familien gewonnenen Einfluß reichlich bezahlt machte. Zu diesen Lehrern gehört der bereits 1309 erwähnte „Magister Ludolfus rector parvulorum in Wittenbergk“ (Magifter Ludolf, Lehrer der Jugend in Wittenberg) und vermutlich auch der 1371 genannte „Rector scolarum (Lehrer der Schulknaben).
Mit Beginn der Reformation verließen die meisten Mönche das Franziskanerkloster; nur wenige blieben noch darin zurück, die nach und nach hinstarben. Da nun das Kloster leerstand, so willigte Kurfürst Johann der Beständige auf Luthers Bitte ein, daß darin 1527 eine Herberge für Arme und Notleidende eingerichtet wurde. Im Jahre 1544 verwandelte Kurfürst Johann Friedrich die Klosterkirche in ein Kornmagazin; das Kloster selbst und die kleine Kapelle verblieb den Armen, und es wurde in letzterer auch noch dann und wann gepredigt. Nach einer Pause von 45 Jahren ließ der Senator und Kämmerer Wolfgang Hobelt diese Kapelle erneuern. Er stiftete für ihre Erhaltung auch besondere Legate, und von da ab (1610) wurde sowohl der wöchentliche Gottesdienst mit Predigt als auch die tägliche Betstunde sowie in jedem Vierteljahre das heilige Abendmahl für Arme darin abgehalten. Bei der Belagerung Wittenbergs aber am 13. Oktober 1760 wurde die Kapelle mit anderen Gebäuden in Brand geschossen. Nach ihrer im Jahre 1771 erfolgten Wiederherstellung predigte jedesmal am dritten Feiertage der hohen Feste der vierte Diakonus in dieser, während bei dem wöchentlichen Gottesdienste früh 8 Uhr ein Kandidat der Theologie predigte. Im Laufe der Zeit aber verfielen die Klostergebäude; ihre Trümmer wurden eingeebnet oder andere Baulichkeiten auf ihnen errichtet.
Besondere Bedeutung hatte das Wittenberger Franziskanerkloster dadurch, daß in der Gruft der Klosterkirche seine Stifterin und nach ihr die meisten Glieder des askanischen Fürstengeschlechts beigesetzt wurden. Mit dem Kloster zerfielen leider auch deren Grabdenkmäler. Der Sorgfalt Melanchthons verdanken wir es, daß die Inschriften aufgezeichnet wurden. Was von diesen Denkmälern erhalten blieb, hat in der Schloßkirche Aufnahme gefunden; es ist das Reliefbild des Kurfürsten Rudolf II. und seiner Gemahlin Elisabeth und deren Tochter. (Schadow will darin Kurfürst Rudolf I. und seine erste Gemahlin Kunigunde und die zweite Gemahlin Agnes erblicken.) Auf Melanchthons Anregung hin ließ Kurfürst Johann der Beständige nach Aufhebung des Franziskanerklosters im Jahre 1544 die Grabsteine nach der Schloßkirche bringen. Bei den Nachgrabungen, die im Jahre 1883 auf dem Arsenalplatz vorgenommen wurden, fand man in der ehemaligen Klostergruft die Ueberreste von 27 Leichen, die nach Melanchthons Aufzeichnungen und den Totenregistern zweifelsfrei als diejenigen der hier beigefesten Askanier festgestellt sind. Die Gebeine wurden in neue eichene Särge gebettet und in die Gruft der Schloßkirche übergeführt, über der Kaiser Wilhelm II. einen Sarkophag in spätgotischen Formen errichten ließ, dessen Bronzeplatte die Namen der Toten nennt.
Hunderte von Füßen schreiten heute achtlos über den Ort, an dem einst ferne vergangene Geschlechter ihre letzte Ruhestätte fanden, und wo einst ernste Mönche in andachtsvoller Stille weilten oder ihre Gesänge zum Preise des Höchsten anstimmten, da schallt heute lauter Tageslärm, hastet geschäftiges Treiben. Und wie ein verklungenes Märchen überkommt es uns bei der Erinnerung.
Es war einmal…