1931.01.24. Unser Heimatland
„Stiefel muß sterben, ist noch so jung.“
Mancher von unseren Lesern hat gewiß schon diesen alten Vers gesummt, ohne zu wissen, daß er auf einem geschichtlichen Vorgange beruht, der sich im Jahre 1533 in Wittenberg abspielte und einen tragischen Hintergrund hat.
Der „Stiefel“, von dem jenes Lied singt, ist nicht, wie man gewöhnlich annimmt, unsere lederne Fußbekleidung aus Meister Knieriems Werkstatt, sondern bezieht sich ursprünglich auf den Magister Michael Stiefel, der 1533 in Lochau, dem heutigen Annaburg, als Pfarrer wirkte. Pfarrer Stiefel war ein gelehrter Mann, der zu den treuesten Anhängern Martin Luthers gehörte. Bei seinen astronomischen und astrologischen Studien geriet er aber, wie so mancher „Prophet“, in Vergangenheit und Gegenwart auf Irrwege. So las er auch aus den Sternen, daß das Ende der Welt gekommen sei, ja durch mathematische Berechnungen wußte er sogar Tag und Stunde des Weltunterganges festzustellen, nämlich den 19. Oktober 1533, morgens 8 Uhr.
Das Schlimme an der Sache war, daß Stiefel seine „Entdeckung“ nicht für sich behielt, sondern sie seiner Gemeinde von der Kanzel aus verkündete, die diese Offenbarung gläubig aufnahm. Die Nachricht von seinen Weltuntergangspredigten verbreiteten sich bald ringsum, und so sah man denn die Bewohner der ganzen Gegend – Männer, Frauen und Kinder – Sonntag für Sonntag nach Lochau pilgern, so daß die Ortskirche die Menge der Zuhörer oft nicht zu fassen vermochte.
Die Kunde hiervon kam auch bald nach Wittenberg, und Luther säumte nicht, dem wunderlichen Pfarrer das Gefahrvolle seines Tuns vor die Augen zu halten und ihn durch ernste Mahnungen zur Vernunft zu bringen. Aber alle Mühe war vergebens; zu tief schon hatte sich der Wahn vom Nahen des jüngsten Tages im Kopfe Stiefels festgesetzt. In den Köpfen seiner Bauern aber richtete seine Lehre die schlimmste Verwirrung an. Wenn doch nun einmal – so folgerten sie – die Welt in kurzem untergeht, so hat es keinen Zweck mehr, daß wir uns noch länger plagen. Sie ließen also ihre Felder ungepflügt und unbestellt liegen, so daß diese vom Unkraut überwuchert wurden. Mit den Äckern aber verlotterte die gesamte Wirtschaft samt Herrschaft und Gesinde. Was an Vieh geschlachtet werden konnte, wurde geschlachtet, und wochen- und monatelang lebte man in Saus und Braus. Viele verpraßten und verspielten ihr Geld, und wem es daran fehlte, der verkaufte sein Eigentum zu Schleuderpreisen, um von dem gelösten Gelde die lezten Tage bis zum Weltuntergang herrlich und in Freuden zu leben. Die Gastwirte von Lochau und den umliegenden Ortschaften machten in dieser Zeit glänzende Geschäfte. Die wenigen Vernünftigen, die es wagten, sich dem Irrwahn entgegenzustellen, wurden von Stiefel und seinen Anhängern als Ungläubige verachtet und beschimpft. Zwar verbot das Konsistorium in Wittenberg, da alle Warnungen nichts gefruchtet hatten, dem Lochauer Pfarrer das Predigen, aber dem Uebel wurde damit nicht gesteuert, denn dieser kehrte sich nicht an das Verbot und meinte, von seiner prophetischen Sendung überzeugt: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen“, und setzte sein Predigen über den nahen jüngsten Tag fort, so daß die Schar seiner Anhänger sich fortgesetzt vermehrte. Sogar in den benachbarten Städten, wie in Torgau, wurden viele von dem Irrwahn ergriffen.
So kam der als Tag des Weltuntergangs prophezeite
19. Oktober 1533 – ein Sonnabend – heran. Schon am Tage vorher glich das sonst so stille Lochau einem Wallfahrtsort. Von nah und fern, zu Fuß, zu Wagen und hoch zu Roß, strömte die Menge herbei, um in der Nähe des Propheten Michael Stiefel den jüngsten Tag zu erwarten. In langen Reihen standen die Wagen in den Gassen aufgefahren – sogar Karossen mit dem Adelswappen befanden sich darunter – und alles war schwarz von Menschen.
Jeden wahren Menschenfreund mußte freilich tiefes Weh und Mitleid bei diesem Anblick erfüllen. Da war nun Dr. Martin Luther gekommen und hatte ihnen das Licht des Evangeliums angezündet, aber genügt hatte es ihnen leider nicht. Sie waren die gleichen geblieben: Leichtgläubig, abergläubisch, wundersüchtig. Wie sie ehedem nach Jüterbog gelaufen waren, um für schweres Geld dem Tetzel seine Ablaßbriefe abzukaufen, so wallfahrteten sie jetzt zum Weltuntergangspropheten Stiefel nach Lochau.
Und die Menschen der Gegenwart?
– Unser „aufgeklärtes Jahrhundert“ hat wahrlich keine Ursache, über jene Verirrungen hochmütig oder mitleidig zu lächeln. Gibt es nicht auch noch bei uns im Jahre 1931 „Propheten“, die sich als Verkünder der „reinen Wahrheit“ gebärden, und denen eine fanatische Menge das „Hosianna!“ zuruft? –
Da die Häuser von Lochau nicht genug Platz hatten, um die Scharen der Ankommenden zu beherbergen, so mußten viele die dem Weltuntergang vorhergehende Nacht im Freien zubringen. Es wurden Feuer angezündet, an denen gekocht und gebraten wurde. Schmausend, zechend, lärmend lagerte um sie die Menge wie in einem Heerlager.
Der Morgen des „jüngsten Tages“ brach an – ein heiterer Morgen, der so gar nicht nach Weltuntergang aussah. Schon sehr früh hatten sich die Massen im Gotteshause versammelt im dichten Gedränge. Zu ihnen trat Pfarrer Stiefel, der in seiner begeisternden, fanatischen Art zu den Gläubigen sprach. Mitten in seine Rede hinein klangen plötzlich die acht Glockenschläge, welche den Anbruch des jüngdten Tages verkündeten. Stiefel und mit ihm die ganze Volksmenge fiel auf die Knie nieder, die Augen zum Himmel gerichtet – die einen verzückt, andere totenbleich, Frauen und Kinder zumeist mit Weinen und angstvollem Stöhnen.
Aber siehe da – die Glockenschläge verhallten, und noch immer standen die Mauern der Kirche und mit ihnen die Welt ringsum fest; kein überirdisches Licht und keine himmlische Erscheinung wollte sich zeigen, keine Posaune des Weltgerichts ließ sich hören. In das dumpfe Schweigen hinein klang des Propheten seltsam unsichere und heisere Stimme: ,,Der Herr säumt noch. Laßt uns derweilen singen.“ Und er stimmte einen Buß- und Bittgesang an, in den die Menge zitternd einstimmte. Der letzte Vers ging zu Ende, aber noch immer ereignete sich nichts. Dem armen Propheten traten die Schweißtropfen auf die Stirn, und seine verstörten Gesichtszüge kündeten deutlich seine Seelenangst.
Wieder wandte er sich an die harrende Menge, aber nur gepreßt und hohl kamen die Worte von den bebenden Lippen: „Lasset uns in unsere Häuser gehen und dort das kommen des Herrn erwarten.“
Ein unwilliges Murren ging durch die Menge. Man begann einzusehen, daß man von einem Narren betrogen worden sei.
Mit schwankenden Schritten ging Stiefel den Ausgang der Kirche zu, ihm nach drängte das Volk in drohender Haltung. Kaum hatte er die Kirchentür durchschritten, da legte sich ihm eine Hand schwer auf die Schulter. Es war der kurfürstliche Schoffer (Amtmann) von Lochau, den acht Bewaffnete begleiteten. Mit einer Stimme, die dem Propheten des jüngsten Tage wie die Posaune des jüngsten Ge- richts klingen mochte, sprach er:
„Im Namen Seiner kurfürstlichen Gnaden verhafte ich Euch, Michael Stiefel, die weil Ihr gefährlichen Irrwahn unter dem Volke verbreitet und solches zu lasterhaftem Tun verleitet habt.“
Stiefel zuckte zusammen, und es fehlte nicht viel, so hätte ihn der Schrecken zu Boden geworfen.
„Laßt mich zuvor von meiner Familie Abschied nehmen“, sprach er mit zitternder Stimme, „dann will ich Euch folgen.“
Dieses wurde ihm von dem mitleidigen Schosser auch zugestanden, und nachdem er von den Seinen bewegten Abschied genommen, bestieg er den bereitstehenden Wagen, der ihn als Gefangenen nach Wittenberg bringen sollte. Die Bewaffneten hatten Mühe, die empörte Menge, welche das Pfarrhaus umgab, von dem Unglüdlichen zurückzuhalten.
Laute Flüche und Verwünschungen der Betrogenen wurden ihm nachgeschleudert.
Die Nachricht von der Ankunft des Lochauer Propheten hatte sich wie ein Lauffeuer in Wittenberg verbreitet und bei seinen Anhängern, die er auch hier eine ganze Anzahl besaß, Bestürzung, bei den anderen aber Spott und Hohn hervorgerufen.
Unterdessen saß der arme verblendete Mann im Gefängnis des kurfürstlichen Schlosses zusammengesunken und in trübem Sinnen auf der harten Bank. Da vernahm sein Ohr aus einiger Entfernung lautes Getümmel, und auf einmal erklang ein kräftiger Studentengesang:
„Stiefel muß sterben,
ist noch so jung.“
Dem armen Schächer griff es eiskalt ans Herz. Sollte er wirklich seinen Irrtum mit dem Tode büßen müssen?
So schlimm wurde es nun freilich nicht. Wieder war es Martin Luther, der sich für den Verblendeten bei dem Kurfürsten Johann Friedrich verwandte, obgleich dieser den Reformator zuletzt in seinen Predigten hart angegriffen und ihn als einen Pilatus und Herodes hingestellt hatte.
Der nachsichtige Fürst begnadigte denn auch Stiefel, doch wurde er seines Pfarramts entsetzt und mußte das Kurfürstentum verlassen. –
Lange Zeit dauerte übrigens diese Verbannung nicht. Bereits nach zwei Jahren. – 1535 – wurde Stiefel – ebenfalls auf Luthers Verwendung das Pfarramt zu Holzdorf übertragen.
Hier lebte er in stiller Zurückgezogenheit seinem Amte. Wohl las er noch immer in seinen geliebten Sternen, doch hütete er sich, durch seine üblen Erfahrungen gewitzigt, aus seinen Forschungen Schlüsse auf das Weltgeschehen zu ziehen, und noch weniger, daraus Prophezeiungen laut werden zu lassen.
Als im Schmalkaldischen Kriege Holzdorf – 1547 – von spanischen Soldaten ausgeplündert wurde, verließ er diesen Ort und ging nach Jena, wo er infolge seiner mathematischen Kenntnisse Anstellung als Lehrer an der dortigen Universität fand. Dort ist er im Jahre 1567 als berühmter Mathematiker gestorben. –
Noch mancher hat sich im Prophezeien des Weltuntergangs versucht, und es hat ihm auch nicht an Gläubigen gefehlt. Glücklicherweise haben diese Phantastereien nicht die gleichen üblen Folgen gezeitigt wie jene des Lochauer Pfarrers. Noch immer gilt vom Weltende das Wort des Heilandes:
„Es gebühret Euch nicht, zu wissen Zeit oder Stunde,
welche der Vater seiner Macht vorbehalten hat.„
Ein altes Volkslied
Stiefel muß sterben
ist noch so jung, jung, jung
Stiefel muß sterben
ist noch so jung
Wenn das der Absatz wüßt
daß Stiefel sterben müßt
Stiefel muß sterben
ist noch so jung