1929.03.06. O du Heimatflur!
Altpreußischer Gehorsam
In unserer Zeit, in der so viele Klagen über Unbotmäßigkeit geführt werden, wünscht wohl mancher die eiserne altpreußische Disziplin zurück. Wie weit diese manchmal ging, das beweist das nachfolgende wahre Geschichtchen:
König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen war mit dem um die Stadt Wittenberg hochverdienten Superintendenten Heubner, dem Vater Heubner“. (Großvater des derzeitigen 11 Direktors am Melanchthongymnasium Herrn Heubner) eng befreundet wie man sagt, von beider Universitätszeit her. Wenn der König nach Wittenberg kam, versäumte er nie, seinen Heubner zu sprechen und wenn es irgend anging, ihn predigen zu hören. Ende Mai 1851 lief auf der Kommandantur Wittenberg die Mitteilung ein, der König werde auf der Durchreise in den Pfingstfeiertagen eine Nacht in der Lutherstadt verweilen und wünsche den zweiten Feiertag Heubner von der Kanzel zu hören. Letzterer sei von diesem Wunsche in Kenntnis zu setzen, sonst aber solle kein weiteres Aufsehen von dem Besuche des Königs gemacht werden. Heubner hielt denn auch am zweiten Festtage vor überfüllter Kirche – denn das Geheimnis war doch nicht so streng bewahrt worden – eine seiner herzbewegenden Predigten. Er deutete darin nur flüchtig auf die Anwesenheit des hohen Besuchs, der auf dem Magistratschor Platz genommen hatte, dadurch hin, daß er die Worte einflocht, wie sich heute ein gar treuer Zeuge des Evangeliums und Schutzherr der Reformation an geweihter Stätte eingefunden habe. Der König hatte in der Festungskommandantur übernachtet, war zu Fuß nach der Stadtkirche gegangen und hatte dabei das Lutherdenkmal, das damals noch allein auf dem Marktplatze stand, besichtigt. Den Rückweg von der Kirche machte er wie auch seine Begleitung mit Extrapost an der Nordseite des Rathauses vorbei. Als der königliche Wagen an das Hotel „Zur Weintraube“ kam,
rief der Flügeladjutant dem Postillon mit lauter Stimme zu: „Links ab!“ Der König beabsichtigte nämlich den Weg an der westlichen Seite des Marktplatzes in der Richtung zur Adler-Apotheke
hin langsam zurückzulegen, um noch einmal das Lutherdenkmal betrachten zu können. Diese Absicht wurde aber durch den eisernen Gehorsam des Postillons durchkreuzt, der in voller Paradeuniform, seiner hohen Aufgabe bewußt, auf dem Kutschbock thronte. Zwar wandte er sich bei dem Befehle des Flügeladjutanten um, aber lediglich, um diesen die Belehrung zu erteilen, daß es „geradeaus“ und nicht ,,links ab“ gehe. „Denn“ – so fügte er erklärend hinzu „der Herr Postdirektor haben befohlen, daß der König die Coswigergasse entlang fahren solle.“ Mit diesen Worten hieb er auf die Pferde ein, und im schärfsten Trabe ging es auf diesem Wege zur Kommandantur zurück.
Der König war nun zwar um den Anblick des Lutherdenkmals gekommen, er hatte aber an dem Gehorsam des Postillons seinem nächsten Vorgesetzten gegenüber eine so innige Freude, daß er in ein herzhaftes Lachen ausbrach und ihm unter ausbrücklicher Anerkennung seiner löblichen Pflichttreue einen Friedrich d’or überreichen ließ.