Zur Geschichte des Wittenberger Schützenfest

Unser berühmtes Volks- und Heimatfest, das Schützenfest, oder – wie es volkstümlich genannt wird – die Vogelwiese, steht wieder vor der Tür. Der Ursprung der Schützenfeste reicht bis in das Mittelalter zurück. Sie sind entstanden aus den Auszügen der Schützen zu den Waffenübungen. Die Schützengesellschaften selbst haben ihren Ursprung in der Bürgerwehr, deren Aufgabe es war, Gut und Leben der Bürger zu schützen, da in jenen unsicheren, kriegerischen Zeiten die Landesgewalt zum Schutze der Städte nicht ausreichte. Wenn so die gesamte wehrfähige Bürgerschaft Fertigkeit in der Führung der Waffen- ursprünglich Armbrust und Harnisch, späterhin die Büchse – besaß, so lag es doch in der Natur der Sache, daß einzelne, namentlich jüngere Bürger, die Waffenübungen mit besonderem Eifer betrieben. Aus diesen Vereinigungen gingen die Schützengilden oder Schützengesellschaften hervor.

Die Wittenberger Schützengesellschaft gehört zu den ältesten ihrer Art. Urkundlich wird sie das erstemal im Jahre 1412 genannt, und zwar in einer Urkunde, in der unter dem 31. Mai 1412 Kurfürst Rudolf III. von Sachsen die Stiftung eines von dem Stiftsherrn Nikolaus Pfluchass und der Bruderschaft der Schützen in der Pfarrkirche zu Wittenberg zu errichtenden Altars genehmigte, welcher der gebenedyten mutern, mayt Marian zu eren und wirdikeiten und den heiligen drein konigen, sand (Sankt) Sebastian, dem heiligen Merter (Märtyrer), zu lobe und allen Selen zu troste“ geweiht war.

Jährlich zogen die Schützen ein oder mehrere Male zu Waffenübungen aus, bei denen nach einer Scheibe oder nach einem hölzernen Vogel geschossen wurde. Um diese Uebungen anziehender und abwechslungsreicher zu gestalten, verband man mit ihnen allerhand Lustbarkeiten. Aus ihnen entwickelte sich auch unser Schützenfest, die „Wittenberger Vogelwiese“.

Einen Einblick in den Charakter jener Veranstaltungen geben uns die alten Schützenregister unserer Schützengesellschaft, denen wir die folgenden Angaben entnehmen:

„Jar 1473 Einnahme:
Item 1 Schog (Schock) entfangen vom Herrn den Land-Voite (Landvogte) als man den Vogel schoß.
Item 2 Schog vom Holze entfangen von der Schützen-Beste Vortelers (Vorteile).
Item 1 güldenen Ring gab der Land-Voit zur Taffeln (Scheibe) als man den Vogel schoß.
Ausgabe:
Item 4 Groschen Meister Hanse vor den Fagil (Vogel) den man abschüßt.
Item 1 Groschen eynen gegeben, der den Fagil auf eyner Stangen außen trug.
Item 2 Groschen vor Krentze (Kränze) den neuen Meistern, den Spielleuten und dem Trommelschläger.
Jar 1475 Ausgabe:
Item 7 Middelgroschen vor Wyn (Wein), der den Schoßer geschenkt ist, damit er todringen (zutrinken) solte. (Der Schosser ist der kurfürstlichen Hauptmann, später Kreishauptmann genannt, der zugleich die Zölle und Steuern zu verwalten hatte).
Item 1 Ring dem, der den Vogel schoß. Jar 1477 Ausgabe:
Item 7 Groschen vor Eyerteich und Butter-Fladen und Iserkuchen (Eiserkuchen) zur Ererbietung dem Rate, dem Schoßer und den Frumen (Frauen).
Jar 1478 Ausgabe:
Item 4 Middelgroschen vor der Grube zu graben, da die Fogel-Stange insteyht.
Item 7 Middelgroschen vor Werke, dho man den Schuzwall macht.
Jar 1479 Ausgabe:
Item dedi (desgleichen) 5 Middelgroschen und 3 Groschen vor Balken und vor eyn Holz zu dem Hause auff dem Schutzwal.
Item dedi vor eynen güldenen Ring an den Fogel 20 Silbergroschen. Item 5 Middelgroschen vor die Mayen zu holen, da man den Fogel schoß.“

Aus dem Angeführten ergibt sich folgendes Bild: Sobald das Schützenfest nahte, entwickelte sich auf dem Festplatze ein geschäftiges Leben und Treiben. Der „Schießgraben“, d. h. der durch Ausgraben vertiefte Plaz zum Schießen nach der Scheibe, wurde neu hergerichtet und der Schußwall ausgebessert. Desgleichen wurde das hölzerne Schießhaus und die Vogelstange einer genauen Prüfung unterzogen. Dessen ungeachtet kam es vor, daß die Vogelstange mitten im Schießen zerbrach, wie aus folgender Bemerkung im Schützenregister hervorgeht:

Am 15. Juni 1605 ist das Königschießen mit ziemlichem Verdruß gehalten worden, weyl die Vogel-Stangen gebrochen, da sie alt, auch böses Wetter gewesen.“ Ein gleiches Mißgeschick widerfuhr dieser im Jahre 1614.

Mehrere Fuder Maien wurden angefahren, mit denen man den Festplatz ausschmückte und Buden baute. Nach altem Herkommen war der Rat der Stadt zur Lieferung dieser Maien verpflichtet. Das Schützenregister vom Jahre 1545 bemerkt darüber: „Es habenn die Schüzen zwey fuder meyen auß der Sprecke zum fogell Schießen und ein fuder zum abschießen. Sollich meyhen ist der Raht verpflicht zu geben“ –

Die Zahl der auf dem Schießplatz errichteten Laub- und Bretterbuden war ursprünglich nur sehr gering. Zuerst wird eine Zinnbude und ein Bierausschank erwähnt; später trat noch eine Glasbude, eine Zitronenbude und eine Pfefferkuchenbude hinzu. Dazu kamen die von den Schützen für ihre Zwecke errichteten Buden. Im Jahre 1732 waren es
a) die Schießbude,
b) zwei Schützenbuden und
c) eine zwischen diesen stehende Bude
„vor Cavaliers und andere Honorationen“.
Die Schützengesellschaft behielt sich insbesondere das Privilegium des Bier- und Weinausschanks vor und verpachtete diesen alljährlich an den Meistbietenden. Im Jahre 1728 bietet Elias Heinrich Ziegenbein für „das Privilegium des Bier- und Wein-Schankes, auch Speisen und Tractements“ die Summe von 14 Talern und 12 Groschen. Bei der Verpachtung im Jahre 1731 wird die Zinnbude an Christian Ziescher für 10 Taler verpachtet. „Da Korn vor die Glaß Bude will nicht mehr als 2 Thaler geben, bleibt sie vor dießmahl unverlöset.“ Die Pfefferkuchenbude wird Schönberg für die Pachtsumme von 7 Talern und 12 Groschen überlassen. „Wegen der Beutler Bude hat sich niemand gemeldt, desgleichen wegen der Citronen Bude.“

In dieser einfachen Gestalt hat sich unser Wittenberger Schützenfest lange erhalten. Ein Anlauf, weitergehenden Ansprüchen zu genügen, wurde im Jahre 1835 unternommen. Welcher Art dieser Versuch war, geht aus einer Beskanntmachung des „Wittenberger Kreisblattes“ vom 1. August des genannten Jahres hervor. Sie lautet:

     „Mit hoher landräthlicher Genehmigung werden Unterzeichnete, wie dies früher bei Gelegenheit des großen Vogelschießens hier stattgefunden, von heute an ein Weinschiff auf der Elbe etablieren und darin mit vorzüglich gutem Kirsch- und inländischem Wein nebst kaltem Imbiß aufwarten. Wir laden unsere verehrten Gönner dahin ergebenst ein, bitten um zahlreichen Besuch und versprechen billige Preise und gute Bedienung.
Lilia und Schulze.“

     Indessen scheint die Sache keinen rechten Anklang gefunden zu haben, denn fünf Jahre später ist von dem Weinschiff keine Rede mehr, und die Schankstätten waren wieder auf drei – im Schießzelt, im Grenadierzelt und im Weinzelt beschränkt. An sonstigen Buden waren in jener Zeit vorhanden eine Spielbude, eine Bude mit langen und kurzen Pfeifen, eine solche mit Glas- und Porzellansachen, eine Schirmbude und endlich die Ludwigsche Zinnbude und die Kuchenbude von „Kreutzbergs Hannchen“. Das war aber auch alles. Wollte man weiteres Vergnügen genießen, so mußte man selbst dafür sorgen, und das haben denn die Schützen auch weidlich getan.

Beim Schießen selbst scheint eine größere Abwechslung geherrscht zu haben. Unter anderem war am Abend des ersten Schießsonntags das „Nachtsternschießen“ sehr beliebt, bei dem die Flattern durch brennende Lämpchen ersetzt wurden. Es hat sich noch bis Ende der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts erhalten. Den noch unvollkommenen Gewehren entsprechend wurde damals nur auf kurze Entfernungen geschossen. Für den nötigen Festlärm sorgten die Mitglieder der Grenadierkompagnie, die das Fest nach dem ersten Auszug mit drei Salven anschossen, dann aber während der Festwoche eine Art Feldlager in ihrem Zelte herstellten. Sie sandten Requisitionskommandos aus, die aus den umliegenden Dörfern Nahrungsmittel herbeischafften. Brachte das Kommando ein Schwein mit, dann war großer Jubel im Lager; es wurde geschlachtet, Wurst gemacht und verzehrt.

Etwa von 1850 ab strebten zuerst Major Liepe und Sekretär Michaelis und dann der Schützenoberst Strensch mit Erfolg eine Erweiterung der „Vogelwiese“ an. Die Beschränkung, daß nur Einheimische auf ihr Waren feilhalten durften, wurde aufgehoben und auswärtige Unternehmer und“Künstler“ herangezogen. In diese Zeit fallen auch die ersten Versuche Mittmanns mit dem „Tanzsalon“, der sich aber nicht lange halten konnte, bis das Tanzzelt durch Christen und dann durch Balzer mit mehr Erfolg wieder eingerichtet wurde.

Die Genußfreudigkeit unserer Zeit, die verbesserten Erwerbsverhältnisse haben eine rasche Weiterentwidlung unseres Schützenfestes geschaffen, auf dem jetzt in weitgehendem Maße die Elektrizität zum Vergnügen der Massen mitwirkt. Wer heute die langen Reihen der dichtstehenden Zelte durchwandert, aus denen abends das elektrische Licht in verschwenderischer Fülle strahlt, der kann sich nur schwer einen Begriff machen von der früheren bescheidenen Gestalt des Festplatzes, auf dem unsere Vorfahren sich in ihrer Weise ergötzten.

Geschossen wurde – wie schon bemerkt – nach der Scheibe, nach dem hölzernen Vogel und zuweilen auch nach einem hölzernen Stern. Die Scheiben waren mit den verschiedensten Figuren bemalt, die oft von humoristischer Art waren und derb-komische Verse als Unterschrift trugen. Eine reiche Auswahl dieser Scheiben schmückt die Räume unseres im Jahre 1912 erbauten Schützenhauses. Lange Zeit hindurch zeigten die Scheiben die Gestalt eines Türken, als des Hauptfeindes der Christenheit. Als späterhin die Fürsten zur größeren Sicherheit ein Fähnlein Landsknechte in die Stadt legten, hielten sich die Schützen dadurch in ihrer Ehre gekränkt und suchten ihrer Verachtung gegen diese Söldner dadurch Ausdruck zu geben, daß sie nach einer Scheibe schossen, auf die ein Landsknecht gemalt war.

aus: Unser Heimatland vom 20.07.1927