Wo früher die Fischer wohnten
Das Fischereihandwerk hatte über Jahrhunderte hinweg große Bedeutung, für die Ernährung der Wittenberger Bevölkerung. In dem Gebiet der heutigen Molkerei, des Kreisgerichtes und des früheren Elektrizitätswerkes bestand bereits 1513 eine „newstadt“ mit 66 Kossäten, die vorwiegend Fischer ohne Grundbesitz waren. Sie lebten nach den „Willkühr-Artickeln der Fischer in der Vorstadt Wittenbergks“ von Mai 1452. Die Fischerfamilien leisteten Naturalzins (Abgabe von Hühnern), Frondienste und Kriegsdienst. Sie waren mit Hellebarden und Spießen ausgerüstet. Die Männer waren zum „Hofedienst“ verpflichtet, hatten die Geschütze innerhalb der Festung zu transportieren. Sie hatten die Elbbrücke und die Bäche eisfrei zu halten und mussten Tag und Nacht abwechselnd den Elbfährbetrieb absichern.
Ab 1560 waren die Fischer verpflichtet, im Sommer um sechs und im Winter um sieben Uhr dem Herrn Hauptmann und Amtsschlösser ihren Fang zum Verkauf anzubieten. Erst danach durften sie ihre Fische auf dem Markt feilbieten. Für Krebse und Fische existierten Modelle für eine anbietungswürdige Größe.
Ein Abkommen mit der Stadt Magdeburg und der Region Anhalt-Dessau-Zerbst aus dem Jahre 1559 besagt, dass die Fischer zwei Meilen oberhalb und eine Meile unterhalb Wittenbergs das alleinige Vorrecht zum Fischfang hatten, einschließlich der Zuflüsse zur Elbe bei Iserbeke, Dabrun und Wartenburg
Bei Hochwasser leisteten die Fischer Rettungsdienste, sie bargen Menschen und versorgten eingeschlossene Dörfer mit Nahrung. Am 6. März 1805 retteten sechs Fischer mehreren Pratauern das Leben. Die Innung bestand damals aus 18 Meistern, 25 Gesellen und 5 Lehrlingen. Für die Lebensrettungsprämie stifteten sie zur Erinnerung einen 4250 Gramm schweren Becher aus reinem Silber, der 1945 verloren ging.
Aus militärtaktischen Gründen verschwand vor 170 Jahren die alte Fischervorstadt zu Gunsten einer Erweiterung der Festung. Die Fischer ließen sich im Baumgarten, heute ist dort der Ortsteil Klein-Wittenberg, nieder. Nur der Fisch im Wappen der Stadt erinnert an die Bedeutung des Fischerhandwerks für Wittenberg.
aus: Wittenberger Bürgergeschichten
Dr. Wolfgang Senst †