Wittenberger Pferdebahn – das Kommen u. Gehen

Wittenberg Schlossstraße Schwarzer Bär Pferdebahn um 1910

Wenn man auf das Verkehrswesen vergangener Zeiten zurückblickt, findet man schon im Altertum benutzte Steingleise, in denen Wagen bewegt wurden. Näher am heutigen Schienenstrang kommen Wagen in Holzgleisen, die besonders im Bergwerk mit Pferden benutzt wurden.
Erst 1824 erfindet Österreich die Mutter aller Straßenbahnen für den öffentlichen Verkehr. Die Schienen sind lange, mit Bandeisen beschlagene Balken, die auf Schwellen ruhen. Die Wagen sind Landpostkutschen, auf kleinen Rädern, die Bespannung ein Pferd.
In Deutschland baute man 1865 von Berlin nach Charlottenburg
8 km Pferdebahn und die Wiener Weltausstellung führte zur Gründung der großen Berliner Pferde Eisenbahn A. G. mit der
Strecke Rosenthaler Tor – Gesundbrunnen.
Jetzt erwachte in dem übrigen Deutschland der Pferdebahn-Klaps. Alle Großstädte, selbst Riesa, Döbeln, Zerbst bauten eine Pferdebahn.
Als Kind war meine größte Freude neben dem Kutscher zu stehen.
Man erfand die eiserne Rillenschiene, dazu den Ritzenschieber, jenen Mann, der besonders bei Damen beliebt war, weil er sie über die Gleise leitete. Mit eisernem Schieber auf einer
Stange reinigte er die Ritzen der Gleise.
Der teuerste Teil waren die Pferde, weil sie auch außer Dienst fressen mußten.
Man bediente sich auch schwerer Dampfbahnen, die alle Straßen
verräucherten und die Häuser zum Wackeln brachten.
Da erfindet Werner von Siemens die erste elektrische Bahn der Welt und baut Groß-Lichterfelde-Ost – Hauptkadettenanstalt.
Jetzt wandeln alle europäischen Großstädte ihre Dampf-, Kabel-, Gas-, Benzin- und Pferdebahnen in Elektrizität um.
Die guten Wittenberger wollten nun auch eine Bahn haben.
Sie wählten zwischen den abgelegten Bahnen herum, denn Geld
wollten sie nicht ausgeben. Sie fürchteten den Radau, glaubten die Häuser fielen ein. Bis Vater Herfurth, der mit seiner Krabbelbude alle Großstädte bereiste, in den Holzmarkt ins Winterquartier kommt. Er verlangte im Verein für städt. Angelegenheiten einen gummibereiften Kraftomnibus, wie in Hannover-Herrenhausen. Dieser für 30 Personen sei überall einsetzbar und könnte Schloß-, Collegienstr. – Bahnhof und zurück über Jüden-, Coswigerstr. fahren.
Die ganze Collegienstr. stimmt zu, weil sie hofft, daß dadurch nicht nur ihre, sondern auch die Häuser der anderen Straßen einfallen. In der Notwehr gibt der Magistrat die Baukonzession zur Pferdebahn auf 30 Jahre an Herrn E. Rettich.
Dieser führt sie von der Juristenstr. (heutige Notenbank) zur Bahn. Weil sie an der Adler-Apotheke stets aus dem Gleise springt, verlegt man sie später zum „Schwarzen Bär“, Schloßstraße.
1888 war die Bahn fertig.
Der Wagen stand bekränzt auf dem Hofe der Juristenstr.
Halb Wittenberg versammelte sich zur ersten Fahrt.
Jetzt wurde der Wagen unter allseitiger Beteiligung aus dem Hof geschoben. Hierbei sprang er erstmalig an der Biegung aus dem Gleise.
Mit erheblicher Verspätung langte er vor Mittelschwedte, Markt 23, an und die Leute drückten sich an den Glasscheiben die Nase platt.
Bald traf der gesamte Magistrat und die Honoratioren der Stadt ein und füllten den Wagen, wobei die Jugend sang:

Und der Pastor mit der Bibel,
und der Kantor mit der Fibel
müssen alle mit, müssen alle mit
in die Pferdebahn hinein.
Und der Schornsteinfeger
mit de Letter, der steigt wie ein
Donnerwetter in die Pferdebahn,
in die Pferdebahn,
in die Pferdebahn hinein.
Und der Schuster mit dem Pechdraht,
und der Bürgermeister
und der Landrat müssen alle mit,
müssen alle mit in die Pferdebahn hinein.

Nun trifft bescheiden am Zügel geführte „Rosamunde“, die edle
Araberstute, ein und wird vorgehangen.
Sie hatte die 3 Kriege 1864, 66 und 70 mit Auszeichnung bestanden, war bei der letzten Vogelwiese im Hypodrom als Damenpferd tätig und hatte sich von den Reiterinnen allerhand angewöhnt, wovon keiner der Anwesenden eine Ahnung hatte.
Vorläufig brauchte sie keinen Strang straff zu machen.
Unter lautem Klingeln wurde der übervolle Wagen angeschoben und wäre die Elbgasse runtergerollt, wenn er nicht vor Markt 1 (Lenches Ecke) aus dem Gleise gesprungen wäre.
Schnell entleerte er sich, wurde mit aller Hilfe wieder eingegleist, besetzt und angeschoben.
Besonders die Jugend schob und sang aus Leibeskräften:
Wir fahren so jemietlich uff de Pferdebahn, das eene Pferd,
das zieht nich, das andere, das ist lahm.
Der Kutscher kann nicht lenken,
der Kondukteur nicht sehn,
und alle fünf Minuten bleibt die Karre stehn.
Das ging nun aber an die Ehre des Kutschers W. Pötsch,
Schloßstr. 23. Die lästige Jugend mußte abgehangen werden.
Man war schon im Schritt bis zum Holzmarkt, als er zur Peitsche
griff. Mißtrauisch, mit angelegten Ohren, beobachtete die Stute
sein Vorhaben. Dann schlug sie gegen die Vorderwand der neuen
Pferdebahn, wobei ihr der Strang unter den Bauch gelangte.
Das war zuviel für ein qualifiziertes Damenpferd.
Jetzt zeigte sie, was sie gelernt hat.
Bösartig wedelt sie mit dem Schwanz, stellt die Beine breit und ein Wasserstrahl fliegt gegen Kutscher und Fahrgäste, der größer als die Wittenberger Feuerspritze ist.
Im Nu ist der Wagen geräumt, die Vorderen sind total durchnäßt.
Ich sehe sie heute noch nach fast 70 Jahren.
Stadtrat Elfe schüttelt seinen Vollbart aus, der Bürgermeister hat im Gedränge seinen Zylinder verloren und putzt seine Brille. Der Landrat ruft nach einem Taschentuch, weil sein’s zu Hause in der Kommode liegt.
Pötsch haut auf die Stute bis der Quell versiegt ist.
Dann ging es, besetzt mit der Jugend der Stadt, im Galopp zum Bahnhof. Am nächsten Tage wurde Rosamunde gegen einen fuchsroten Krakehlerhengst vertauscht.
Dieser hat mit seinem Kutscher Wilh. Pötsch jahrzehntelang zum Wohle der Stadt und zum Ergötzen der Jugend die Pferdebahn bedient.
Die letzte Fahrt zur Bahn ging kurz vor 10 Uhr ab Markt.
Heute ruft Pötsch zu einem Mann:
Sie fahren schon zum 3. Male mit, wo wollnse denn hin?
Garnich hin – ich lese Zeitung, der Petroleum ist zu teier.
Der große Erfinder Siemens, der viele Bahnen in aller Welt baute, der Stadt- und Landkreis Wittenberg sogar im Reichstag vertrat, brachte es nicht fertig, der Wittenberger Pferdebahn Konkurrenz zu machen.
Später bildet sich die alte Pferdebahn als Verkehrshindernis aus, und mußte 1919 beseitigt werden.
Seitdem hat Wittenberg eine Sehenswürdigkeit weniger und die Reisenden, die aus den Fenstern der haltenden D-Züge der Pferdebahn ein Hurra brachten, sind verstummt.
Jetzt, 1955, ist teilweise das verwirklicht, was 1883
Klara Bastian vom Holzmarkt in ihrem Gedicht über Wittenbergs
Zukunft sagt, z. B. über den Wittenberger Verkehr:

Das Pferd rottet aus, es frißt viel zu viel,
große Reisekoffer für 30 Mann sind das Ziel,
fahren durch die Straßen wie auf Parkett,
ja, meine Herren, das wird nett.
Es fehlt noch, daß „Oma“ im Drachen kommt
und sich auf dem Kirchdach im Hemde sonnt.
Ihr werdt’s noch erleben, was ich hier anpreise,
sowahr ich noch „Clare Bastian“ heiße.

Zwar hat das Flugzeug, Fahrrad und Auto noch nicht verdrängt.
Zwar steht der Arsenalplatz als Landeplatz für die Oma noch frei. Aber Pferde- und Straßenbahn in Gleisen sind lange überlebt.
Dafür fahren die Reisekoffer durch die Straßen wie auf Parkett.
Wie lange noch?
Auch sie sind den Ansprüchen nicht mehr gewachsen.
Meist steht die Fahrkartenverkäuferin breitbeinig in der vorderen Wagentür und ruft:
„Halt, meine Herren, vorne ist besetzt, im Hintersten ist noch Platz.“

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