Wittenberg und Umgebung als Schauplatz der Faustsage

350 Jahre sind vergangen, seitdem zunächst in unscheinbarem Gewande die Gestalt des Dr. Faust in die deutsche Literatur eintrat, in der sie durch Goethes unsterbliches Werk ihre Krönung erfahren hat.

Dieser Dr. Faust, an dessen Fuß sich die Sage heftet, ist keine Phantasiegestalt, sondern hat wirklich einmal gelebt.
Als Abenteurer und dunkler Ehrenmann ist er in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts kreuz und quer durch Deutschland gezogen. Wahrscheinlich wurde er um 1480 zu Knittlingen in Württemberg geboren. Nachdem er in Krakau Magie studiert hatte, zog er als fahrender Schüler durch die deutschen Länder.
Im Jahre 1506 finden wir ihn in Gelnhausen, dann in Kreuznach, 1509 in Heidelberg, 1513 in Erfurt und endlich in Wittenberg.
Unter dem 18. Januar 1518 ist im Album der Wittenberger Universität ein Johann Faust eingetragen.
Nach dem zuverlässigen Berichte Melanchthons ist Faust in der Zeit des Kurfürsten Johanns des Beständigen, also während der Jahre 1525 bis 1532, in Wittenberg gewesen.
Lenheimer, ein Schüler Melanchthons, weiß viel von dem Verkehr seines Lehrers mit Faust zu erzählen.
Das größte Aufsehen erregte dieser Ende der Dreißiger Jahre des 16. Jahrhunderts, und gestorben ist er nach der Zimmerschen Chronik alt und elend wohl noch vor 1540 zu Staufen im Breisgau.

Nach dem einstimmigen Urteile aller zeitgenössischen Quellen war dieser Faust ein Schwindler und Betrüger, der durch sein marktschreierisches Auftreten, das er mit dem Mantel des Gelehrsamen zu umgeben wußte, das Erstaunen seiner Zeitgenossen zu erregen verstand.
Dieses gauklerhafte Gebahren des Mannes hat an sich nichts Ausfälliges.
Solchen Erscheinungen begegnet man im 16. Jahrhundert recht oft. Die Verbindung des Marktschreierischen mit dem Gelehrten lag in einer Zeit nahe genug, in welcher die Naturwissenschaften mit Alchymie und Magie untrennbar verbunden waren.
Daher bildete es für die Menschen jener Zeit kein Hindernis, den Faust als einen rechten Forscher und Gelehrten gelten zu lassen. Soweit also, was die Geschichte über ihn zu berichten weiß.

Es kann nicht wundernehmen, daß die Sage sich dieser eigenartigen Gestalt bemächtigt hat, und Fausts längerer Aufenthalt an der damals hochberühmten Wittenberger Hochschule erklärt es, daß die Lutherstadt und ihre nähere Umgebung zu einem erheblichen Teile zum Schauplatz der Faustsage geworden ist.

Zu den bekanntesten Erzahlungen der verschiedenen Faustbücher gehört jene von der ersten Beschwörung des Teufels im Walde „Spessart“ bei Wittenberg und der Abschluß des 24jährigen Vertrages mit dem Höllenfürsten in Fausts Wittenberger Wohnung. Unter dem „Spessart“ ist jedenfalls die Feldmark Specke zu verstehen, die zu jener Zeit mit Wald bestanden war.

Die Faustsage berichtet:
Nachdem sich Faust hinlänglich vorbereitet glaubte, ging er an einem heiteren Tage aus der Stadt Wittenberg an einen eine halbe Meile entfernten Kreuzweg, wo fünf Straßen an einem Punkte ausliefen. Als es Abend geworden war, auch kein Fuhrwerk mehr vorüberkam, ergriff er einen Reif, versah ihn mit vielen seltsamen Zeichen und setzte daneben noch zwei Kreise.
Im nahegelegenen Walde, Spessart genannt, erwartete er mit Sehnsucht die Mitternachtstunde.
Kaum war diese angebrochen, so trat er in den Reif und beschwor unter Verhöhnung des göttlichen Namens zu dreien Malen den Teufel. Alsbald sah er eine große feurige Kugel unter furchtbarem Knall dem Kreise sich nähern, vor demselben zerspringen und in die Luft fahren. Doch faßte er neuen Mut und versuchte eine härtere Beschwörung.

Sogleich entstand im Walde ein solches Windsbrausen, daß alles zugrunde zu gehen schien.
Wagen, mit Rossen bespannt, rannten in rasendem Galopp an den Kreisen vorüber, so daß der Staub hoch aufwirbelte.
Nur mit Mühe vermochte Dr. Faust sich auf den Füßen zu halten. Als aber der Staub sich gesenkt hatte, gewahrte er ein Gespenst oder einen Geist sich um den Zauberkreis bewegen.
Mutvoll beschwor er ihn und forderte ihn auf, ihm zu dienen.
Jener sagte zu, falls Faust die Bedingungen erfüllen würde, welche er ihm morgen in seiner Behausung vorlegen würde.
Vergnügten Sinnes verließ der Doktor den Zirkel, vernichtete dessen Spuren und eilte der Stadt zu.

Um die Mittagszeit sah er dann hinter dem Ofen etwas Schattenähnliches erscheinen, konnte jedoch nicht erkennen, ob es ein Mensch sei.
Sogleich begann er die Beschwörung und befahl dem Geiste, sich ihm in wahrer Gestalt zu zeigen. Da schaute hinter dem Ofen ihm ein Menschenhaupt entgegen, welches sich vor ihm wiederholt verneigte. Auf die Weisung, sein Versteck zu verlassen, gehorchte der Geist und stand nun deutlich vor ihm. Jetzt aber durchzuckten Feuers flammen das ganze Gemach. Der Geist, der zwar ein menschliches Haupt, aber einen zottigen Leib hatte, blickte mit seinen glühenden Augen den Doktor an, so daß dieser erschreckt ihm zurief, er solle hinter den Ofen zurückweichen, was dann auch geschah.
Die Frage Fausts, ob er nicht in einer minder abscheulichen Gestalt sich zeigen könne, verneinte der Geist. Doch fügte er hinzu, er wolle ihm einen Geist in menschlicher Gesstalt zum Dienst überweisen, wenn er sich verpflichte, dasjenige zu halten und zu leisten, was er ihm vorlegen werde.
Faust, welcher dem Vorschlage sich geneigt erklärte, wurde nunmehr angewiesen, mit der Feder niederzuschreiben das er wolle: – 1. Gott und allen himmlischen Herrn absagen,
– 2. aller Menschen Feind sein, besonders derer, welche ihn wegen seines bösen Lebens tadeln würden,
– 3. geistlichen Personen den Gehorsam verweigern,
– 4. Kirche, Predigt und Sakrament meiden,
– 5. die Ehe hassen.
Sodann wurde ihm eröffnet, daß er ein großer Mann sein sein solle und teilhaftig der herrlichsten Genüsse, wenn er durch einen mit seinem eigenen Blut geschriebenen Schuldbrief diese Artikel bestätigen würde.
Nach einem schweren inneren Kampfe willigte Faust ein und schrieb mit seinem einer Ader seiner linken Hand entnommenen Blut den Schuldbrief.

Bald darauf klopfte es an die Tür.
Beim Öffnen sah Faust sich gegenüber eine lange in ein Mönchsgewand gekleidete Person mit grauem Bart, welche sich vor ihm verneigte. Befragt nach ihrem Begehr antwortete sie, daß sie bisher dem Obersten der Geister untertan gewesen sei, nun aber als vertrauter Geist (spiritus familiaris) ihm getreulich dienen wolle. Mephistopheles, so war der Name des Dieners, erhielt nun von seinem neuen Herrn Befehle, welche er sofort ausführte.
Zunächst brachte er dessen Vermögensumstände in Ordnung. Stuben, Kammern und Keller stattete er mit Hausrat und Vorräten aus.
In den prächtig hergerichteten Sälen grüßten den Eintretenden die schönsten Vogelstimmen, während Sumpfvögel im Vorhof des anstoßenden Zaubergartens lustwandelten, welcher mit Blumen und Bäumen bestanden war, die nur in südlichen Zonen zu gedeihen pflegen.
An der Einfahrt lag des Doktors großer Zauberhund, der feuerrote Augen und zottiges schwarzes Haar hatte und seltsame Sprünge vollführte. Mit seiner Hilfe führte Faust seine Zaubereien aus.
So unternahm er mit Wittenberger Studenten eine Lustfahrt nach Leipzig, wo er rittlings auf einem Weinfaß reitend dieses aus Auerbachs Keller herausbrachte, ebenso eine solche nach Salzburg, wo er aus den Kellerräumen des Bischofs den Kellermeister entführte und auf dem Wipfel einer hohen Tanne niedersetzte.

Ein lustiges Stücklein führte Faust mit drei zu Wittenberg studierenden Grafen aus, welche gern der Hochzeit des bayerischen Kurfürsten beigewohnt hätten.
Auf den Vorschlag des einen luden sie den Schwarzkünstler zum Bankett und trugen ihn ihr Anliegen vor.
Der Doktor versprach, ihnen behilflich zu sein, wenn sie während der ganzen Fahrt gar nichts redeten; auch nach ihrer Ankunft im fürstlichen Palast sollten sie auf jede Anrede kein Wort erwidern. Das versprachen sie und hielten sich zur festgesetzten Stunde bereit.
Da entfaltete Faust im Garten seines Hauses seinen weiten Nachtmantel, auf den sich dann die Grafen setzen mußten.
Sofort erhob sich ein Wind, der sie sacht noch vor Morgengrauen gen München trug bis zur Schwelle des Palastes.
Dort empfing sie der Hofmarschall und geleitete sie in den oberen Saal. Sowohl ihm als dem sie begleitenden Hofjunker fiel es auf, daß sie alle Fragen nur durch Verbeugungen erwiderten.
Nach der Trauung nahte die Stunde zur Tafel.
Als bei der vorher stattfindenden Darreichung des Handwassers der eine der drei Fremden dem Diener seinen Dank aussprach, mußte er, während die bei den anderen, sich an Fausts Mantel haltend, davonfuhren, zur Strafe zurückbleiben.
Natürlich machte die Sache Aufsehen, und der Zurückgebliebene wurde in Haft geführt.
Noch ehe aber der kommende Tag anbrach, stand Faust vor seiner Zelle, schläferte die Wächter ein, sprengte Tür und Riegel und führte den sanft Schlafenden wieder unversehrt in seinem Zaubermantel zu seinen Vettern gen Wittenberg, worauf er von ihnen reich beschenkt wurde.

Sehr anschaulich berichtete die Sage auch über das schreckliche Ende des Dr. Faust:
Als die 24jährige Frist ab lief, nach welcher Faust Eigentum des Teufels werden mußte, versammelte er in Wittenberg eine Anzahl von Studenten um sich. Mit diesen ging er nach dem Dorfe Kimlich. Nachdem sie hier gespeist hatten, führte sie Faust in ein Nebenzimmer. Dort wurde er ernster und ernster und schwieg, lange Zeit vor sich hinstarrend.
Dann preßte er die Hände zusammen, seufzte und stöhnte.
Endlich hob er an und erzählte das schauerliche Geheimnis seines Lebens, wie er Gott verloren, mit dessen Feind sich verbündet habe und nun der Verdammnis anheim gefallen sei. Betrübten Herzens nahmen seine Gäste von ihm Abschied, übernachteten aber im Gasthaus.
Um Mitternacht begann eine ungestümer Wind das Haus zu umtosen. Aus dem Zimmer, in welchem Faust sich befand, hörte man ein grausiges Zischen und Pfeifen, als von Schlangen herrührend, sodann ein Gepolter, ein Ringen, Stoßen und Herumwerfen, dazwischen das Angstgeschrei des unglücklichen Mannes.
Dann wurde alles still.
Am anderen Morgen fand man Fausts Leichnam verstümmelt auf dem Hofraum, das Zimmer aber mit einzelnen abgerissenen Gliedern bedeckt.
In aller Stille fand die Beerdigung statt, wobei wiederum ein heftiger Sturmwind losbrach.
Ein Dorf namens Kimlich gibt es bekanntlich in der Umgebung von Wittenberg nicht, und auch unter den vielerlei wüsten Marken ist der Name nicht anzutreffen.
Von einigen Faustbüchern wird Pratau als dieser Ort angenommen und zwar der dortige alte Gasthof „Zum Freischütz.“
Diese Annahme beruht nach Kirchners Faustbuch von 1746 (De Fausto praestigiatore S. 28) auf folgendem:

Im 30jährigen Kriege teilte der Ortsrichter in Pratau den einrückenden Soldaten mit, daß sein Haus durch Fausts schrecklichen Tod berüchtigt sei.
Zum Beweise zeigte er ihnen Blutflecke an der Wand, die der Schlaue aber vorher mit Rinderblut hergestellt hatte.
Durch seine Erzählung und durch diesen Hinweis erreichte er seine Absicht, die unwillkommene Einquartierung zur schnellen Flucht zu veranlassen.

Seit mehr als 200 Jahren hat die Faustsage das lebhafte Interesse der Dichter und Forscher gefunden, und namentlich die Goethe-Philologen haben soviel Beiträge zu dieser herbeigebracht, daß es heute beinahe eine Lebensarbeit bedeutet, sich mit der ganzen Faustliteratur vertraut zu machen. Gleichzeitig erkennt man daraus, wie unser Volk sich von jeher infolge seines „faustischen Zuges“ zu der Gestalt dieses Grüblers und Forschers hingezogen fühlt.
Und wenn Wittenberg und Umgegend zum Schauplatz der Faustsage wurde, so liegt darin ein weiterer Beweis für die geschichtliche Bedeutung der Lutherstadt.

Richard Erfurth †

aus: Unser Heimatland vom 21.03.1936

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