1936.04.01. Wittenberger Zeitung
„Eine sehr traurige Lage“ – Sehenswürdigkeiten – Der „Wohltätigkeitssinn“ – der Bewohner – „Keine Spur von Handel“ – Gasthöfen und Vergnügungsorten
In das alte Wittenberg vor 100 Jahren führt uns eine Art Reiseführer des Berliner Professors D. Stein aus dem Jahre 1828
(Leipzig J. C. Hinrichsche Buchhandlung)
„Wittenberg (6800 Einwohner) hat eine sehr traurige Lage und wird nur durch die vorbeiströmenbe Elbe, über die eine hölzerne, 500 Ellen lange und 11.5 Ellen breite Brücke führt, etwas lebhafter. Seit den Verheerungen im siebenjährigen Kriege konnte sich die Stadt nicht erholen; aber von den 602 Häusern (320 in der Stadt und 282 in den Vorstädten), welche die Stadt 1812 hatte, wurden abermals, außer 108 Seitengebäuden, Ställen und Schuppen, vom 1. März 1813 bis zum 12. Januar 1814 285 Häuser (26 in der Stadt und 259 in den Vorstädten) durch Feuer und Niederreißen vernichtet. Der preußische General Tauentzien führte bis an seinen 1824 erfolgten Tod von dieser Stadt den Namen Graf von Wittenberg. Von den neuen Vorstädten liegt die eine, Neu-Wittenberg, auf dem linken Elbufer, und die andere, Friedrichsstadt, 1800 Schritte von der Stadt, da die neu befestigte Stadt diese große Entfernung nothwendig macht.
Diese alte schon um 1180 erbaute Stadt ist zwar weder regelmäßig noch schön, besitzt aber doch manches Sehenswürdige. Die ehrwürdige, an 500 Jahre stehende Haupt- und Stadtkirche U. L. F. ist ein Muster kirchlicher Bauart und hat ein wohlerhaltenes Altargemälde von Lucas Cranach, jene Kanzel, von der Luther sein neues Wort mit begeistertem Munde sprach, und ein bronzenes Taufbecken. Die schöne Schloßkirche verlor zwar bei der Belagerung 1814 die schönste äußerliche Zierde in ihrem Thurm, bewahrt aber in ihrem Innern die Gräber Luthers und Melanchthons und ihrer hochherzigen Beschützer, der Kurfürsten Friedrich des Weisen und Johann des Beständigen. An ihr schlug Luther am 31. Oktober 1517 seine berühmten 95 Sätze an. Auf dem schönen Marktplatze stehen das mit manchem Denkmal der Vorzeit, z.B. Cranachs Bilde von den 10 Geboten, geschmückte Rathhaus und das wohlgetroffene, in Bronze gearbeitete Standbild Luthers.
Es besteht aus einem unweit Chorin bei Freienwalde gegrabenen, 1200 Zentner(60 Tonnen)schweren Granitblocke von seltener Schönheit. Das Piedestal ist 7 Fuß 6 Zoll hoch und hat im Durchschnitt 8 Fuß 3 Zoll: die Bildsäule von Bronze wiegt 75, und der Baldachin mit den Buchstaben 90 Zentner.
In wissenschaftlicher Hinsicht sind das Predikerseminar für 25 Zöglinge in dem Augusteum, einem ehenaligen Universitätsgebäude, wo man auch Luthers Stube sieht, und das Lyceum (mit 100 Zöglingen) zu nennen. Auch hat man eine Buchhandlung, zwei Leihbibliotheken, Buch- und Steindruckereien etc. Die sonst hier befindlichen, 1502 vom Kurfürsten dem Weisen von Sachsen gestiftete Universität stellte bekanntlich ihre Vorlesungen schon vor der Belagerung 1813 ein und wurde größtentheils nach der benachbarten, artig gebauten Stadt Schmiedeberg verlegt; aber die Stadt verlor gänzlich diese wichtige Nahrungsquelle 1817, als die Universität mit der hallischen unter dem Namen der vereinten Universität Halle und Wittenberg verbunden wurde. Doch wird ihr Vermögen unter dem Namen der Wittenberger Stiftung nach besonderen Bestimmungen verwaltet. Neuerlich hat man eine Sonntagschule für Lehrlinge und Gesellen, ein Krankenhaus mit einer Arbeitsanstalt, eine Sparkasse etc. gegründet, und so noch fortdauernd die schönsten Beweise gegeben, daß der Wohlthätigkeitssinn der Bewohner trotz der großen Nahrungslosigkeit nicht erloschen ist. Die Stadt hat etwas Wollweberei, Gerberei und Färberei. Ungeachtet die schiffbare Elbe nahe vor der Stadt vorbeifließt, so ist doch keine Spur von Handel darinnen.
Gasthöfe sind: Bär, Weintraube, Adler, Löwe, Wolf, Stern, Palmbaum. – Vergnügungsorte: die rothe Mark, der wedersche Garten, das Elbhaus, der Luthersbrunnen, eine Stunde von der Stadt, wohin Luther fast täglich ging, jetzt eine Rathsförsterwohnung und zugleich ein lieblicher Sommerbelustigungsort der Schieß- und Tanzlustigen. Vor dem Elsterthore steht auf der Stelle, wo Luther die päpstliche Bulle und das kanonische Recht verbrannte, die Lutherseiche.“
Es ist immer interessant zu lesen, was Beobachter vor langen Jahren über Wittenberg zu berichten wußten. Besonders lehrreich aber sind die fehlerhaften Angaben, die beweisen, daß man solche alten Darstellungen doch stets mit einer gewissen Vorsicht benutzen muß. So ist nämlich die Angabe, daß Neu-Wittenberg, womit Kleinwittenberg gemeint ist, auf dem linken Elbufer läge, ein völliger Irrtum. – General Tauentzien hat nie den Namen ,,Graf von Wittenberg“ geführt, sondern Graf Tauentzien von Wittenberg“ – In Widerspruch zu der bisherigen Tradition steht auch die Angabe, daß 1828 bereits eine Luthereiche vorhanden gewesen sein soll. Die jetzige ist vielmehr erst 1830 am Tage der Augsburgischen Konfession gepflanzt oder vielmehr 1831, wo eine neue nachgepflanzt werden mußte, da die ein Jahr zuvor gepflanzte eingegangen war. Die alte Eiche aber, die vorher dort stand, war in der Franzosenzeit angeblich den Verteidigungsnotwendigkeiten zum Opfer gefallen. Der unter den Gasthöfen aufgezählte Löwe entsprach dem heutigen Capitol; früher Kasino, früher Stadt London, noch früher Löwe. – Hinter die Behauptung, daß Luther fast täglich nach dem Luthersbrunnen gegangen sei, ist noch ein Fragezeichen zu setzen.
Dr. med. Gottfried Krüger †