Großvater Schering saß nach Feierabend auf der Bank
vor dem Hoftor, durch welches soeben der letzte
vollbeladene Erntewagen eingefahren war. Um ihn drängten
sich seine Enkel. Seinen Liebling, die blondköpfige dreijährige
Marie, hatte er auf den Schoß genommen, an sein linkes Knie schmiegte sich die achtjährige Martha, während an seiner
rechten Seite der zwölf Jahre alte ernst und verständig
blickende Heinrich Platz genommen hatte.
„Großvater,“ sprach dieser, „unser Lehrer sagte kürzlich in
der Geschichtsstunde, daß unsere Vorfahren nicht immer
hier gewohnt hätten, sondern aus einem fernen Lande hierher eingewandert seien. Bitte, erzähle uns doch, was du davon weißt.
Du kannst doch immer so schön erzählen.“
Der rüstige Greis lächelte und strich mit seiner Rechten über
den braunen Scheitel des Knaben.
„Nun gut,“ antwortete er, weil du so gut in der Schule aufgemerkt hast, will ich dir erzählen, was mir meine Großmutter darüber berichtet hat.
Der Herr Lehrer hat schon recht; unsere Vorväter haben nicht immer hier in dieser Gegend gewohnt. Vor ihnen lebten hier
ganz andere Leute, die Sorben hießen und zu der großen Völkerfamilie der Wenden gehörten. Sie hatten eine kurze,
gedrungene Gestalt, dunkle Haut und ein breites Gesicht mit
grauen oder dunkelbraunen Augen, platter Nase und breitem Munde. Unter ihnen gab es keine Braun und Blondköpfe wie ihr
es seid, sondern ihr Haupt bedeckte schwarzes Haar.
Ihre Dörfer errichteten sie in den Niederungen, an den Flüssen.
Sie hatten die Form eines Hufeisens mit nur einem einzigen
Zugang, der leicht verteidigt werden konnte.
Die Häuser waren aus Holz gebaut; die der Vornehmen und
der Tempel wurden mit bunten Farben bemalt.
Im Bestellen des Ackers waren sie gegen uns weit zurück,
sie hatten nicht Lust, mit der Zeit fortzuschreiten.
Ihr Ackergerät war der hölzerne Hakenpflug, der von Kühen
oder auch von Menschen gezogen wurde. Damit konnten sie
freilich den Boden nicht tief pflügen, sondern ihn nur aufreißen
und lockern. Deshalb war auch der Ertrag nur gering, genügte
aber ihren bescheidenen Bedürfnissen.
Sie wurden durch unsere Vorväter aus unserer deutschen Heimat,
in die sie zur Zeit der Völkerwanderung eingedrungen waren,
im zwölften Jahrhundert wieder verdrängt.
Die neuen Kolonisten wohnten bis dahin an der Küste der Nordsee in Holland, besonders in der Provinz Flamland, nach der sie Flamländer oder Fläminger genannt wurden.
Da kam einmal eine große Sturmflut, die sich weit hinein ins Land wälzte, die Häuser zerstörte, den Menschen Acker und Habe
raubte und sie in wenigen Tagen zu armen Leuten machte.
Sie hätten ja weiter ins Land hineingehen können, aber dieses
war schon dicht bevölkert und hatte für neue Ansiedler keinen Raum mehr. Wanderten sie aber in die benachbarten Gebiete,
so verloren sie als Fremdlinge ihre Freiheit, die unseren Vätern
über alles ging, und wurden Sklaven des Landesherrn.
Deshalb wollten sie lieber das Land verlassen.
Von ihrem Unglück hörten die deutschen Fürsten, darunter
Kaiser Friedrich Barbarossa, Herzog Heinrich der Löwe,
Markgraf Albrecht der Bär und der Erzbischof Wichmann
von Magdeburg. Diese wollten die kräftigen deutschen Männer
und Frauen aus den Niederlanden gern als Ansiedler in den von ihnen eroberten Wendenländern haben. Deshalb ließen sie ihnen verkündigen, daß sie bei ihnen Wohnung und freien Besitz haben sollten. Mit Freuden und in großen Scharen folgten unsere Vorväter diesem Rufe. Voll Dank gegen diese edlen Fürsten sangen sie später:
Hinrik der Leuw und Albrecht der Bar,
Dartho Frederik mit dem roten Har,
Dat waren dree Heeren,
De kunnden de Welt verkehren.
„Ihr könnt euch denken,“ fuhr der Großvater fort, daß die Verwandten, Bekannten und Freunde zusammenblieben.
Die Fürsten hatten große Freude über die großen und starken „Fläminger“, und es dauerte nicht lange, so bezeichnete man alle großen und kräftigen Menschen allgemein als „flämische Kerls“.
Der Höhenzug, der den Norden unserer Provinz Sachsen und den Süden der Mark Brandenburg durchzieht, heißt nach unseren Vorvätern noch heute „Fläming“.
Jedem Führer der Ansiedler wurde die Gründung eines Dorfes übertragen. Er bekam eine Menge Land zugemessen, meist von
30 bis 60 Hufen. Eine solche Hufe umfaßte etwa 30 Morgen.
Von diesem Feldmaß ist die Bezeichnung „Hüfner“ für die
größeren Bauern abgeleitet, während die mit geringerem Besitz „Kossäten“ (d.i. Kotsassen – Einwohner der Katen) genannt wurden. Der Führer der Ansiedler wurde Erbschulze des Dorfes und bekam seine Hufe als abgabenfreies erbliches Lehen.
Die Kolonisten kamen nicht mit leeren Händen;
neben Fleiß, wirtschaftlicher Tüchtigkeit brachten sie
auch einigen Besitz mit. Auch waren sie mit zweckmäßigen Gerätschaften für die Bearbeitung des Bodens ausgerüstet,
vor allem mit dem eisenbeschlagenen Räderpflug, der dem wendischen Hakenpflug weit überlegen war.
Viele der Eingewanderten siedelten sich in anderen Gegenden unserer Provinz an und legten mit großer Geschicklichkeit hier weite Sumpfgebiete trocken, die sie in fruchtbares Ackerland umwandelten, so die Elsterniederung um Herzberg, die Wische
bei Werben, das Unstrut- und Helmeried. Unter ihrer fleißigen
Hand entstanden hier die Ried – Ortschaften
Langenrieth, Martinsrieth, Lorenz-, Nikolaus-, Katharinen- und Kalbrieth. Die „Goldene Aue“ zeigt, was Fleiß und Ausdauer vermögen. Mit gleichem Fleiß regelten die tätigen Vorfahren
die Flußläufe der Elbe, Mulde, Havel und Spree durch
zahlreiche Deichbauten.
Wie sehr sie an der alten Heimat hingen, das zeigen die Namen
der neugegründeten Ortschaften. So erinnert Kemberg an Kemerich, Niemegk an Niemwegen, Dornau an Doornik,
Mücheln an Mecheln, Gräfenhainichen an ’s Graven-Haag.
In verschiedenen Ortschaften des Kreises Wittenberg waren
die „flandrischen Hufen“ lange Zeit als Feldmaß in Gebrauch.
Die von mir genannten Ried – Dörjer galten den Umwohnenden
als „flämische Kolonie“. Hier wurde nach „flämischem Recht“
Gericht gehalten, und noch im Jahre 1850 wurde „flämischen Acker“ daselbst „verkirchganget“, d.h. der Rechtshandel wurde in den Augen der Beteiligten erst rechtskräftig, wenn sämtliche Besitzer von solchem Acker einen gemeinsamen Kirchgang gehalten hatten, an den sich ein gemeinsames Mahl schloß.
In Bitterfeld bestand bis zum Jahre 1873 die „Fläminger Sozietät“, die 45 Hufen umfaßte, von denen 30 verteilt wurden und 15 zur gemeinschaftlichen Benutzung verblieben. Mitglied dieser
Sozietät war, wer mindestens eine halbe „flämische Hufe“ besaß.
„So seht ihr, liebe Kinder, wie unsere Vorväter hier zu Haus und Hof gekommen sind. Und diesen von unseren Vätern erworbenen Besitz wollen wir allezeit hoch und heilig halten. Das haben wir bis jetzt getan, und ich hoffe, ihr, meine lieben Buben und Mädchen, werdet es in Zukunft auch tun.“
Heinrichs Augen hatten während der Erzählung unverwandt an
den Lippen des Großvaters gehangen. Jetzt brach ein stilles Leuchten daraus hervor. Er reichte dem Alten die Hand und
sprach mit fester Stimme:
„Ja, lieber Großvater, das wollen wir tun.“
Richard Erfurth †
aus: Glaube und Heimat 1934