In einem Dorfe der Elbaue saß ein alter Landmann am Abend eines heißen Erntetages auf der Bank vor seinem Hause. Um ihn spielten seine Enkel, frische Buben und Mädchen. Des Alten Liebling, ein blondköpfiger Junge, kletterte auf seinen Schoß und bat schmeichelnd:
„Lieber Großvater, erzähle uns doch wieder etwas von deinem Vater und Großvater.“
Da streichelte der Greis liebkosend den blonden Scheitel des Jungen und sagte:
„So hört denn zu, ich will euch erzählen, was mir meine Großmutter immer gesagt hat.“
Gleich ließen auch die anderen Kinder das Spiel, drängten sich an des Großvaters Knie, und dieser begann:
„Unsere Vorväter haben nicht immer hier an der Elbe gewohnt. Vor ihnen wohnten hier andere Leute, die Wenden hießen. Sie waren von kurzem, gedrungenen Körperbau mit schwarzem Haupthaar und breitem Gesicht. Ihre Wohnungen stellten sie meist in das Sumpfgebiet des Stromes und bauten ihr Dorf in Form eines Hufeisens um den Teich herum. In der Mitte des Dorfplatzes befand sich der hölzerne buntbemalte Tempel, in welchem sie ihre Götter verehrten. Seitwärts davon stand die Schenke, Kretscham genannt und die Dorfschmiede. An die hölzernen Häuser schlossen sich unmittelbar die Gärten an, welche sich keilförmig erweiterten und von Hecken und Gräben als Schutz umgeben waren. Rings um den Ort zog sich die in unregelmäßige Blöcke eingeteilte Feldflur.
In der Bestellung des Ackers waren sie freilich gegen heute weit zurück. Ihr Hauptackergerät war der lange hölzerne Hakenpflug, der freilich den Boden nicht tief pflügen konnte.“
„Unsere Vorväter wohnten an den Küsten der Nordsee, in Holland und zwar in der Provinz Flamland. Dort brachen wiederholt die Sturmfluten ein und raubten ihnen Haus und Hof, Grund und Boden und machten die Bewohner zu armen Leuten. Wohin sollten sich die Unglücklichen nun wenden? Das umliegende Land war schon dicht bevölkert und hatte keinen Platz für neue Ansiedler. Wanderten sie aber in die Nachbarreiche, so wurden sie nach den rauhen Gesetzen jener Zeit Sklaven des Landesheren und verloren ihre letzte gerettete Habe und ihr kostbarstes Gut, die Freiheit. Mit großer Freude folgten sie daher dem Rufe, den deutsche Fürsten wie Friedrich Barbarossa, Albrecht der Bär, Heinrich der Löwe und der Erzbischof Wichmann von Magdeburg an sie ergehen ließ, die ihnen Wohnung und freien Besitz in dem eroberten Wendenlande anboten. Ihr könnt euch denken,“
fuhr der Großvater fort,
„daß die Verwandten und Bekannten zusammenblieben. Die großen, kräftigen Gestalten der „Fläminger“, wie diese nach ihrer Heimatprovinz Flamland genannt wurden, stachen vorteilhaft von den Wenden ab. Bald pflegte man allgemein große und starte Leute als „flämische Kerls“ zu bezeichnen. Der Höhenzug dort drüben, der unseren Kreis im Norden begrenzt und durch einen großen Teil unserer Provinz und der Mark Brandenburg zieht, heißt noch heute nach diesen Ansiedlern der „Fläming„.
„Einem von ihren Führern wurde die Gründung des Dorfes übertragen. Er bekam eine Menge Land zugemessen, die Hufe zu 30 Morgen. Zwei bis drei Hufen wurden dem Unternehmer als Entschädigung überlassen, zwei wurden für die Kirche zurückgestellt, alle übrigen wurden unter die Ansiedler verteilt. Diese bauten sich nun an und errichteten schmucke Häuser aus Backsteinen. So entstand anch unser Dorf. Der Unternehmer wurde der Dorfschulze oder Gemeindevorsteher, der auch den Namen „Freibauer“ bekam, weil er als Belohnung für seine Mühewaltung von den Abgaben befreit blieb, welche die übrigen Ansiedler dem Landesherrn zahlen mußten.“
„So waren unsere Väter zu Haus und Hof gekommen. Sie fanden hier eine neue Heimat, in welcher sie als freie Männer auf der eigenen Scholle saßen.“
„Viele Ihrer Landsleute waren weitergezogen und hatten sich in anderen Gegenden unserer Provinz angesiedelt. Mit dem Geschick, das sie sich in der alten Heimat erworben hatten, legten sie sumpfige Gebiete trocken und gewannen sie für den Ackerbau, so die Elsterniederung bei Herzberg, die Unstrut- und Helme – Niederung oder „Goldene Aue“, die Wische bei Werben u.a. Hier zeigt es sich, was Fleiß und Ausdauer vermögen, wenn sie sich mit Können und rechter Klugheit verbinden.“
„Mit welcher Liebe sich die Ansiedler der verlassenen alten Heimat erinnerten, das zeigt sich in den Namen, welche sie den neugegründeten Ortschaften gaben.
So erinnert Kemberg an Kemerich,
Dorna an Doornik,
Gräfenhainischen an ’s Graven-Haag,
Niemegt an Nymwegen.“
„Auch nach der Einwanderung der niederdeutschen Ansiedler blieben noch zahlreiche Wenden im Lande wohnen, mit denen sich unsere Vorväter schiedlich-friedlich vertrugen. Sie nahmen von ihnen auch manche Eigentümlichkeiten, namentlich in der Sprache an, die sich bis heute erhalten haben. So ruft ihr heute noch die Ente „Biele“ und die Kuh „Mutsche“. Ihr verzehrt mit Wohlgefallen jeden „Krietschel“ Obst, der frühzeitig vom Baume fällt. Daß man einen schlechten Menschen „Halunke“ nennt, daß es einem bei rauher Witterung auf der „Plauze“, d.h. auf der Lunge liegt, und daß manches „futsch“ geht, wißt ihr alle. Aber daß der „Quark“, den ihr so gern eßt, seinen Namen von den Wenden erhalten hat, wird euch gewiß wundern. Daneben aber finden sich in unserer Sprache auch noch Reste aus der Mundart jener niederländischen Ansiedler.
So sagt ihr boll für hohl, lee für niedrig, drehe statt trocken. Den Frosch nennt ihr wohl Pogge, die Kröte Patte. Auch die Einteilung unserer Dorfbewohnen in Hüfner, Kossäten und Häusler rührt von den Flamländern her. So habt ihr gesehen, liebe Kinder“
schloß der Greis
„wie unsere Väter hier zu Haus und Hof gekommen sind.
Dieses von unseren Vätern uns erworbenen und vererbtem Besitz wollen wir allezeit hoch und heilig halten. Das haben wir bisher getan, und ich hoffe ihr werdet es in Zukunft ebenso tun.“
Richard Erfurth †
aus: O du Heimatflur vom 04.07.1924
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siehe auch:
aus: Glaube und Heimat 1934