Wer gegenwärtig das Gelände zwischen Wittenberg, Pratau, Dabrun bis Wartenburg hin betrachtet, kann sich nur schwer eine Vorstellung von dessen früherem Zustand machen.
Die Stelle, an der heute das Dorf Pratau liegt, war bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts noch ohne Siedlung. Es gab noch keinen Damm, der die Fluren vor den Fluten des Elbstroms schützte. Das Dorf Pratau lag an einer anderen Stelle als heute, und zwar rechts des jetzigen Probsteihauses auf der runden mit Obstbäumen bestandenen Erhöhung, die auch in unseren Tagen vom Hochwasser frei zu bleiben pflegt, sofern dieses nicht eine außergewöhnliche Höhe erreicht. Als vor etwa 60 Jahren der Pächter Erdmann – Braunsdorf – an diesem Orte, der noch heute im Volksmunde die Bezeichnung „das alte Dorf“ führt, Pflanzlöcher für Obstbäume aushob, stieß er auf zahlreiche Mauerreste. Damit wird die Annahme gerechtfertigt, daß hier das ursprüngliche Pratau zu suchen ist, das damals den Namen Broda führte. Der heutige Name des Dorfes wird von den Bewohnern der Elbaue noch immer als Brode (mit dumpfem breitem „o„) gesprochen.
Das Wort stammt aus dem Sorbischen und bedeutet so viel als „Ueberfahrt“. Daraus ergibt sich, daß der Ort an der Elbe gelegen hat, und in der vom Kurfürsten Wenzeslaus im Jahre 1380 erlassenen Fährordnung wird unter den Uebersfahrtsorten auch Broda genannt.
Dieses wendische (sorbische) Broda wurde jedenfalls viel früher als Wittenberg, vielleicht schon im 7. Jahrhundert mit der Einwanderung der Sorben gegründet, da sich hier eine wichtige Uebergangsstelle über die Elbe (von Alf = Fluß) befand. Ursprünglich mag es zunächst nur ein Fährhaus gewesen sein, in welchem einsam der Fährmann mit Weib und Kind hauste, an das sich dann der Ort anschloß. Es ist jedenfalls bezeichnend, daß der Name des Ortes sich auch bei den den Sorben verwandten Czechen in Böhmen als böhmisch Brod und deutsch Brod findet. Aus der Bedeutung des Namens als „Ueberfahrt“ läßt sich schließen, daß der Ort unmöglich an der Stelle des heutigen Pratau, also fast zwei Kilometer von der Elbe entfernt, liegen konnte, sondern dicht an deren Ufer, eben auf jenem Platze, der als das „alte Dorf“ bezeichnet wird. Daraus folgt nun wieder, daß der Elblauf damals eine andere Richtung hatte als heute. Aus vorhandenen Bodenmerkmalen und aus geschichtlichen Nachrichten läßt sich für diesen eine Linie annehmen, die durch folgende Gewässer als Ueberreste des ehemaligen Elblaufs bezeichnet wird:
– „Alte Elbe“ beim Fleischerwerder,
– Bonser See,
– Sandekolk bei der Schleuse gegenüber der Probstei,
– Große Lache,
– Försterteich bei Pratau,
– dann das Gewässer zwischen der ersten Laufbrücke bei Pratau
und der Eisenbahn,
– die Streitlache jenseits der Eisenbahn,
– die Seen in der Nähe vom Durchstich und an der Straße.
Am rechten Ufer dieses so bezeichneten Elblaufs muß also das alte Broda gelegen haben, von den Sorbenwenden gegründet und von wendisch sprechenden Ansiedlern bewohnt, die hier ihre Lebensbedingungen, Fischerei und Jagd, vorfanden.
Als die Sachsenkaiser Heinrich I. (919 bis 936) und Otto I. (936 bis 973) von ihrem Herzogtum Sachsen aus mit wachsendem Erfolg ins Wendenland vordrangen und letzterer die Bistümer Magdeburg, Merseburg und Brandenburg als Stützpunkte des Christentums gründete, mag auch in Broda dieses seinen Einzug gehalten haben. Bald mag auch der um 973 zum ersten Male urkundlich genannte Ort eine Kirche erhalten haben und hier bei der Wichtigkeit der Lage als Geistlicher ein Propst eingesetzt worden sein, dem die Kirchen der benachbarten Orte unterstanden. Zu seinen Einkünften gehörte die Nutzung des benachbarten Waldes, der danach die Bezeichnung Probstei noch heute trägt. Der Probsteiwald lag damals ebenso wie das Dorf Broda und der Fleischerwerder auf dem rechten Ufer der Elbe. Da die Höhenlage des Ortes nicht sehr bedeutend war, so ist dieser wohl schon in alten Zeiten bei dem Mangel schützender Dämme öfter vom Hochwasser der Elbe überflutet worden.
Zwischen dem Probsteiwalde und dem „alten Dorf“ befindet sich der Flutgraben und das sogenannte „Schwarze Wasser“. Der Sage nach sollen in dieses Gewässer die Glocken des alten Broda versenkt worden sein, von denen die Alten erzählen, daß sie zu gewissen Zeiten erklingen. Unsere Zeit ist aber wahrscheinlich zu nüchtern, um ihren Klang zu vernehmen. Die bezeichnete ziemlich breite und langgestreckte Niederung läßt auf einen Elbarm schließen, der das Dorf umschloß, und der dann auch für die Veränderung des Elblaufs in der Richtung nach Wittenberg hin, so wie er sich heute im allgemeinen darstellt, bestimmend wurde. Durch das südwestliche Ende des Probsteiwaldes zieht sich außerdem in der Richtung auf das „Schwarze Wasser“ zu eine andere langgestreckte Bodenvertiefung, die sogenannte „Saulache“, die sich noch gegenwärtig bei Hochwasser zuerst mit Wasser füllt.
Unter den schwächlichen Nachfolgern Kaiser Ottos I. kamen die im Wendenlande errungenen Fortschritte des Deutschtums in Gefahr, wieder verloren zu werden.
Während Otto II. (973 bis 983) in Italien in Kämpfe verwickelt war, erhoben sich die Wendenstämme unter dem Obotriten Mistiogus und fielen in die Stifte Brandenburg und Halberstadt ein, töteten deren Bischöfe und verwüsteten die ganze Gegend in fürchterlicher Weise. In dieser Not verband sich der Erzbischof Giseler von Magdeburg mit dem benachbarten Bischöfen und Grafen, und in einer blutigen Schlacht, der 3000 Wenden zum Opfer fielen, besiegte er die Feinde, eroberte Brandenburg zurück und demütigte die Wendenstämme derart, daß sie auf lange Zeit keine neue Erhebung wagten.
Im Jahre 1115 aber, während die Reichsgewalt sich in nutzlosen Fehden mit den sächsischen und thüringischen Fürsten festlegte, stürmten die Wenden von neuem gegen das verhaßte vorgedrungene Deutschtum an. Sie drangen auch bis in die Länder Ottos des Reichen zwischen unterer Mulde und Saale vor.
Das ihnen aufgezwungene Christentum, das noch nicht feste Wurzeln geschlagen hatte, wurde abgeworfen, die Geistlichen vertrieben, oder gar getötet, und die Kirchen zerstört. Es ist wohl möglich, daß damals auch die Kirche des alten Dorfes Broda in Flammen aufging und ihre Glocken in das „Schwarze Wasser“ versenkt wurden, so daß die erwähnte Sage einen geschichtlichen Hintergrund hat.
Gilt doch davon Ernst Moritz Arndts Wort:
„An jeder Sage ist auch eine Sache,
und ihre Glaublichkeit verdient Glauben“.
Graf Otto von Ballenstedt stellte sich mit siebzig Rittern und ihren Reisigen den Eindringlingen entgegen und errang bei Köthen über sie einen glänzenden Sieg.
Die endgültige Verdrängung der Sorbenwenden aus der Wittenberger Gegend ist das Werk des Markgrafen Albrechts des Bären (1134 bis 1170) aus dem Hause Anhalt (Askanien).
In das von Bewohnern entblößte Gebiet rief er Ansiedler aus den Niederlanden, besonders aus der durch Sturmfluten der Nordsee schwer heimgesuchten Provinz Flamland. Die in der alten Heimat gewonnene Erfahrung und Geschicklichkeit im Eindämmen der Flüsse und Entwässern des Bodens kam ihnen besonders bei der Besiedlung der Elhaue zu Hilfe. Unter ihrem Fleiß wurde der von den Wenden vernachlässigte Boden in frucht bares Acker- und Gartenland verwandelt, entstanden zahlreiche neue Ortschaften wie Wittenberg, Schmiedeberg, Reinsdorf, Braunsdorf, Nudersdorf, Schönfeld überhaupt die meisten Orte mit den Endungen auf – berg, – dorf, – feld. Der Fläming ehrt noch jetzt in seinem Namen das Andenken dieser flämischen Ansiedler. Auch in der Sprache unserer Dorfgenossen finden sich noch Reste der flämischen Mundart.
So sagt man
– boll = hohl,
– drehe trocken,
– lee = niedrig,
– trecken = ziehen,
– Pogge = Frosch,
– Patte = Kröte.
Als unsere Soldaten im Weltkriege nach dem alten Flandern kamen, waren sie nicht wenig erstaunt, dort Klänge der heimischen Mundart zu vernehmen. Auch die Einteilung der Dorfbewohner in
– Hüfner (von dem Feldmark Hufe),
– Kossäten (d. i. Kotsassen von Kote oder Kate = Hütte) und
– Häusler rührt von den Flamländern her.
Es ist sehr wahrscheinlich, daß in jener Zeit von diesen auch Pratau neugegründet bzw. an seine heutige Stelle verlegt wurde, da es in seiner alten Lage fortgesetzt Ueberschwemmungen ausgesetzt war. Auf einer erhöhten Stelle wurde die neue Kirche erbaut.
Unter dem Sohne Albrechts des Bären Bernhard wurde 1195 diese Stiftung durch Papst Cölestin III. bestätigt. Jedenfalls entstand damals neben ihr das Rittergut, das heutige Berndtsche Gut, um das sich dann auf dem sogenannten Oberende, das bis zu dem jetzt abgetragenen und bebauten Mühlberge reichte, die übrigen Ansiedler niederließen. Die hier abgelagerten Sandmassen sind gleicherweise wie die in den westlich gelegenen Kienbergen als weitere Zeugen des ehemaligen Elblaufs zu werten, die hier angeschwemmt und vom Winde zu Dünen zusammengeweht wurden. Die Propstei verblieb aber dem neuen Pratau nicht lange. Bereits im Jahre 1201 wurde sie nach Kemberg verlegt, dessen erster Geistlicher noch heute den Titel Propst führt. Der Grund für die Verlegung ist vielleicht darin zu suchen, daß inzwischen (um 1170) Wittenberg gegründet und hier ein kirchlicher Mittelpunkt geschaffen wurde, so daß ein solcher für Pratau sich künftig erübrigte und notwendiger für das zentraler gelegene Kemberg erschien.
Mit der zunehmenden Besetzung unserer Gegend mit deutschen Ansiedlern setzte sich auch hier mehr und mehr die deutsche Sprache durch und verdrängte die wendische, deren Gebrauch vor Gericht wiederholt eingeschränkt und 1327 durch Herzog Rudolf I. im ganzen Herzogtum Sachsen verboten wurde.
Zusammenfassend läßt sich über die Gestaltung der Elbaue bei Wittenberg in früherer Zeit folgendes sagen:
Nach beglaubigten Nachrichten lag der Fleischerwerder ursprünglich nicht wie jetzt auf der linken, sondern auf der rechten Seite des Elbstroms. Ihren Namen hat die Waldung nach ihrem früheren Besitzer, der Fleischerinnung von Wittenberg, die diese später mit der Stadt Wittenberg gegen die sogenannten Fleischerwieser unterhalb der Elbbrüde vertauschte. Ein Elbarm mag den Wald nordwärts umzogen haben, daher die Bezeichnung „Werder“-Insel.
Ein gewaltiges Hochwasser im Jahre 1432, an welches noch heute die Steinkugel an der Rückseite des Lantzschen Grundstücks am Elbtor erinnert, schuf der Elbe ein neues Bett, verlegte den Fleischerwerder auf ihre linke Seite und trennte ihn von seinem bisherigen Nachbar, dem Bürgerlug.
Vor dieser Wasserkatastrophe muß also die Elbe nahe dem jetzigen Elbdamm bei Dabrun entlang geflossen sein, und die bereits bezeichnete Richtung genommen haben.
Der Verkehr über die Elbe bei Wittenberg geschah ursprünglich durch Handkähne, später durch die Fähre beim alten Broda. Bei Hochwasser und Eisgang aber mußte deren Betrieb eingestellt werden, und beide Ufer waren dann oft längere Zeit ohne Verbindung.
In der vom Kurfürsten Wenzeslaus 1380 erlassenen Fährordnung wurde den Wittenberger Bürgern,
„dieweil sie vil und dicke nützliche und treue Dienste getan haben und noch wohl tun mögen und sullen in künstige Zeiten“,
ein ermäßigtes Fährgeld zugebilligt, das für einen Wagen 2 Pfennige betrug, während Wagen aus anderen Orten 8 Pfennige zahlen mußten. Die erste hölzerne Elbbrücke ließ 1428 Kurfürst Friedrich der Sanftmütige bauen. Sie wurde aber bald durch einen Eisgang weggerissen. Die zweite festere Elbbrücke ließ Friedrich der Weise 1486 errichten. Ihre Baukosten betrugen 10 000 Gulden. Sie wurde im Dreißigjährigen Kriege 1637 durch die Schweden bis auf wenige Joche zerstört, und der Verkehr über den Fluß war 160 Jahre lang wieder auf die Fähre angewiesen. Die dritte Brücke, die gleichfalls aus Holz war, erbaute Kurfürst August von 1784 bis 1787 mit einem Kostenaufwand von 80 000 Reichstalern. Aber auch über ihr waltete kein günstiger Stern; bereits nach 54 Jahren wurde sie im Jahre 1841 durch einen starken Eisgang weggerissen. Hierauf ließ der preußische Staat von 1842 bis 1846 die heutige wiederholt erweiterte Steinerne Elbbrücke errichten, deren Baukosten sich auf 800 000 Mark beliefen.
Die Straße von Wittenberg nach Pratau lief schon frühzeitig auf einem hohen aufgeschütteten Damme entlang, da ja sonst bei Hochwasser ein Verkehr nach den jenseitigen Ortschaften unmöglich gewesen wäre. Neben der Landstraße läuft die alte Beistraße, die bei Pratau zwischen den beiden Teichen an der Försterei hindurch über den Elbdamm nach dem Dorfe führt. Bei Ausbesserungen der Laufbrücken mußte diese von den Fuhrwerken benutzt werden. Bei nasser Witterung vermochten sie in dem morastigen Boden freilich nur schwer vorwärts zu kommen und blieben nicht selten stecken, so daß sie mit Vorspann herausgezogen werden mußten.
Zum Schluß möge noch die Frage erörtert werden:
Wann ist der alte Name Broda bzw. Brode in Pratau umgeändert worden? Genaueres läßt sich darüber nicht sagen. Aber vielleicht geschah dies in der Zeit der Reformation, wo vieles latinisiert wurde. Bei der Lage des Dorfes lag die Bezeichnung mit dem lateinischen Wort pratum = Wiese den Gelehrten nahe, so daß die Uebersetzung des Namens Pratau als „Wiesendorf“ gegeben war. Der Volksmund hält freilich noch heute an der alten Bezeichnung fest, und während die Wittenberger nach Pratau wandern, gehen die Bewohner der Elbaue noch immer nach Brode.
Richard Erfurth †
aus: Unser Heimatland vom 25.01.1936