Welcher Zauber liegt doch in dem Worte Weihnachten – nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Erwachsenen, wenn sie auch sonst im Lebenskampfe und im Alltagsmühen abgestumpft sind!
Einen nicht geringen Anteil an dieser Zaubermacht haben die lieblichen Sitten und Gebräuche, welche sich im Laufe der Zeit an das Weihnachtsfest, der Königin aller Feste, angeschlossen haben. Und es tut der Lieblichkeit dieser Sitten und Gebräuche durchaus keinen Eintrag, daß sie zu einem guten Teile aus dem Heidentum unserer germanischen Vorfahren übernommen und im christlichen Geiste gedeutet wurden. Von den wichtigsten derselben, wie sie sich auch in unserer Heimat finden, soll im nachfolgenden die Rede sein.
Schon längere Zeit vor dem Weihnachtsfeste hält der Knecht Rupprecht, der in manchen Gegenden auch der Nickolaus genannt wird, seinen Umgang. Er hat meist die Gestalt eines alten bärtigen Mannes, der in einen Pelz gehüllt ist und auf dem Kopfe eine Pelzmütze trägt.
An artige, fleißige Kinder, die gut beten, verteilt er Äpfel, Nüsse und Pfefferkuchen, faule und unartige Kinder dagegen bestraft er mit der Rute, die an seiner Seite hängt.
In einigen Gegenden Norddeutschlands, z. B. im Hannoverschen, wird der Knecht Rupprecht durch den „Schimmelreiter“ ersetzt. Es ist ein Bursche, der an seiner Brust ein Sieb trägt, an welchem ein Pferdekopf befestigt ist. Das Ganze wird mit einem weißen Tuche überhangen, wodurch der Bursche das Aussehen eines Reiters erhält, der auf einem Schimmel sitzt.
Knecht Rupprecht, Sankt Nickolaus und der Schimmelreiter sind nichts anderes denn Abbildungen des germanischen Göttervaters Wodan, der nach dem Glauben unserer Vorfahren zur Zeit der Wintersonnenwende auf einem weißen Roß über die Erde reitet. Das geht auch aus dem Beinamen Wodans „rhudperat“ – der Ruhmglänzende – hervor, von dem jedenfalls der Name Rupprecht abgeleitet ist. Und in den Pfefferkuchenmännern und Reitern, die wir an den Weihnachtsbaum hängen, dürfen wir Abbilder des alten Gottes erblicken.
An manchen Orten erzählen sich die Kinder, daß der hl. Christ am Weihnachtsabend auf einem Schlitten kommt, welcher mit Geschenken reich beladen ist und von einem Schimmel gezogen wird. Damit nun der Schimmel solange ruhig steht, bis der hl. Christ sämtIiche Geschenke ins Haus getragen hat, legen sie ihm als Futter ein Bund Heu vor das Tor.
Nach Einführung des Christentums begnügte man sich bald nicht mehr damit, daß man sich die liebliche Erzählung von der Geburt des Christerkindes durch den Priester vorlesen oder vorerzählen ließ, sondern ging daran, diese Erzählung selbst darzustellen, und so entstanden die Weihnachtskrippen, wie wir sie noch heute in verschiedener Form und Ausstattung in den Häusern finden. Früher waren diese Krippen nicht selten mit großer Pracht ausgestattet. So ließ sich z.B. ein Bozener Bürger namens Moser eine solche für den Preis von 10 000 Gulden anfertigen. Eine besondere Art von Krippen verfertigt man im sächsischen Erzgebirge. Sie bestehen aus einer hölzernen mit buntem Papler überzogenen Pyramide, wie sie ja auch bei uns unter dem Namen „Drehbaum“ bekannt ist. Die Pyramide des Erzgebirges ist in vier Stockwerke eingeteilt.
Auf dem untersten Rundbrettchen befindet sich die bekannte Darstellung der Geburt Jesu mit zahlreichen Hirten und Schafen.
Im zweiten Stockwerk ist meist die Christenverfolgung dargestellt. Im dritten Stockwerk sieht man Figuren, welche Mönche, Bischöfe, Ritter, den Papst, Luther, usw. darstellen und das Mittelalter andeuten sollen, während im letzten Stockwerk Soldaten, Beamte, Handwerker usw. die Neuzeit versinnbildlichen.
Noch weiter als in den Krippen ging man mit der Darstellung der Weihnachtsgeschichte in den „Weihnachts- Spielen“, die namentlich im Mittelalter an vielen Orten aufgeführt wurden. Der Text dieser Weihnachtsspiele, der oft recht viel naive und gemütliche Zutaten zur biblischen Geschichte enthält, ist vielfach aufgezeichnet worden und uns so erhalten geblieben. So besitzen wir derartige Weihnachtsspiele aus Schlesien, Sachsen, Thüringen, den Rheinlanden usw.
Ein eigenartiger Brauch wird in meiner thüringischen Heimat am vierten Weihnachtstage, dem sogenannten „Kindeltage“ geübt, der dem Andenken der zu Bethlehem ermordeten unschuldigen Kinder gewidmet ist. An diesem Tage gehen die Kinder früh mit Tannenreisern von Haus zu Haus, um die Erwachsenen zu „klingeln“. Das Wort ist entstanden aus Verdrehung des Wortes „kindeln“.
Für dieses „kindeln“ müssen sich die mit den Tannenzweigen geschlagenen Erwachsenen durch kleine Geschenke, meist Näschereien, lösen.
In unserer Gegend besteht ja dieser Brauch ebenfalls, nur ist er auf den Aschermittwoch verlegt und wird „Asche abkehren“ genannt.
Nach einer Sage erwachen in der Christnacht die Bäume aus ihrem Winterschlafe und zwar auf eine Stunde um Mitternacht, um den Fruchtsegen zu empfangen. In manchen Gegenden geht darum der Hausvater zu dieser Stunde in den Garten und schüttelt die Obstbäume, damit sie aufwachen und den Fruchtsegen nicht verschlafen.
Eine ähnliche Sage berichtet, daß in der heiligen Nacht die Haustiere die Gabe der Sprache und der Weissagung empfangen. Es wird von einem Bauer erzählt, der das nicht glauben wollte und sich deshalb in der Christnacht in den Pferdestall auf die Lauer legte. Um Mitternacht hörte er zu seinem größten Erstaunen, wie das eine Pferd zum andern sagte:
„Im neuen Jahre ziehen wir unsern Bauer zum Friedhof.“
Der Schreck hierüber warf den Mann auf das Krankenlager, und wenige Wochen darauf zogen wirklich die Pferde den Wagen mit seinem Sarge nach dem Friedhofe des benachbarten Kirchdorfes.
Wenn junge Mädchen wissen wollen, wer ihr zukünftiger Bräutigam ist, so brauchen sie nur in der Christnacht durch das Schlüsselloch der Kirchentür zu sehen, und sie werden sich mit dem Erwählten am Altar erblicken.
Ich meine freilich, daß die jungen Damen unter unsern Lesern diese Probe nicht nötig haben, da sie ohnedies wissen werden, wie ihr Zukünftiger aussieht. Auch greift dieser Brauch wie so mancher andere in das Gebiett der Aberglaubens über.
Doch zeigen alle diese Bräuche, wie tief der Zauber der Christnacht das Denken und Fühlen unseres Volkes von jeher beeinflußt hat.
Es ist ein tiefsymbolischer Zug, daß die frohe Botschaft von der Geburt des Weltheilands von den Engeln gesungen wird:
„Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden,
und den Menschen ein Wohlgefallen!“
Könnten wir uns diese Worte anders als gesungen vorstellen? Und was wäre Weihnachten ohne das Weihnachtslied? Auf Bethlehems mitternachtger Flur erschallte es zum ersten Male, um fortzutönen durch die Jahrhunderte und hereinzuklingen auch in unsere ruhelose Zeit. Kein fühlender Mensch wird sich dem stillen Zauber des Weihnachtsliedes entziehen können, das mit unwiderstehlicher Gewalt an die Herzen rührt.
Man höre doch z.B. das alte, innige Lied „Es ist ein Ros‘ entsprungen“ – „Vom Himmel hoch da komm ich her“, das Luther seinen Kindern zu Weihnachten dichtete, oder das wunderliebliche „Stille Nacht, heilige Nacht“ ober das jubelnde
„du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit!“
Ein nicht geringer Teil dieser herrlichen Lieder gilt dem strahlenden Weihnachtsbaume, der in seinem Schmuck und Lichterglanz ein treffendes Symbol dieses schönsten aller Feste ist. Und doch ist die Sitte, den grünen Tannenbaum für die Christfeier zu verwenden, noch gar nicht so alt, wie man denken möchte.
Erst gegen das Ende des 16. Jahrhunderts kamen die Weihnachtsbäume im Elsaß in Gebrauch, und von dort aus verbreitete sich diese Sitte langsam über andere Gegenden des deutschen Vaterlandes – besonders in den evangelischen Häusern. Heute würde dem deutschen Weihnachtsfeste sein schönster Schmuck fehlen, wollte man den Weihnachtsbaum daraus fortnehmen.
So schön alle diese Gebräuche und Sitten sind – eine Sitte ist und bleibt doch die schönste, das ist das gegenseitige Schenken und Beschenktwerden. Und was ist dieser Weihnachtsbrauch anders,
als der Hinweis auf die göttliche Liebe, die uns in dem menschgeworbenen Gottessohne das größte Geschenk gab.
Daß wir unsere Liebe am Weihnachtsfeste unseren Angehörigen beweisen, ist ja eigentlich selbstverständlich. Aber wir sollen unsere Liebe nicht begrenzt sein lassen.
Gerade das Weihnachtsfest, diese Hochfeier der Liebe, legt uns die Verpflichtung auf, mit den Liebesarmen weiter zu greifen, als nur in den engen Kreis der eigenen Familie.
Es gibt namentlich in diesem Jahre in Stadt und Dorf so viele Arme und Einsame, denen kein Tannenbaum die kahle, kalte Kammer erhellt, und die hungernd und frierend die Not des Lebens niemals bitterer empfunden haben als am Weihnachtsabend, wo alle anderen glücklich und fröhlich sind. An ihnen Liebe zu üben und mit unseren Gaben Weihnachtsglanz und Weihnachtswonne in Haus und Herz der Armen zu tragen, das sollte uns der schönste Weihnachtsbrauch und die größte Festfreude sein.
Dann werden wir mit unseren Kindern mit umso fröhlicherem Herzen einstimmen in den hehren Weihnachtsgesang:
“ O, du fröhliche, o, du selige,
gnadenbringende Weihnachtszeit!“
Richard Erfurth †
aus: O du Heimatflur! vom 11.12.1925