Warum die Glöckchen des Heidekrauts rosenrot schimmern

Als der liebe Gott die Bäume, Pflanzen und Blumen erschaffen hatte, standen sie zunächst vollkommen farblos und darum recht wenig ansehnlich da.
So erging es den großen, mächtigen Bäumen in den unergründlich tiefen Wäldern, wie auch Pflanzen und Sträuchern im Gebirge und auf der heißen Ebene.
Da kam eines Tages ein lichter Engel durch die weiten Lande, um sich die neuerschaffene Welt zu besehen.
Eben war ein starkes Gewitter mit großen Regenschauern vorüber gezogen. Die Luft war frisch und rein, und in den Wolken funkelte ein Regenbogen, dessen köstliche Farben im Sonnengold glühten und flimmerten.

„Ach, lieber Regenbogen,“
bat der Engel,
„wirf mir doch ein Stückchen von deinem freudevoll bunten Bande herab, damit ich Blumen und Blüten etwas von deinem großen Überfluß abgeben kann!“

Der Regenbogen ließ sich nicht lange bitten und schenkte dem Engel ein großes Stück seines rot-orange-gelb-grün-blau-indigo-violetten Bandes.
Da bedankte sich der Engel vieltausendmal, band sich eine große graue Schürze um, nahm Palette und Pinsel zur Hand und fing an, die geschenkten Himmelsfarben auf Pflanzen und Blumen zu übertragen.
Kaum hatten Bäume und Blumen begriffen, was der Engel zu tun beabsichtigte, da drängten sie auch schon in hellen Scharen zu ihm, denn jedes wollte doch gern ein hübsches buntes Kleidchen bekommen. Die schöne rote Farbe auf des Engels Palette gab wirklich auch eine ganze Menge her.
Dann kamen Balsaminen, Nelken, Fuchsschwanz, Päonien, Geranien und wie sie sonst alle heißen, an die Reihe. Der Engel hatte vor Eifer schon ganz heiße, rote Backen bekommen und war zufrieden, als die rote Farbe endlich alle war.
Mit leuchtender Orange wurden Feuerblume, Kresse, Christusröschen und das duftende Labkraut verziert.
Aber – sollte man es für möglich halten? – sogleich ging auch der
Neid und Zank unter den Geschmückten los, denn jede hielt sich
für die Schönste und Begehrteste und rief Vogel und Käfer, Schmetterlinge und Insekten herbei, um feststellen zu lassen,
wer am lieblichsten aussähe.
Der Engel aber kümmerte sich nicht um das Gezänk, nahm das Gelb aus dem Regenbogenband und betupfte Ginsterblüte, Goldknöpfchen und Lupine, bis sie leuchteten, fast wie die liebe Sonne selbst.
Auch Dotterblume, Hahnenfuß, Klappertopf und Himmelsschlüsselchen erhielten ein strahlend gelbes Röckchen, und dann etwas sehr, sehr Schweres: der gute, hilfsbereite Engel mußte all die hunderttausend Millionen Blätter in den Wäldern grün anmalen!
Diese schrecklich langwierige Arbeit dauerte natürlich viele, viele Stunden, und es wurde schon dunkel, als endlich alle Blätter auf der ganzen Erde einen neuen, frischgrünen Rock anhatten.
Nun rief der Engel eine ganze Menge Blumen auf einmal auf – er wollte am Abend gern wieder zu Hause im Himmel sein – nahm Blau, Indigo und Violett zur Hand und ging besonders eifrig ans Werk.
Bald konnten Blauveilchen und Kornblume und der Fingerhut mit seiner Base Glockenblume schön geschmückt nach Hause wandern.
Dann kletterte der tiefdunkelblaue Enzian zu seinen Felsenplätzchen zurück, Vergißmeinnicht lief zum Mühlenteich, die blaßblaue zarte Zichorie machte den Engel einen tiefen Dank-Knix, hob ihr Florkleidchen und eilte heimwärts, und die violettfarbene Passionsblume verschwand Arm in Arm mit der träumerischen Waldrebe.
Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ der Engel die Palette sinken – es war auch kein bischen Farbe mehr vorhanden – band die Malerschürze ab und wollte eben nach Hause gehen. Da hörte er zu seinen Füßen ein bittendes Stimmchen, welches leise fragte:

„Und wann, wann malst du mich?“
„Malen? malen kann ich nicht mehr,“
antwortete der Engel,
„ich habe ja keine Farbe mehr. Und wer bist du denn eigentlich?“

„Ich bin bloß das kleine Heidekraut,“
sprach das flehende Stimmchen weiter,

„und ich habe mich nicht getraut, zwischen all den großen, stolzen Blumen mit anzutreten. Ich dachte, so ein klein bischen Farbe wird für mich schon noch übrig sein; ich wäre dann sehr glücklich und zufrieden gewesen.“

Der Engel sah das kleine bescheidene Blümchen lange an und fand, daß die tausend Glöckchen des unansehnlichen Heidekrauts ganz wunderzierlich und fein gearbeitet seien.

„Höre“,
sprach er dann,
„Regenbogenfarben habe ich nicht mehr, wie du sehen kannst. Aber weil du solch liebes, bescheidenes Blümchen bist, will ich dir auch ein schönes Kleidchen geben. Warte ruhig bis morgen früh.“

Der Engel flog nun eilig nach Hause, denn es war schon spät, und im Himmel muß man ganz besonders pünktlich sein.
Die anderen Blumen aber fielen mit boshaften Worten über das mißachtete Heidekraut her, schalten es ob seiner verstaubten, farblosen Glöckchen und höhnten:

„Meinst du Dummes etwa,
daß der Engel bloß deinetwegen wiederkommt?“

Foto: privat

Das kleine Heidekraut aber schlief sanft und süß ein,
denn es glaubte fest und heilig an das Wort des Engels und freute sich im Stillen auf das Versprochene neue Kleidchen.
Als der Engel am andern Morgen bei dem Heidekraut erschien, stieg eben die Sonne herauf, und der Himmel erstrahlte im prächtigen Morgenrot.
Da nahm der Engel ein winziges Flöckchen von der strahlenden Morgenröte und färbte mit zarter, kundiger Hand die tausend Glöckchen des Heidekrauts.
Und da wurde das kleine verachtete Heidekraut viel viel schöner geschmückt als alle seine Blumenschwestern. Und wenn die stolze Rose längst ihr Purpurgewand ablegen mußte, erglühen des Heidekrauts kleine Blütenglöckchen noch lange Zeit den Menschen zur Augenweide im rosenroten Schimmer.

Märchen von Suse Schaeffer

aus: Unser Heimatland vom 08.09.1927

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