1924.09.06. Wittenberger Zeitung
Wanderung – Wittenberg – Grabo – Kerzendorf – Garrey – Garreyer Rummeln – Niemegk
Zunächst: Die etwa 22-24 km lange Wanderung sollten nur gute, ausdauernde Fußgänger unternehmen, denn sie ist so anstrengend, daß man wohl für die ersten Stunden eine Durchschnittsleistung von stündlich 5 km annehmen darf, die jedoch bald auf 4, ja sogar auf noch weniger herabsinkt; da kommen etwa 6 oder noch mehr Stunden Laufzeit heraus, und das ist immerhin reichlich genug für einen Tag. Unser Weg führt durch TeucheI am früheren Exerzierplatze vorbei, der sich langsam auf die neue Zeit umgestellt hat und an einzelnen Stellen zwar noch recht dürftiges Grün aufweist; vorbei geht es an den Schächten der Dobiener und Teucheler Ziegeleien – oder sind es Quarzsandgruben? – vorbei an der sogenannten „Krähe“, einer bäuerlichen Besitzung mitten im Walde, vorbei auch an der Grüntalmühle, die kürzlich hier eingehend behandelt worden ist. Aus dem Walde heraustretend, der uns bis hierher begleitete, winkt drüben links das freundliche hochgelegene Dörfchen Schmilkendorf mit seinem Kirchlein, während rechts Dorf Mochau herüber grüßt. Vor Grabo, wo wir Frühstücksrast zu halten gedenken, sehen wir ebenfalls rechts die bewaldeten Höhen des Schwarzen und des Michelsberges, der, wie kürzlich hier mitgeteilt, höchsten Erhebungen in der Umgebung Wittenbergs. Im Gasthofe, an der westlichen Seite des Ortes gelegen, finden wir eine gute Flasche Bier, wie überhaupt jetzt der ländliche Gastwirtschaftsbetrieb zumeist auf Flaschenbierausschank zugeschnitten zu sein scheint. Auch wohlschmeckenden Landschinken gibt es hier, sodaß wir unsere eigenen Mundvorräte für später schonen konnten. Wir würden gern eine Tasse Kaffee, Tee oder Fleischbrühe genossen haben, aber dafür sind unsere ländlichen Gasthöfe meist nicht eingerichtet, am ehesten noch auf Kaffee, aber weiß man denn, wieviel Bohnen die Frau Wirtin für einen Städter für zweckdienlich hält? Im Gespräch mit der Wirtin, einer Witwe, erfahren wir, daß sie in Wittenberg wohlbekannt ist, daß einzelne von uns ihr sogar nicht fremd sind, und weiter, daß ihr Ort mancherlei verwandtschaftliche Beziehungen zu unserer alten Lutherstadt hat. (Die Grüße sind inzwischen bestellt worden.
Als wir nach kurzer Raft auf die Straße heraustraten, hat sich der Himmel weiter bewölkt. – Regen droht und langsam rinnen Tropfen hernieder. Ein an Ort und Stelle abgehaltener Kriegsrat beschloß jedoch die Fortsetzung der Wanderung. Und mit Recht. Ein tüchtiger Wanderer darf sich von einer Regen-,,Husche“ nicht abhalten lassen. „Die Tropfen rinnen nieder vom grünenden Gefieder , und umso grüner wurde das.“ Also die Fahrt geht weiter, auf ansteigenden Wegen, an üppigen Farren (veraltet für Farne), blühendem Erika, abgeblühtem Ginster und reifenden Brombeeren vorbei immer in nördlicher Richtung, bis wir zur Straße von Berkau nach Kerzendorf bezw. Weddin kommen. Hier wenden wir uns, Berkau links liegen lassend und ebenso den „Hirschberg“, der sogar den Michelsberg in der Höhe übertreffen soll, halbrechts auf Kerzendorf zu. Hier befand sich ein klassisches Beispiel für die meist recht willkürliche ländliche Entfernungsmessung. Während an der ersten Wegekreuzung die Entfernung nach unserem Ziele, dem genannten Kerzendorf, auf 2 km lautet, gab der nächste Wegweiser, mehrere hundert Schritte näher dem Dorfe, diese auf 2,5 km an, und so ist es von uns noch des öfteren beobachtet worden. Man sollte doch in den ländlichen Bezirken auf derartige Angaben, die dem Wanderer sehr wichtig sind, erheblich mehr Gewicht legen und sich nicht durch falsche Angaben lächerlich machen. Schade, daß sich nicht auch der Landkreis einen Vermessungsbecker leisten kann!
Nach kurzer Rast in Kerzendorf setzten wir unsere Wanderung fort. Bald nimmt uns zwar hübsch grüner, aber sonst recht dürftiger Wald auf. An den beiden Seiten des Weges begleitet uns auch hier blühende Erika, die ihren feinen süßen Duft zu uns emporsendet, tausende von Bienen fliegen geschäftig hin und her, ihrer Sammeltätigkeit nach, summen davon zu ihrer Behausung und kehren ohne ihre süße Last wieder zurück. Aus dem Walde tretend, sehen wir den Fläming, und zwar den hohen Fläming halblinks vor uns: bewaldete Höhenzüge in den verschiedenen Farben des Laub und Nadelwaldes, und fern drüben eine hochgelegene Straße, ähnlich dem Rennsteig in Thüringen. Bis nach Niemegk erstreckt sich der Wald, und bald wird die Kirche von Rädigke sichtbar, einem Dörfchen zwischen Raben und Neuendorf-Niemegk, das wir schon im vorigen Jahre auf einer Fläming – Wanderung besuchten, wo wir aber arg enttäuscht wurden, da die Frau Wirtin die Feldarbeit der Atzung (früher für Nahrung, Beköstigung) müder, durstiger und hungriger Wanderer vorgezogen hatte. In Garrey halten wir nochmals Rast, erfrischen uns an einer kühlen Weiße mit einem guten Breslauer Korn („O Heimat, wie bist du so schön“) und lassen uns von dem Wirte, einem Kriegsinvaliden, näheres über die ,,Rummeln“ mitteilen. Viel war es ja nicht, was er uns über den Ursprung dieser einzigartigen Erdrisse mitteilen konnte, das meiste hatten wir schon in Wittenberg gehört. Wir wanderten weiter, bis zu der auf einer Anhöhe einsam stehenden Windmühle, und bald bot sich uns der Anblick der nur wenigen Wittenbergern bekannten und noch weniger besuchten Erdrisse dar. Tief in das Erdreich eingeschnitten, bald im Zickzack, bald im Bogen oder in scharfer Ecke laufend, ziehen sich die Rummeln, fast 500 m weit, in nordwestlicher Richtung dahin, drei nahe am Wege beginnend, während sie an ihrem äußersten Ende durch eine gewaltige Erdrinne verbunden sind. Hier steht ein runder Bergkegel neben dem andern, steil abfallend, der Abhang meist mit blühender Erika bewachsen, auf der Spitze oft eine einsame Kiefer, während tief unten auf der Talsohle Gräser mehr oder weniger dicht den Boden bedecken. Tiefe Stille ringsherum, kein Mensch ist hier zu sehen, wenn auch dürftige Wege Zeugnis dafür ablegen, daß auch schon andere dort gewesen sind. Weltabgeschieden scheint die geologische Seltenheit zu sein, die für den Naturfreund aber doch so unendlich interessant ist. Eine sehr interessante Stelle in diesem Moränengebilde, das nördliche Ende der Rummeln, die hier mit einer höhlenähnlichen Vertiefung unter einem riesigen Findling enden, konnten wir leider nicht mehr besuchen. Gebilde, wie die Rummeln, befinden sich noch westlich von Garrey („Garrreyr Kessel“), westlich von Lobbese und südlich von Hohenwerbig („Weißes Tal“), zum Teil in noch ausgedehnterem Maße wie bei Garrey. Wie man uns sagte, ist der Ursprung dieser ausgedehnten Erdrisse noch auf die Eiszeit zurückzuführen, „aber nichts gewisses weiß man nicht“. Ein Mitwanderer, der den großen Krieg mitgemacht hat, verglich diese Gebilde, die in Deutschland, wenn nicht sogar weit darüber hinaus wohl einzig dastehen dürften, mit riesigen Schützengräben, nur fehlten darin die Unterstände, und – Kantinen gab es erst recht nicht. Lange weilte unser Blick, nach steilem Aufstieg oben wieder angekommen, auf diesem seltenen Landschaftsbilde, das anzusehen wir jedem Wittenberger angelegentlichst empfehlen möchten. (Garrev ist über Straach, Berkau, Kerzendorf auch mit dem Rade bequem zu erreichen.) Die Mittagszeit ist längst vorüber, wir müssen weiter, denn um 5.33 geht der Zug von Niemegk ab. Wir durchschreiten dürftige Nadelwälder, auf kargem Sandboden stehend, abwechselnd mit Kartoffel- und Haferfeldern, letztere kaum handhoch sich über dem Erdboden erhebend. Auf Rosen ist die Landwirtschaft hier nicht gebettet. Doch was sehe ich da? Mitten auf dem sandigen Fahrwege ein gut gewachsener frischer Steinpilz, und da noch einer und dort wieder – bald habe ich mein Hütchen umgekehrt zu einem wohlgefüllten Steinpilzbehälter gemacht: lauter gesunde Pilze! Wie werden die wohl schmecken! Freilich beschwerlich waren sie zu tragen, aber es waren ja selbst gefundene, und die schmecken immer besser als die auf dem Markte gekauften.
Der Weg, immer fast schnurgerade nach Norden gehend, wurde bald angenehmer, und wir hatten noch fast 1,5 Stunden Zeit, als wir in dem freundlichen Niemegk einzogen. Es war aber auch die höchste Zeit, denn unsere Gehwerkzeuge mahnten schmerzhaft daran, daß von ihnen heute doch eine ungewöhnliche Leistung verlangt worden war. Nach einstündiger Ruhe gings zum Bahnhof. Und der liegt bei Niemegk noch weit ungeschickter wie der von Wittenberg, und wem der Weg in Wittenberg zu weit, der gehe mal dorthin; er kommt aus dem Regen in einen Wolkenbruch.
Um 5.33 2bfahrt von Niemegk, in Treuenbrietzzen an 5.54, und schon 4 (vier) Minuten später fährt der Zug nach Jüterbog ab, zu dem man beim Umsteigen einen erheblichen Umweg machen muß. Nur dem freundlichen Entgegenkommen eines Bahnbeamten, der den müden Wanderern das Ueberschreiten der Bahngleise gestattete, verdankten wir es, daß wir noch zurechtkamen . Sonst säßen wir wohl heute noch dort.