Vor vierzig Jahren – 1883 400 Geburtstag Luthers

Vom 13. bis 15. September 1883 feierte unsere altehrwürdige Lutherstadt das 400jährige Geburtstagsjubiläum Dr. Martin Luthers.
Jedenfalls hatte man mit Glück einen etwas früheren Termin als Luthers Geburtstag (10. November) gewählt, denn diese Festtage waren von herrlichstem Frühherbstwetter begünstigt, genau so schön wie in diesem Jahre.
Um es gleich hinzuzufügen, auch der darauf folgenden 31. Oktober, der als Gegensatz oder auch als Ergänzung gedachte Festtag, der den wohlgelungenen historischen Festzug aller möglichen Gewerbe nebst dem Lutherfestspiel brachte, war gleichfalls ein vollendeter schöner Herbsttag.
Freilich können sich heute nur noch wenige Wittenberger an das herrliche Lutherfest von damals – das schönste, was ich in Wittenberg erlebte -, genau erinnern.
Mit Schrecken erkennt man heute, wie der unerbittliche Sensenmann auch besonders unter den damals im Vordergrunde stehenden Persönlichkeiten seitdem aufgeräumt hat!

Der alte Kaiser Wilhelm, den wir – die gesamte Schuljugend eingeschlossen – mehrmals bei seiner Rückreise von Gastein nach Berlin in den frühesten Morgenstunden am Bahnhof, wo er gern ua.
einige Stückchen von dem berühmten Apfelkuchen des Bahnhofwirts Lantzsch zu sich nahm, begrüßten, hatte sein Sohn, den uns allen unvergeßlichen Kronprinzen Friedrich Wilhelm, mit seiner Vertretung beauftragt*).

*) Die Hofkutsche lieh Hotelbesitzer Simon, der Begründer des früheren Kaiserhofs und jetzigen Bahnhofshotels, während der Kelch’sche Gutshof Rothemark das Gespann in Gestalt zweier feuriger Rappen gestellt hatte. Der hochstattliche Kaiserhofwirt, den man gern den „Lord“ nannte, wurde aus diesem Anlaß und wegen seines glänzenden Hotelbetriebes zum Hoflieferanten Sr. Majestät ernannt – wie sein Kollege Lantzsch vor ihm – es einmal!… 

In seiner Begleitung – beide in Gardedragoneruniform – befand  sich der noch reckenhaftere Prinz Albrecht, damaliger Prinzregent von Braunschweig.
Unvergeßlich schön prangte die Stadt in frischem Grün, mit Fahnen und sonstigen Dekorationen überreich geschmückt.
Als diese hohen Herren, mehrfach gebührend begrüßt, unter Führung des Bürgermeisters Dr. Schild den Magistratschor derStadtkirche betreten hatten, ertönte sie unter Musikdirektor Stein’s Leitung das bekannte große Halleluja, vom verstärkten Kirchenchor gesungen und von der Dessauer Opernkapelle begleitet, machtvoll entgegen.
Der stattliche Festzug, bestehend aus vielen Festteilnehmern der die gesamten protestantische Welt, hatte im Schiff der Kirche Platz genommen.  Der damalige erste Hofprediger Kögel hielt die erhebende Festpredigt.

Nach dem Gottesdienste begaben sich die geladene Festgäste nach dem Lutherhause, wo die „Lutherhalle“, die seitdem bedeutend erweitert worden ist, durch den Kronprinzen Friedrich Wilhelm sozusagen ihre Taufe erhielt, und wobei der hohe Herr, die damals schon recht zeitgemäßen denkwürdigen Ermahnungen zur Pflege der Gewissensfreiheit und Duldung Andersgläubigen gegenüber an die ersten Vertreter unserer Kirche richtete.
Der damalige Regierungspräsident von Diest hatte hier die Begrüßungsworte gesprochen.
Einer der durch eine Ansprache ausgezeichneten Anwesenden der 90jährige Konsistorialrat Schmieder, der zu Ehren der ankommenden Gäste tags zuvor bei der Vorfeier in der Schloßkirche eine liturgische Andacht abgehalten hatte, war damals noch Prediger an der Schloßkirche, wo wir ihn öfter auf der jetzt in in der Lutherhalle aufbewahrten, auffallend zierlichen alten Lutherkanzel mit Ieiser Stimme predigen hörten.

Am Abend war die ganze Stadt prächtig illumintert.
Einen feenhaften Anblick bot besonders der Markt mit den Denkmälern der Reformatoren, auch das alte Gymnasium
(das neue wurde erst 1885 erbaut) hatte sich ausgezeichnet.

Der zweite Tag galt mehr der breiten Volksmasse.
Der prächtig ausgeschmückte Marktplatz war außer von etwa tausend Geistlichen im Talar bis aus den aus den letzten Platz von einer andächtig lauschenden Volksmenge dicht besetzt.
Drei berühmte Redner hielten unsere Aufmerksamkeit gefangen: Zuerst, sich über die Bedeutung Luthers verbreitend, Bürgermeister Dr. Schild mit seinem herrlichen Organ, das über den ganzen Marktplatz laut widerhallte.
Dann Hofprediger Stöcker, der trotz seiner schnarrenden, helseren Stimme eine große Wirkung erzielte, indem er das bekannte Lutherwort:
„Deutschland ist ein weidlicher Hengst, aber wo ist der Reiter?“ zum Thema und Ausgangspunkte seiner Rede machte.
Zuletzt sprach Hofprediger Frommel, der greise Volksredner im schneeweißen Haar. Er redete seinen vielen Amtsbrüdern etwas lange ins Gewissen wegen ihrer Mitschuld an den wenig erfreulichen Zuständen unserer Kirche und sagte ua. wörtlich:
Ihr müßt nicht glauben, daß Ihr nach der Sonntagspredigt Eure Pflicht erfüllt habt, sondern fleißig in die Häuser gehen und mit Euren Leuten mehr verkehren !“

So nahm das ganze Fest einen unvergeßlich schönen Verlauf, und glücklich ist wohl jeder, der sich bei dem fürchterlichen Ernst der Jetztzeit noch solcher weihevollen Stunden zu erinnern weiß

Nachschrift:
Außerhalb dieser historischen Notizen möchten wir noch erwähnen, daß es auch bei diesem glänzenden Feste, was ja fast immer der Fall ist, besonders bei dem Festausschusse trotz löblichsten Tuns ohne Verdrießlichkeiten nicht abging.
Ein auswärtiger Pressevertreter aus Görlitz hielt es für angebracht, Vorwürfe wegen nicht genügender Berücksichtigung in der Platzfrage zu erheben.
Allerdings konnte ihm nachgewiesen werden, daß sowohl in der Schloßkirche als als auch bel der Feier auf dem dem Markte Sitzgelegenheiten für Berichterstatter, die aber irrtümlicherweise nicht benutzt wurden, vorgesehen waren.
Doch hatte der freundliche Herr die Schale seines Zornes auch gegen den damaligen Besitzer des „Adlers“, Franz Huster, aus-gegossen, weil derselbe offenbar in der Absicht wucherischer Ausbeutung der Fremden für ein belegtes Brötchen 60 Pfg. und für einen Kalbsbraten 1.20 M. gefordert hatte.
Wir überlassen es dem geneigten Leser, über dieses „Wucherproblem“ zeitgemäße vergleichende Betrachtungen mit den Millionen- Preistafeln von heut anzustellen und fügen zum Überflusse nur noch hinzu, daß im Marktberichte jener Tage noch zu lesen war:
Eine Kanne (4 Stück) Butter 2,30 Mark!…

O glückliche Schlaraffenzeit, wann kehrst du wieder!! 

Th. Eichhorn †

aus: Blätter für Heimatgeschichte vom 29.09.1923