Von Vlozen und Bomätschern

Was weiß der Wittenberger noch von seiner Elbe und von deren Bedeutung einst und jetzt?
22 km der 1153 km Gesamtlänge unserer Elbe durchfließen unseren Kreis Wittenberg.
Bei einer durchschnittlichen normalen Breite von 110 m beträgt das Gefälle auf den 22 Kilometern ca. 5 m.
Unsere Elbe ist heute fest im Griff,
d. h. Hoch- und Niedrigwasserkatastrophen gehören der Vergangenheit an, selbst Einstellungen der gewerbsmäßigen Schifffahrt aus diesem Grund sind selten.
Überlieferungen früherer Zeiten weisen jedoch auf Hochwasserkatastrophen hin, die teilweise ganze Ansiedlungen verschwinden ließen.
Das Flussbett suchte sich oft ein völlig neues Ufer.
Andere Quellen wissen zu berichten, dass die Elbe von Wittenberg bis Magdeburg immerfort durch Untiefen gefährdet ist, viele Schiffer gingen hier fluchend mit Handbaggern auf die Reise.
Die durchschnittliche Tiefe der Fahrrinne der Elbe war damals 24 bis 27 Zoll (70 cm!).
Die vielen Potentaten vergangener Jahrhunderte, Machthaber links und rechts unseres Stromes, behinderten zwar durch Zölle den Handel, aber für die Beseitigung von Schiffshindernissen fehlte das Interesse.
Obwohl der erste Schiffsverkehr auf der Elbe schon im 13. Jahrhundert bezeugt ist, wurde erst mit zunehmender Schiffbautechnik der Lastentransport lukrativ.
Zum Schutze gegen Feuchtigkeit von unten und oben wurden sämtliche Waren in Fässern verpackt. Das runde Fass war über lange Zeiten die Universalemballage auf der Elbe.
Elbeabwärts wurden Tuche, Salze, Bier und Getreide von Böhmen zur Küste transportiert.
Die ersten Schiffer waren die böhmischen Vlozen, die neben den Transporten auch noch am Ende der Reise die Sägefabriken mit dem Stammholz ihrer Flöße versorgten.
Die Entwicklung gedeckter Schiffskörper vor 200 Jahren, sogenannte Prahmen, Spreetkähne, Spitzkahn oder Kaffenkähne, ließ auch eine neue Berufsgruppe im Mittel- und Oberlauf der Elbe entstehen, die Bomätscher (slawisch: Helfer) oder Schifffszieher.
Da das Segeln elbeaufwärts nur bei günstigem Wind möglich war und auch die Verhältnisse oft durch die Windungen der Elbe wechselten, bediente man sich in solchen Fällen der Schiffsknechte oder Bomätscher.
Während die Schiffsknechte die mannigfaltigsten Arbeiten verrichteten und zur Schiffsbesatzung gehörten, waren die Bomätscher Bewohner der Elbedörfer.
Die Bomätscher waren auch in unserer Elbstrecke gefragt, denn speziell am Prühlitzer Bogen oder am Elster-Gegenwind.
Im Gegensatz zu den Schiffsknechten durften sie nicht das Schiff betreten. Sie galten sogar als eine Gefahr für Schiff und Ladung. Ihr Leben fristeten sie nach eigenen Gesetzen. Sie schliefen meist im Freien und kochten unter den Weidenzweigen im Dunkel des Abends ihre Fischsuppe. Ihr Herrschaftsgebiet war jeweils ein bestimmter Uferabschnitt, Stromstrecken, die von den Schiffsleuten nicht mit eigener Kraft überwunden werden konnten.
Ihren Anführer nannten sie König, ein König in Lumpen, der allein mit dem Schiffseigner über den Treckerlohn verhandelte.
Fünf bis zehn Silbergroschen waren schon ein günstiger Tagesverdienst.
Am Uferrand zog eine Reihe von Männern das Fahrzeug im Gleichschritt mittels eines etwa 100 m langen Seils langsam stromauf.
An den Brücken und Schiffsmühlen treckten oft bis zu 100 Mann an der Leine.
Hier wurde der I,umpenkönig zum achtungsgebietigen Kommandeur.
Die Schifffszieherei mit Zugtieren setzte sich nur an ganz bestimmten Stromstrecken durch.
Im Gebiet der Mittelelbe hätte dies die Not der Bomätscher eher vergrößert.
Mit Einführung der Dampfschifffahrt Mitte des 19. Jahrhunderts waren die letzten Stunden der Bomätscher gekommen.
Nur die Jungen und Gesunden unter ihnen fanden Anstellung bei der Königlichen Elbstromverwaltung, die nun Interesse am Ausbau bzw. an der Uferbefestigung der Elbe zeigte.
Die Alten und Kranken, als Ausgestoßene ihrer Gesellschaft, die ihrer nicht mehr bedurften, endeten im Stockhaus oder im Spital.
Heute noch, nach über 100 Jahren zeugt die Redewendung
„Hau ab zieh Leine“
von der harten Arbeit der Bomätscher.
Auch waren die Leinpfade oder auch Treidelwege in unserem Kreisgebiet bis zur Mitte unseres Jahrhunderts erhalten.

Karl Jüngel †

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aus: Freiheit vom Februar 1980