Von schwimmenden Nussschalen und Glücksschweinen

Wenn die Glocken unserer altehr­würdigen Stadtkirche ein neues Jahr einläuten, stoßen die Menschen mit ihren Gläsern an und wünschen sich viel Glück. Eine uralte Sitte und viele Bräuche sind damit verbunden und werden besonders in der Silvester­nacht noch angewandt. Manchmal ist kaum der eigentliche Sinn zu erken­nen und die wenigsten Menschen machen sich darüber Gedanken, was früher damit in Verbindung stand.

In einer Zeit, in der die naturwis­senschaftlichen Erkenntnisse auf einer ganz niedrigen Stufe standen, manchmal vom Klerus und von der herrschenden Klasse absichtlich dem werktätigen Volk vorenthalten, konn­ten sich die Leute von vielen Dingen keine Vorstellung machen und sahen alles von einem mystischen Zauber umgeben. Die dunklen Nächte, die schneebedeckte Landschaft, der nied­rige Sonnenstand, alles das war dazu angetan, die Gedanken unserer Vor­fahren mit den wunderlichsten Ge­schichten und überirdischen Dingen zu belasten. Unsere modernen tech­nischen Errungenschaften waren ihnen fremd. Sie hatten keine elektrische Beleuchtung, keine Fernseh- und Radiosendungen, meistens konnten sie selbst nicht lesen und schrei­ben. Man besuchte sich an den dunk­len Abenden und erzählte Geschich­ten, Sagen und Märchen, die von Mund zu Mund durch die Jahrhun­derte hindurch erhalten waren.

Welche Freude war es für diese Menschen, wenn das Sonnenrad lang­sam, im Laufe der nächsten Wochen aber immer schneller und höher stieg. Die Hoffnung auf die Wärme, auf bessere Zeiten, auf die Arbeit in Flur und Feld und den damit ver­bundenen Ertrag gaben ihnen Mut und Kraft, diese schlimme Zeit zu überwinden. So ist es zu verstehen, dass das neue Jahr mit großer Freude gefeiert wurde. — Auch Völker der wärmeren Zonen feiern das Neujahrs­fest und sind dankbar, dass das ver­gangene Jahr ihnen den Frieden und die Gesunderhaltung gebracht hatte, das neue Jahr liegt aber voller Zwei­fel vor ihnen und je nach der ge­sellschaftlichen Ordnung bringt es ihnen Sicherheit, Arbeit und die Kraft, am Neuen mit zu schaffen oder Sorge, Arbeitslosigkeit und die bange Angst des ungewissen.

Wenn wir auf das neue Jahr an­stoßen, so haben wir Grund, vertrauensvoll in die Zukunft zu sehen. Der Silvesterpunsch darf in manchen Fa­milien nicht fehlen. Es soll über 1000 Punschrezepte geben, manche sind viele Jahrhunderte alt. Um 1740 brachten englische Seeleute aus In­dien ein solches Rezept mit nach Hause und brauten ein Gemisch aus Zitrone, Zucker, Arrak, Tee und Was­ser und nannten ihre Tätigkeit „Panschen“, schrieben aber auf Englisch Punsch. Die Deutschen übernahmen dieses Wort und sprachen es so aus, wie sie es schrieben. Nach diesem kurzen Rückblick in die Vergangen­heit der Seefahrt ist es nur ein kur­zer Sprung bis zu den Nussschalen in unserer Waschschüssel. Es ist eine verbreitete Sitte, kleine Weihnachtskerzen in Nussschalen schwimmen zu lassen. Die Entfernung der Schalen voneinander soll der untrügliche Be­weis dafür sein, ob bei den jungen Liebespaaren Zu- oder Abneigung vorhanden ist. Geht das Licht bei dieser Schaukelei aber aus, so wird aus der ganzen Liebschaft nichts.

Wir sind also schon mitten drin bei der Fragestellung nach der Zukunft. So ist es auch mit dem Glücks­schwein. Auf der ganzen Welt gibt es Schweineamulette. Sie haben aber nur Wirkung, wenn irgendein Glied bei dem Schweinchen fehlt, deshalb stellen geschäftstüchtige Unterneh­mer solche Haustiere mit einbeini­gen, einohrigen oder einäugigen Kör­pern her. Wer ganz sichergehen will, der lasse sich außerdem noch Glücks­klee schenken. Dieses sehr alte Glückssymbol wirkt am besten, wenn man in der Natur ein vierblättriges Kleeblatt findet. Der Sucher sollte sich aber hüten, ein solches abzupflücken, denn in einem alten Kräu­terbuch heißt es schon:
„Weh dem Finder, der ihn pflückt“.

Auch beim Bleigießen werden al­lerhand Deutungen vorgenommen. In manchen Dörfern gehen die jungen Mädchen in die Hühnerställe, um mit einem kühnen Griff ein Huhn oder einen Hahn im Dunkeln zu erwi­schen. Fasst man einen Hahn, so ist die baldige Heirat so gut wie sicher, bei einem Huhn allerdings verzögert sich diese Angelegenheit. Ganz vom Aberglauben Besessene nagelten in der Neujahrsnacht einen Herings­kopf an die Decke des Kuhstalls, wo­bei die Nägel durch die Heringsaugen zu gehen hatten, sonst klappte die Sache nicht. Wurde nun im Laufe des Jahres die an sich schon mickrige Kuh krank, so brauchte man ihr nur den Heringskopf zum Fressen zu geben. Man sparte die Kosten für den Tierarzt, die die Kleinbauern so­wieso nicht aufbringen konnten, und bildete sich ein, alles getan zu ha­ben, was für die Gesunderhaltung des Viehes notwendig war.

Wir wissen heute, dass dies alles — so sollte man wenigstens annehmen — überholt sei und dass unsere Wis­senschaftler mit ihren Erfolgen helfen, soweit es in ihren Kräften steht.

Im Zeitalter der Raumschifffahrt müssen wir uns freimachen von die­sen abergläubischen Vorstellungen. Geblieben sind die Freude bei der Begrüßung des neuen Jahres, die al­ten Sitten und Gebräuche, die wir auch weiterhin als harmlose Scherze pflegen sollten.

Heinrich Kühne †