Volkspoesie am Martinstage

Der Tag des Bischofs Martin von Tours, der 11. November, im Volke Martini genannt, hat in unserer Zeit, viel von seiner Volkstümlichkeit verloren. In alten Zeiten galt er als der Wendepunkt von der sommerlichen zur winterlichen Jahreszeit.

Bei den alten Germanen wurden um den Martinstag herum Freudenfeuer auf den Bergen und Höhen abgebrannt. Anklänge daran findet man noch heute am Niederrhein, wo in den Tagen vor dem Martinsabend die Kinder von Haus zu Haus Brennmaterial für das Martinsfeuer sammeln und allerhand Liedlein singen. Weit verbreitet ist in Norddeutschland der Branch, Martinsabend bunte Lichter oder Laternen anzuzünden, wohl ein Überrest der alten Martinsfeuer. Am Südharz brennen beim festlichen Martinsschmause, der am 10. November, dem Geburtstage Luthers gehalten wird, bunte, mit dem Bildnis Luthers bemalte Kerzen auf der Tafel, und ehedem trugen wir dort, als wir noch Kinder waren, ausgehöhlte Kürbisse aus, in denen Wachslichter brannten. In Erfurt begegnet man am Martinsabend unzähligen Kinderscharen mit Papierlaternen in den Händen, welche singen:

Martin, Martin,
Martin war ein frommer Mann,
Stecket viele Lichter an,
Das er oben sehen kann,
Was er unten hat getan!

Seit dem 12. Jahrhundert kommt die Martins-Gans als das Hauptgericht des festlichen Tages auf. Sie spielt in der Volkspoesie eine große Rolle. Wenn der süße Bratenduft des köstlichen Vogels durch die Klöster zog, dann sangen die feucht-fröhlichen Mönche des Mittelalters:

Herbei, Herbei zur Martinsgans!
Herr Burkahrdt mit der Brezeln – jubilemus!
Herr Urban mit der Flasche – cantemus!
St. Barthel mit den Würsten – gaudeamus!

Auch in Edelsitzen und Bürgerhäusern geht es am Tage des „Gänsemärten“ hoch hehr und mancher Trinkspruch wurde ausgebracht:

Martin, lieber Herre, nun laß uns fröhlich sein,
Heut zu Deiner Ehre und durch den Willen Dein.
Die Gans sollst Du uns verehren und auch den kühlen Wein, Gesotten und gebraten: sie müssen alle hinein.

Der fahrende Schüler konnte am Martinstage seine begehrlichen Blicke nicht losreißen von dem vielversprechenden Martinsvogel, den schließlich zur Ehre St. Martins stahl und dabei sang und summte:

Der Müller auf der Obermühl, der hat der fetten Gänse viel,
Die Gans hat einen Kragen, den wolln wir mit uns tragen.
Der beste Vogel, den ich weiß, das ist die fette Gans!
Sie hat zwei breite Füße, dazu den langen Hals.
Und noch ihr Stimmlein süße.
Ihr Füß sein gel, ihr Stimm ist hell,
Der Hals ist lang wie ihr Gesang:
Gickgad, Gickgad! wir singen den Martinstag. (1540)

Über die Beziehungen der Gans zum Martinstage sind mancherlei Deutungen ausgesprochen worden. Mannhardt versucht in seinem Buche. „Die Korndämonen“ zu beweisen, daß die Gans zu den geheiligten Tieren des Erntegottes Wodans gehört habe. Das ergebe sich auch daraus, daß man aus dem Brustbein der geschlachteten Gans die Witterung des folgenden Winter voraus zubestimmen pflege. Simrock hält die Martinsgans für eine Opfergabe zu Ehren einer alten germanischen Gottheit. Die beste Erklärung aber dürfte die sein, daß um Martini herum die Gänse am reifsten und fettesten sind, wie schon eine mittelalterische Küchenregel sagt:

„Iß  ganß zu Martini!“

Pfarrer R. Reichardt-Rotta

aus: „Wittenberger Kreisblatt“  vom 11.11.1924