Sitten und Gebräuche in der Volks- und Kinderpoesie

Tierstimmen

Wie so viele Erscheinungen in der Natur, so weiß der Volksmund auch die Stimmen der Tiere in seiner Art zu deuten.

– Der Pirol (Pfingstvogel) ruft: Ich bin der Pirol!
– Das Gezwitscher der Schwalbe lautet: Wollte mein Kittelchen flicken und hatte keinen Zwirn.
Ich fand nur ein Endchen, da musste ich lange zerr’n.
– Der Zeisig ruft: Sitz ich da, sitz ich da, sitz ich alle Tage da!
– Die Enten sprechen: Soldaten kommen!
– Der Enterich sagt: Sackerlot, Sackerlot!
– Der Haushund fragt: Wo? wo? wo? wo?
– Die Katze antwortet: Von Bernau, von Bernau.
– Der Hahn auf der Mauer ruft: Sie sind schon da!
– Das Pferd sagt zum Knecht: Den Berg hinauf jag mich nicht,
den Berg hinab schlag mich nicht,
im Stall vergiß mich nicht.
– Bä, sagt der Bock, verlier ich meinen Rock.
Soll ich meinen Rock verlieren,
müßt ich den ganzen Winter frieren.

Kinderreime

Recht zahlreich sind die Kinderreime, mit denen oft Gebräuche in Spielform verknüpft sind, und von denen es gilt:
Tiefer Sinn liegt oft im kindischen Spiel.
Aus der Fülle möge hier eine kleine Auswahl Platz finden.

Wenn die Kinder spielen und dabei singen:

Ziehet durch, ziehet durch,
durch die gold`ne Brücke,
sie ist entzwei, sie ist entzwei,
wir wollen sie wieder flicken usw.

so deutete das auf die Götterbrücke, den Regenbogen, hin, auf der die Götter der Germanen nach Walhalla zogen.
Ebenso haben wir in dem bekannten Reigenspiel

„Wollt ihr wissen,
wie der Bauer seinen Hafer aussät…“

einen altdeutschen Gebärdentanz vor uns, den einst die Vorfahren vor der Saatzeit ausführten, und der dann in das Kinderspiel überwanderte.

Die Schnecke sucht das Kind zum Ausstrecken ihrer „Hörner“ (Fühler) durch folgende Verse zu bewegen:

Schnecke, schnurre, Schneckenhaus,
strecke deine Hörner aus.
Wenn du sie nicht zeigen willst,
werf ich dich in Graben,
fressen dich die Raben,
fressen dich die Müllerzicken,
morgen musst du Säcke flicken.

Den gefangenen Maikäfer sucht man dadurch zum Fliegen zu veranlassen, dass man singt:

Maikäfer, flieg,
dein Vater ist im Krieg,
deine Mutter ist im Pommerland,
Pommerland ist abgebrannt,
Maikäfer, flieg!

Wenn die Kinder von Weidenzweigen oder Flieder Pfeifen oder Flöten (Barben“) abklopfen, singen sie dabei:

Hohle, hohle Weide,
Fuchs aus der Heide!
Ging ein Mann den Berg hinan,
als er wieder runter kam,
war das Pfeifchen aufgetan.

Die Kinder spielen und singen:

Wir kommen aus dem Mohrenland,
die Sonne hat uns schwarz gebrannt.
Wir sehen aus wie Mohren
und haben schwarze Ohren.

Sie denken dabei nicht daran, dass in diesem Reimspiel die Erinnerung an die Erscheinung der HI. Drei Könige in Bethlehem liegt, wie sie auch im Dreikönigstage fortlebt.

Hat das Kind sich weh getan, so tröstet man es:

Heile, heile, Segen,
morgen gibt es Regen,
übermorgen Schnee,
dann tut’s nicht mehr weh.

Vater oder Mutter lassen das Kind auf den Knien reiten und singen dabei:

Schacke, schacke, Reiterpferd!
’s Pferd ist nicht drei Heller wert.
Macht das Pferdchen trib, trib, trab,
wirft den kleinen Reiter ab.

Oder:

Hopp, hopp, Reiter,
wenn er fällt, so schreit er.
Fällt er in den Graben,
fressen ihn die Raben.
Fällt er in den Sumpf,
macht der Reiter plumps!

Man lässt das Kind in die Hände klatschen und singt dabei:

Backe, backe Kuchen,
der Bäcker hat gerufen!
Wer will guten Kuchen backen,
der muss sieben Sachen haben:
Eier und Schmalz,
Butter und Salz,
Milch und Mehl,
Safran macht den Kuchen gehl.
Schieb, schieb in den Ofen ’nein!

Oder:

Da hast ’nen Taler,
geh auf den Markt,
kauf dir ’ne Kuh,
Kälbchen dazu.
Das Kälbchen hat ein Schwänzchen.
Dideldideldänzchen.

Spottverse und Neckreime

Nirgends zeigt sich die scharfe Beobachtungsgabe des Volkes und seine Spottlust deutlicher, als wenn es gilt, dem lieben Nächsten „etwas anzuhängen“, seine Schwächen zu geißeln, wobei man sich vielfach mehr oder minder gelungener Reime bedient.
Mit Vorliebe erstreckt sich diese Spottlust auf die Eigenheiten ganzer Gegenden und Ortschaften.
Sie macht selbst vor der Armut und Dürftigkeit des Bodens keinen Halt.

Von dem Höhenzuge Finne a. D. Unstrut heißt es:

Auf der Finne
gibts große Schüsseln und wenig drinne.

Vom Fläming:

Hier ist das gelobte Land,
wenn der Wind weht, stiebt der Sand.

Oder:

Ländiken, Ländiken,
du bist ein Sändiken.
Wenn ick dich arbeite,
so bist du liecht (leicht),
wenn ick dich egge,
bist du schlicht,
wenn ick dich meie (mähe),
so find ick dich nicht.

Vom Kreis Jerichow:

Int Jerchausche Land
doa gifft et nischt as gälen Sand.

Von der Dübener Heide:

In Crina, Schköna, Pouch
da schrei’n sie himmelhoch,
da müssen sie sich ernähren
von Pilzen und Heidelbeeren,
und wenn sie die nicht finden,
da müssen sie Besen binden,
und wenn sie das nicht verstehn,
da müssen sie betteln gehn,
und wenn sie dann nichts krei’n (kriegen),
da müssen sie himmelhoch schrei’n.

Oder:

Düben ist eine Lumpenstadt,
in Wellaune kriegen sie’s Brot nicht satt,
in Schnaditz gehn sie nackt und bloß,
in Tiefensee ist der Teufel los.

Oder:

In Tiefensee
tut einem ’s Herz im Leibe weh.

Auch Geiz und Eigennutz werden verspottet.
So heißt es vom Dorfe Thiemdorf b. Crossen a. d. Weißen Elster:

In Thiemdorf ist nichts auszuführen,
da ham se nichts auf’s Brot zu schmiern,
da fressen sie lauter Matz (Quark) und Brot
und denken noch immer: se ham keine Not.
Die Butter, die verkaufen sie,
und das Geld – ja, das versaufen sie.

Oder:

Greiz, Schleiz, Lobenstein
bitten Gott um Sonnenschein,
und wollen die andern auch was han,
da mögen sie’s ihm selber san.

Oder:

Ach, lieber Gott, lass regnen heut
zwischen Punkewitz und Wetterscheid‘*),
wo mein geliebtes Krautland leit (liegt).

*) Punkewitz und Wetterscheid sind Dörfer bei Naumburg a. D. Saale)

Den geringen Umfang des ehem. Fürstentums Reuß-Greiz verspottet man:

Fällt ein Faß Petroleum um,
stinkt das ganze Fürstentum.

Eine große Rolle spielt in diesen Neckereien der Teufel:

In Schiere, Priere, Möst*),
da hat der Teufel sein Nest.

*) Schierau, Priere und Möst gehören zu den Dörfern, die zum Kreis Bitterfeld gehören.

Oder:

In Plennsch, Plute, Pritz*),
da hat der Teufel seinen Sitz.

*) Plennschütz, Plotha und Prittitz sind Dörfer im Kreis Weißenfels

Oder:

In Scheiplitz*), in Scheiplitz,
da kommt der Teufel angeflitzt.

*) Scheiplitz bei Naumburg a. d. Saale.

Oder:

In Wellaune*),
da liegt der Teufel hinterm Zaune.

*) Wellaune bei Düben a. d. Mulde

Von Uichtewitz bei Torgau singt man:

In Uichtewitz, da hat’s geblitzt,
da sind die Bauern ausgeflitzt,
da hamse sich e Haus gebaut
aus lauter Wurst und Sauerkraut,
da ham se sich e Ast gelacht,
da isses wedder ingekracht.

Von den Naumburgern sagt man:

Die Naumburger sind keine Prasser,
aber sie trinken lieber Wein als Wasser.

Von der Stadt Halle a. d. Saale, deren Einwohner der Volksgruppe bekanntlich in Hallenser, Halloren und Hallunken eingeteilt ist,  behauptet man:

Halle an der Saale Strande
hat den größten Durst im Lande.

Manche Verse beziehen sich auch auf geschichtliche Vorgänge.
So erinnert der Reim:

„Es wird dir glucke (glücken) –
wie den Schwaben bei Lucke

an die Schlacht bei Lucka a. d. Schnauder 1307, in welcher die Schwaben von den Thüringern vernichtend geschlagen wurden.

Bekannt ist der Spruch, der die Studenten vor den Gefahren von fünf Universitätsstädten warnt:

Welcher Student kommt von Wittenberg mit
gesundem Leib,
von Leipzig und Tübingen ohne Weib,
von Jena und Helmstädt ungeschlagen,
der kann von großer Glücke sagen.

Vom Städtchen Hohenmölsen, das wegen seiner früheren Käsemärkte im Volksmunde die Bezeichnung „Käse-Mölsen“ trägt, sagt ein Spruch a. d. 15. Jahrhundert:

Zum Mölser Markte sind zu schauen
Edelleute, Pfaffen und Frauen.

An die Bedeutung der Stadt Aken a. d. Elbe als Sitz des Holzhandels erinnert der Reim:

In Aken gibt es nischt to maken
als Buntholz un Staken.

Einen wenig schmeichelhaften Vergleich stellt der folgende Spruch an:

Der Englänner het een`n Sparren,
de Franzos makt sich to`n Narren,
de Berliner het een grot Mul
de Pirower*), de is mulful.

*) Pirow in der Provinz Brandenburg

Bekanntlich suchen auch die einzelnen Voltstämme gern einander „eins auszuwischen“, ohne dass es böse gemeint ist.
Das gilt auch von dem nachfolgenden Vers, der den alten, geschichtlich begründeten Gegensatz zwischen Sachsen und Preußen zum Ausdruck bringt:

Warum ist denn die Elbe
bei Dresden so gelbe?
Se grämt sich ze schande,
se muß ausen Lande,
ausen Lande so kleene,
so gemietlich un scheene;
denn gleich hinger Meißen,
pfui Spinne! – liegt Preißen.

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