1926.09.02. Wittenberger Zeitung
Wittenberg, im September 1926.
Unter dem Leitgedanken „Durch eigene Kraft“ baut sich am Waldrande zwischen Neumühlenweg und Reinsdorfer Weg in aller Stille eine Siedlung auf, welche der allgemeinen Beachtung und Unterstützung durchaus wert ist. Es sind die Heimstätten, welche die Siedlungs-Genossenschaft „Eigenheim“ für ihre Mitglieder errichtet.
Die Genossenschaft wurde im Jahre 1922 gegründet. Ehe sie jedoch irgend etwas unternehmen konnte, gingen ihr, wie allen anderen, die von den Genossen zusammen gebrachten Mittel durch die Inflation verloren. Die Genossenschaft verlor deshalb den Mut nicht, und 1924, nach dem Eintritt stabiler Verhältnisse, ging sie mit neuem Mut an das einmal beschlossene Werk.
Zuerst verhandelte man mit dem Gemeindekirchenrat wegen Ueberlassung von Gelände an der Dessauer Straße gegenüber der Jolyschen Fabrik. Da aber hier eine Einigung nicht erzielt werden konnte, mußte man sich nach einem anderen geeigneten Grundstück umsehen.
Beim Ausscheiden der Stadt Wittenberg aus dem Kreis erhielt diese, da sie gleichzeitig auch aus der „Siedlungsgesellschaft Sachsenland“ ausschied, zwischen dem Reinsdorfer Weg und dem Neumühlenweg als ihren Anteil an dem Vermögen der genannten Gesellschaft ein Stück Wald in etwa 80-90 Morgen Größe übereignet. Von diesem Gelände hat die Stadt den östlichen Teil, der schon fast ganz abgeholzt war, in einer Größe von 18-20 Morgen an die Siedlungs-Genossenschaft „Eigenheim“ in Erbpacht übergeben. Ein weiteres Stück Land, welches zurzeit nur in einfache Pacht genommen ist und als Gartenland dient, soll in die Erbpacht einbezogen werden, wenn die Siedlung fertiggestellt ist. Auf dem in Erbpacht gegebenen Gelände werden 30 Wohnungen in Form von Zwei- und Einfamilienhäusern errichtet. Jede Heimstätte hat einen Flächeninhalt von einem halben Morgen; der übrige Teil des Geländes geht für Wege ab.
Mit den Vorarbeiten zum Bauen wurde im Auguſt 1925 begonnen, und am 1. November 1925 wurde das erste Einfamilienhaus fertiggestellt. Bis jetzt sind drei Zweifamilienhäuser und zwei Einfamilienhäuser erbaut; es haben somit acht Familien Wohnung gefunden. Die Herstellungskosten für jede Wohnung belaufen sich auf 6000 bis 7000 Mark, wovon 4000 Mark durch Hauszinssteuerhypotheken gedeckt sind. Unterstützt und beraten wird die Genossenschaft durch die Mitteldeutsche Heimstätten-Gesellschaft, die auch die Oberaufsicht über die Bauten hat. Die Bauführung wird von der Genossenschaft selbst geleitet. Alle Arbeiten werden von den Siedlern selbst ausgeführt und zwar „nach Feierabend“, wodurch die Baukosten durch Ersparung des Arbeitslohnes ganz bedeutend herabgemindert werden. Man sieht daraus, von welcher Liebe zur Scholle, zum eigenen Heim die Siedler beseelt sind, und wieviel Arbeit und Mühe sie aufwenden müssen, um alle Arbeiten zu bewältigen. Sie fertigen den größten Teil der Bausteine an, heben die Baugrube aus, verrichten Maurer und Zimmerarbeiten, kurz, sie stellen das Haus soweit her, daß nur ein Dachdecker die Dachziegel auflegt. Die jetzt stehenden Häuser wurden in einer Bauzeit von neun Monaten erbaut. Zurzeit ist der Bau weiterer fünf Doppelhäuser in Arbeit.
Jedes Haus ist vollständig unterkellert, enthält im Erdgeschoß drei Zimmer und eine Küche und im Dachgeschoß die gleichen Räume. Es hat somit auch eine größere Familie Platz, einige Siedler werden noch Räume an andere Mieter abgeben können. Man sieht also, daß die Bestrebungen der Siedlungs-Genossenschaft „Eigenheim“ zur Bekämpfung der Wohnungsnot beitragen, sie werden auch von den städtischen Behörden in vollem Umfange gewürdigt und soweit als nur irgend möglich unterstützt .
Die Genossenschaft zählt 30 Mitglieder. Den Vorstand bilden:
Tischler Erich Bretag, 1. Vorsitzender,
Former Friz Byallas, 2. Vorsitzender,
Stadtrentmeister a.D. Karl Billert, Kassierer.
Als Vorsitzender des Aufsichtsrates amtiert Verwaltungs-Inspektor Ludwig Braunschweig.
Die Genannten haben sich große Mühe um das Zustandekommen und die Entwicklung der Genossenschaft gegeben; wie denn überhaupt die Zusammenarbeit aller Genossen eine freudige und opferbereite ist, die sich zum Wohle aller auswirken wird.
Die durch die Siedlung führende Straße erhielt bekanntlich auf Wunsch der Genossenschaft den Namen „Damaschke-Straße“, zu Ehren des Gründers der Bodenreform Dr. Adolf Damaschke an seinem 60. Geburtstag.
Ueber die Bauweise selbst ist noch bemerkenswert, daß die Bausteine, die ein Format von 35:25:15 haben, zu zwei Teilen aus Kohlenschlacke bestehen, während das letzte Drittel je zur Hälfte Sand und Zement enthält. Sie werden in hölzernen Formen eingestampft, in diesen angetrocknet, und dann im Freien aufgestellt, um an der Luft zu trocknen. Aus diesen Steinen werden die Umfassungswände von Grund auf hergestellt. Im Innern erhalten dieselben eine Verkleidung mit Lochsteinen, jedoch bleibt zwischen Innen- und Außenwand ein Luftschacht von etwa fünf Zentimeter. Durch die in diesem Luftschacht und in den Lochsteinen zirkulierende Luft soll ein Feuchtwerden der Wände verhindert werden. Die Kellerdecke wird in Eisenträgern verlegt. Die Einteilung der Räume veranschaulicht die nachstehende Skizze.
Durch die fast allen Siedlungshäusern eigene gewölbte Dachform (Lamellenbach) werden im Dachgeschoß ebenfalls Wohnräume geschaffen, die fast ganz gerade Wände und dieselbe Größe wie die unteren Räume haben. Jedes Haus hat eine bebaute Grundfläche von 60 Quadratmeter; es stehen also, wenn das ganze Haus fertig ausgebaut ist, jedem Siedler 120 Quadratmeter Wohnräume und 60 Quadratmeter Kellerräume zur Verfügung. Von der Errichtung von Stallgebäuden für Kleintierzucht usw. soll vorläufig noch abgesehen werden. Ueber den Bau derselben will man sich erst nach Fertigstellung der Wohnungen für sämtliche Genossen entscheiden, welche man im nächsten Jahre zu vollenden gedenkt.
Die praktische Leitung der Arbeiten liegt in den Händen des Bauführers Petersen, der ebenfalls seine freie Zeit in den Dienst der Genossenschaft gestellt hat.
So mancher Spaziergänger ist wohl bisher auf seinem Sonntagnachmittagswege nach Reinsdorf an diesem Werk der Selbsthilfe achtlos vorbeigegangen, wird aber in Zukunft der Sache und ihrem Fortschreiten etwas mehr Aufmerksamkeit schenken. Den arbeitsfreudigen und unermüdlichen Siedlern aber möge der Erfolg ihrer Arbeit nicht ausbleiben und diese ihre Wünsche voll befriedigen.