Schneidererlaß von Friedrich Wilhelm I.

Im Jahre 1870 erreichte die Wittenberger Schneiderinnung der königlich-preußische Schneidererlaß, wonach Schneider vom flachen Lande in die Städte ziehen oder sich der Schneiderei gänzlich enthalten sollten. Lehrer und Küster dürften auf dem Lande schneidern, aber ohne Gesellen und Jungen.

Das war zur Zeit der allgemeinen Gewerbefreiheit, wo ohnehin jedermann ein Handwerk oder Unternehmen betreiben konnte.
Es entstanden viele unseriöse Betriebe, in denen in großer Zahl Lehrlinge ohne Meister „lernten“ und Geschäfte ohne Meister Werkstätten betrieben.

Die alten Schutzparagraphen für Schneider von 1696 galten nichts mehr, wonach die und Cramer Kauffleute „die verfertigten Waaren als Schlaff-Röcke, Brust-Tücher, Camisohle, Strümpfe undt dergleichen von denen Meistern des Schneider Gewerbes nicht aber von Fuschern…“ erwerben sollten.
(Camisohle – kurze über der Hose zu tragende Hemden).

Auch die Bestimmungen für die Gesellenprüfung von 1737 galten nicht mehr, wonach ein Gesellenstück aus
„…einem tüchtig Mannes Kleidt alß Rock, Hosen und Weste…“ und
„… inngleich ein Frauenkleidt alß Schnur Leib, Manton“ (Umschlagtuch aus Anatolien) oder
„… Oberkleidt allezeit nach der mode ….“
sowie ein Paar Pagen Hosen nach jetziger Manier und der Bekleidung eines „Trauer-Pferdets“ bestand.

Um den Entartungen der Gewerke entgegenzuwirken, wurden 1880 22 Zwangsinnungen in Wittenberg eingerichtet. So konnten auch die Schneider echte gemeinsame Interessen fördern, den Gebrauchswert der Erzeugnisse und Leistungen sowie die Rechte und Pflichten der Meister für die Ausbildung der Lehrlinge und den Umgang mit Gesellen sichern.

In Wittenberg, Kleinwittenberg und Piesteritz gab es um die Jahrhundertwende 68 Schneidermeister. Von schneidernden Lehrern ist nichts bekannt. In der von den Wittenberger Schneidern 1888 eingerichteten Fachschule in der Töpferstraße wurde Schreiben, Rechnen und Zeichnen (Zuschnitt) gelehrt; der Zuschnitt nach einem noch heute vorbildlichen Material für den Selbstunterricht.

Dr. Wolfgang Senst †

aus: „Mitteldeutsche Zeitung“ vom 17.04.1990