Pinselohr – Tierleben der Heimat

Ein sanfter Ostwind säuselt durch die Blätter und das Nadelwerk im heimatlichen Walde und mildert die drückend warme Sommerluft, welche heute schon am Vormittage über den Gefilden liegt. Hoch oben in den dichtbelaubten Zweigen einer mächtigen Rotbuche singt ein Waldschwirrvogel in eiliger Tonfolge sein Liedchen: „Jpsipsipsipsipsip- firrrrrr!“ Gleichsam klagend, fügt er nach kurzer Pause noch gedehnte, absteigende „Djü djü djü!“ hinzu.

Drüben unter der mächtigen Eiche wird Rascheln des dürren Laubes vernehmbar. Gleich darauf rasselt es unter ängstlichem „Dud, dud!“ eiligst den von rissiger Borke bekleideten Stamm hinauf. Der Eichkater Pinselohr sucht vor irgendeiner Gefahr hoch oben im knorrigen Geäst Zuflucht. Pinselohr denkt daran, daß er ja im letzten Herbst in der Höhlung, dort wenige Meter tiefer am Eichenstamme, einen größeren Vorrat an Eicheln und sonstigem Fraß aufgespeichert hat, den er bisher ganz und gar vergessen hatte.

 

Pinselohr – das Eichhörnchen

Einige elegante Sätze, jetzt am Stamme etwas hinunter gerutscht und ins Astloch geäugt und geschnuppert. „Prächtig, der Vorrat ist noch vollkommen unberührt, kein Unbefugter hat sich meinen Fleiß zugute kommen lassen. Es ist mir schleierhaft, daß ich diese Leckerbissen bisher vergessen konnte. Allerdings, der Herbst war recht spendabel, und Not brauchte man während des Winter deshalb nicht zu leiden, wenn man an schönen Tagen vor Hunger aufwachte und den Kobel verließ, um sich die für Zeiten der Not zurück gelegten Eicheln, Haselnüsse, Bucheckern und dergleichen mehr gutschmecken zu lassen. Zunächst werden einige hart getrocknete Eicheln in possierlicher Haltung, den zweizeilig behaarten Schweif stolz emporgerichtet, geknabbert. Eine unten im Laube herumsuchende Singdrossel ist erbost darüber, daß ihr das Eichhorn fortwährend die abgelösten Stücke der Schalen auf Kopf und Rücken wirft und fliegt mit unwilligem „Dadbad, giggiggigg!“ weg. „Die Kiefernsamen munden auch nicht übel“, findet Vater Eichhorn. Nun noch ein Dutzend von den vortrefflichen Buchnüssen … dort im Kieferndickicht warnte doch soeben ein Häher?“ „Rärääh!“ vernimmt Pinselohr wieder und stutzt. „Sind das nicht Menschenstimmen? Aha, dort den Weg entlang gehen Spaziergänger, also harmlose Geschöpfe.“ Wuppdich! mit einem mächtigen Satze ist Pinselohr nach dem Stamme hinüber und rutscht hinunter. Kaum ist er einige Meter tiefer, so vernimmt er über sich ein wohlbekanntes, scharfes Sausen, so daß er schnellstens in Schraubenlinien den Stamm umkreist. Mordlieb, der Hühnerhabicht, strich gerade über die Wipfel und äugte mit seinen erstaunlich scharfen Sehern, wie der rotfellige Wicht nach dem Stamme sprang und denselben hinabrasselte. Schon legt er die Flügel an und stößt nach ihm. Fehlgeschlagen, und nochmal und immer wieder, während Pinselohr mit vor Schreck ausgestoßenem „Dud, dud!“ den Eichriesen in Schlangenwindungen umkreist, so schnell, daß ihn der Habicht, welcher fliegend weit größere Bogen beschreiben muß, nun vergeblich sucht. Denn eiligst ist der geängstigte Eichkater in die Höhlung am Fuße des Stammes geschlüpft. „Wieder nichts“, denkt Mordlieb, steigt mit kräftigem Flügelschlage empor und baumt unter ärgerlichem „Jmiäh! imiäh!“ auf einem der weitausladenden mächtigen Äste in der Mitte der Baumhöhe auf. Wirst ihn vielleicht noch erwischen“, denkt der stier auf die Höhlung am Stammfuße äugende Strolch. Aber dem erfahrenen Vater Eichhorn kommt es gar nicht in den Sinn ihm den Willen zu tun. Enttäuscht streicht der Strauchritter ab, und erst, als Pinselohr aus der Ferne sein freudiges, „Jwiäh“! vernimmt, das einen gelungenen Raub ankündigt, kommt er aus seinem Schlupfwinkel, erst vorsichtig äugend und witternd, heraus. Ein erbärmlicher Strolch ist dieser Habicht, aller paar Tage gibt es mal solch ein Theater.“ Schnell einige Sätze bis zu jener Buche, denn die Eiche steht zu weit weg von anderen Bäumen, so daß er sie im Sprunge von dieser aus nicht erreichen kann. Wenn es nicht sein muß, geht Pinselohr nicht auf dem Waldboden spazieren. Und wenn schon, dann geht es in eiligen Sätzen bis zum nächsten Baume. „Man kann nie wissen, ob nicht so’n Gaudieb oben in den Ästen sitzt, der auf eine solche günstige Gelegenheit wartet, wo er einem am besten beikommen kann.“ Den Stamm der Rotbuche gewandt emporgekraxelt, auf diesem langen Zweige mit einigen Sprüngen bis zum Ende. Wuppdich! hinüber nach der Kiefer, von dieser auf die Jungeiche, dann nach jener Fichte hinübergesetzt. Nun die Hainbuche genommen, heidi! den Ast der riesigen Kiefer erreicht. Bis zur nächsten Kiefer ist es zu weit, also alle Viere ausgestreckt und hinunter gesprungen. „Diese etwas früh gekommenen Gehlinge muß ich mal probieren.“ Dann verhofft Pinselohr erst längere Zeit. Er glaubt jetzt das zufriedene Murren seiner Alten und des spielenden Geheckes zu vernehmen. Jetzt klingt es sehr deutlich zu mir herüber“, denkt er. Hinüber zu der Schar! Wuppdich! auf den nächsten Zweig dieser Fichte. ,,Na, was flüchtet denn die Amselminna so laut zeternd, hat sie etwa gar ihr Nest mit einer frischen Brut in einem Quirl des Baumes? Da muß ich doch gleich mal näher hinäugen. Großartig! die sind erst vor zwei bis drei Tagen aus den Eiern heraus. Eines von den zarten Dingern werde ich als angenehme Zugabe zu Eicheln, Buchedern und Kiefernfamen gleich hier verspeisen. Die anderen kommen nächstens dran. Das will ich ja nicht etwa vergessen.“

Die Mittagssonne macht sich recht kräftig bemerkbar, diese Wärme ist wirklich zum Braten. Wozu haben denn die Eichhörnchen ihre Kobel auf der Eiche? Schnell turnt Mutter mit dem Nachwuchs dort in den großen, frei in einer Astgabel stehenden, in welchem sie ihre diesjährigen Hecken ausbrachte. Pinselohr verschwindet in der Höhlung des Stammes, die ihn schon über Winter vor den Unbilden der Witterung schützte. Als dann die Sonne nicht mehr gar so erbärmlich brennt, äugt Pinselohr aus der Höhlung heraus, sichert erst längere Zeit und kommt dann ganz zum Vorschein. Nun als Nachmittagsschmaus zunächst etwas Rinde und einige junge Zweigtriebe verspachtelt. So zart und saftig ist das Zeug ja bei weitem nicht, wie die jungen Knospen zu Anfang des Lenzes, aber es ist wenigstens etwas Grünes.

Gegen Abend umwölbt sich der Himmel mehr und mehr; in weiter Ferne rollt der Donner bereits. „Am besten, man zieht sich beizeiten in seinen Kobel zurück“, denkt der Eichkater und begibt sich schleunigst hinüber nach dem schützenden Loch im Eichenstamm. Schon herrscht pechschwarze Finsternis, da bricht das Wetter los mit Blitz und Donner, daß es nur so bubbert und kracht. Nach dem Gewitter setzt ein kräftiger Landregen ein, der den ganzen nächsten Tag bis zum Abend anhält. Erst als die Steinkäuze dort hinten anfangen, sich zu melden, lichtet sich der Himmel, um der blutigrot scheidenden Sonne wenigstens noch einen kurzen Blick über die nassen Fluren zu gönnen.

Ein schwacher Wind macht sich auf und schüttelt das übermäßige Naß von den Bäumen. Pinselohr lugt nun aus seinem gut schützenden Versteck heraus, um zu prüfen, ob er auf Fraß ausschlüpfen kann. Es kommt ihm schon ganz jämmerlich leer im Magen vor. Nun muß er die Zeit bis zum Einbruch der Dunkelheit noch gut ausnützen. „Hole ich mir also zunächst erst zwei oder drei von den Amseljungen aus der Fichte.“ Hinunter geht es den Eichenstamm wie ein Ungewitter, nun schnell weiter. Beinahe hätte er unten am Fuße des Stammes vor lauter Dampf (Hunger) das Sichern vergessen. Er hält inne und holt es nach. „Himmel, dort drüben auf dem untersten Ast der starken Kiefer sitzt Gelbkehl, der Edelmarder, welcher ausgerechnet hier herüberäugen muß.“ Ganz erbärmlich wird es Pinselohr da zumute, denn wenn er jetzt nicht besonderes Glück hat, wird ihn der Baummarder, der Meister im Klettern und Springen, gar bald beim Wickel haben. Gerade noch äugte der Eichkater mit bänglicher Seele, wie Gelbkehl schleunigst auf dem Waldboden war und in weiten Sprüngen auf ihn zueilte. Da wirft er sich, ängstlich pfeifend, blitzschnell herum und ist in wenigen Augenbliden wieder in halber Höhe der Eiche. Rasselnd geht es bis zur äußersten Spitze. Ein kurzer Blick rückwärts. Schon ist sein Todfeind unten in der starten Astgabel, und sein mordgierig funkelnder Blick verläßt Pinselohr keinen Bruchteil einer Sekunde. Der zutode geängstigte Eichkater macht einen verzweifelten Satz nach einer Verzweigung, die weit vom Stamme absteht. Der Baummarder folgt ihm unerbittlich: Schnell bis zur äußersten Zweigspitze gesprungen; ein Blick zurück. Hinunter in die Tiefe jetzt Pinselohr, und dann geht es nach der hohen Kiefer. Der Marder wagt den Sprung nicht, stutzt, kehrt schnell um und flitzt den Stamm abwärts. Bald ist er wieder hinter dem flüchtenden Nager. Nochmals Sprung vom hohen Ast auf den Waldboden. Jedoch der blutgierige Verfolger ist unermüdlich. Schon fühlt Pinselohr seine Kräfte ermatten, aber er muß ja weiter auf Leben und Tod. Vielleicht winkt ihm jenseits dieses Weges Rettung, flink hinüber. „Den glatten Stamm dieser Rotbuche kann Gelbkehl schließlich nicht erklimmen“, fährt es ihm durch den Kopf. Oben in der ersten Verzweigung des hochragenden Stammes wirft er einen Blick nach unten. Der Räuber ist dicht hinter ihm. Pinselohr gibt sich verloren. Jetzt hat ihn der Marder und schlägt das Gebiß in seine rechte Halsseite. Ade, du liebes Waldesgrün!“ denkt das Eichhorn, dann wird es ihm schwarz vor den Sehern. Start dämmerig ist es inzwischen geworden, und leise rauscht der abendliche Wald im Winde.

Dr. Paul Niemann

aus: Mein Heimatland 20.06.1931