Gegenüber der Neugasse steht in der Mittelstraße ein altes Haus. Es trägt die Nummer 52 und eine Tafel mit der Inschrift:
Gottes Wort und Lutheri Schrift ist für Papst und Calvini Gift! Daraus sieht man, dass sein Geburtstag in Luthers Zeit war.
Wer da glaubt, es könnte umfallen, der irrt sich. Es ist zwar unbewohnt, aber umfallen wurde ihm nicht beim Richtefest in die Wiege gelegt. Durch neue Häuser ist es gestützt von allen Seiten. Vor ca. 75 Jahren wollte man es abreißen. Zum Glück entstand ein großer Brand in unserer Stadt. Die Feuerwehr ließ nicht nach bis die rechte Seite der Marstallstraße samt den Häusern Nummer 28, 30 und 31 der Coswiger Straße in Schutt lagen. Die alten Häuser wollten in der Nacht durchaus nicht brennen, als es aber hell wurde, wusste die Stadt nicht, wo sie mit dem Abgebrannten hin sollte.
Zu letzteren gehörte Ferdinand Schulz, der im Eckhaus Coswiger-Marstallstraße (heute „Börse“) seinen Trödelladen hatte.
Nun lag der ganze Trödel vor der Coswiger Straße 9 (heute Traub). Vor dem Grabe seiner Habe stand Schulz. Er war ja bloß so gemeldet, hatte es uns oft genug erzählt, dass er wohl viele Väter, aber keine Mutter hatte. Das tat uns leid, und wir halfen ihm beim Säubern seiner Trödelware, brachten von den Verstorbenen Anzüge, Stiefel, Hüte usw. Die ganze Stadt kannte ihn, keiner sagte Schulz, sondern „Pate Nante“.
In der Brandnacht war die Coswiger Straße gesperrt, wir trugen den ganzen Trödel durch das Haus Schlossstraße 27 (Horst) in Friede Hermanns Brauerei, Schloßstraße 7, was 1960 abgerissen ist.
Nun mussten die Abgebrannten sehen, wo sie unterkamen.
Pate Nante zog mit seinem Trödelladen in das oben genannte Haus Mittelstraße 52. Das alte Haus, gesäubert und gestrichen, war stolz auf die vielen Bewohner. Am liebsten hätten wir es mit abgebrannt, aber Grotius Otto warnte:
„Een Brandstifter kann keen Soldat nich wern!“
Jetzt wurde es zum großen Geschäft. Die Tochter machte den Detailverkauf, heiratete Karl Henze, der bei Rennert, Collegienstraße Zigarren machte.
Kein Stück ging unsauber aus dem Haus. Wir holten keine Anzüge von Verstorbenen mehr, Pate Nante besuchte die ¾ Toten schon vorher und lieferte für die Hinterlassenschaft den Sarg.
Oft fand er in den Taschen so viel Geld, dass er ein Dorf damit begraben konnte.
Pate Nante gab denen, die weniger hatten und ihm halfen, er sorgte sich um das Fortkommen der Kinder unserer Stadt. Er gründete den Kavallerieverein Wittenberg und brachte die wehrfähigen Leute als Freiwillige bei seinen Husaren unter. Er pflegte zu sagen:
„Wenn ich noch mal abbrenne, kann ich mir in Berlin ein Eckhaus kaufen. Als er starb, reichte der Leichenzug von Neugasse bis zum Lutherhaus.
Aus dem ganzen Kreis waren sie gekommen, um ihren „Pate Nante“ die letzte Ehre zu erweisen. Was hatten die Leute mit dem alten Mann zu tun und warum nannten sie ihn „Pate Nante“?
Der Stammtisch soll erfahren, was er uns erzählte!
Er kam auf dem Hohen Fläming zur Welt.
Weil er keine Mutter hatte, warf man ihn in den Hammelstall.
Die guten Hammel wurden die besten Ammen für ihn. Als ihn der uralte Schäfer entdeckte, belehrte er ihn über Sonne, Wind und Regen, über Vogelflug und Heidegras.
Der Pastor lehrte ihn sonntags lesen und schreiben.
Bei dem das nicht gefiel, rückte er aus und stand am Abend in der Großstadt Wittenberg. Als er im Brauhof, Schloßstraße 7, bettelte, nahm man ihn als Hausknecht an. Hier entwickelte er sich zu einem hübschen großen Jungen. Diensteifrig bei der Ausspannung der Landleute und Betreuung der Pferde. So war er nach fünf Jahren stadtbekannt. Die Zeit ist damals voll Unruhe und eines Tages besetzen 1000 Husaren die Bürgerquartiere der Stadt.
Nante staunt!
Er nimmt Abschied von den Mädels, wird Bursche beim Rittmeister der Husaren.
Als er nach vierjähriger Dienstzeit in die Schloßstraße 7 zurückkehrt, hatte diese einen anderen Hausknecht.
Pate Nante läuft drei Häuser weiter zu den Postpferden in der goldenen Kugel, lernt fleißig und wird der schneidigste Postillion der Stadt.
Reitet er früh durch die Schlossstraße zum Markt 21 (Postmeisterei), öffnen die Mädels die Fenster und singen den neuen Walzer:
„Ferdinand, wie schön bist du in deinen neuen Hosen! Jedes Mädchen lacht dir zu, möchte mit dir kosen! Ferdinand reich mir die Hand usw. – Die Postkutsche fuhr die Fläming- und die Auetour. Kam er in ein Dorf, blies er:
Hört ihr, wie schön der Postillion bläset? Er bringt euch die Briefe von fern und nah! Hört ihr, ja hört ihr, er ist schon da! Trari! Trara! – Hierdurch wusste er von jeder Liebschaft auf seiner Tour.
Die Hochzeitsgäste lud er ein und kam selbst dazu.
Keine Kind Taufe ohne Nante als Fressgevatter. Er brachte Hebamme, Viehdoktor, alles, was das Dorf brauchte. Er wusste die Geburtstage von Urahne, Großmutter, Mutter und Kind.
Schon in den ersten zehn Jahren waren die meisten Kinder im Dorfe seine – – – Paten.
Blies er im Dorf sein Stückchen, dann hieß es:
Pate Nante ist da, alles rennt und holt ab, was er bringt.
So wurde er Postillion, Osterhase, Weihnachtsmann und Klapperstorch, so wurde er auch Pate von Schornsteinfeger, Bürgermeister und Landrats Kindern. Keiner von ihnen wusste das er eigentlich Schulz heißt. Alle kannten ihn nur unter dem Namen Pate Nante.
Als die Fahrpost einging brachten ihm die Landleute Lebensmittel, Kleidung in solchen Mengen, dass er sich den Trödelladen eröffnen konnte. Wie er nun abbrannte, wiederholte sich dies, weil die Paten sich weiter mit ihren Sorgen und Nöten an ihn wandten. Man zeigte sich erkenntlich, trotzdem er persönlich nicht wieder zu ihnen kam. Nur einmal feierte er einen Triumph.
Der junge Arzt im Schloßlazarett, Doktor Tassilo Schmidt, saß wegen Subordination in der Festung Magdeburg.
Schmidt hatte einen sterbenden Soldaten trotz Verbot in der Nacht operiert. Der Todeskandidat lief gerettet herum, der 7. Kompanie fehlte die Leiche und Doktor Schmidt saß.
Das alte Wittenberg horchte auf.
Wir Jungens sollten bei den Bewohnern der Stadt um Unterschrift für seine Petition zur Begnadigung des Doktors bitten.
Alle Dummheiten machen wir mit, aber betteln war damals keine Mode. Wir wandten uns an Pate Nante:
„Schafft ein schnelles Pferd, ich hole 1000 Unterschriften“.
Am nächsten Morgen fuhr er im Dogcart, mit schmucken Schimmel bespannt, seine ehemalige Fläming Tour. Wo er sein Postillion Lied blies, kamen die Leute angerannt. Nach drei Tagen kam er zurück und brachte so viele Unterschriften, dass dem Kaiser schwarz vor Augen war, und die sofortige Begnadigung erfolgte.
Doktor Tassilo Schmidt kam nach Wittenberg, Holzmarktecke.
Er erhielt von August Hartung das Haus vor dem Lutherhaus, Collegienstraße 55. Der Neubau wurde seine Privatklinik, die er bis zu seinem Tode zum Wohle der Stadt innehatte.
So stehen beide, Doktor Tassilo Schmitt und Pate Nante in Stadt und Land in bester Erinnerung.
Quelle: Geschichten vom Stammtisch um 1950 aufgeschrieben von
Otto Bendler