Maiblumenkultur in Wittenberg

Die Maiblumenkultur in den Vorstädten von Wittenberg um 1900

Erst nach der Entfestigung Wittenbergs konnten sich die Vorstädte richtig entwickeln. Bis dahin bestanden die Häuser der Elster- und Schlossvorstadt aus Holz oder leichtem Fachwerk; denn bei Kriegsgefahr mussten sie möglichst schnell abgerissen werden können. Oft wurden daher früher die „Krauter“ (Wittenberger Ausdruck für Gemüsegärtner) in ihrer Arbeit gestört oder sogar von Haus und Hof vertrieben. Rauchgeschwärzte Trümmerhaufen, zerstampfte und beraubte Gärten und Felder ohne Zaun und Baum fanden die Ärmsten bei ihrer Rückkehr aus der Probstei 1814, wo sie während der Belagerung ihr Leben in Erdhütten gefristet hatten. Sie mussten von vorn anfangen, ihr Wohlstand war dahin.
Endlich wurden nach dem Krieg 1870/71 die Festungswerke geschleift. Auch die Gemüsegärtner konnten nun frei wirtschaften und voll Hoffnung an neue Kulturen gehen, die auch Aussichten für mehr Verdienst boten. Die Maiblumenzucht wurde eingeführt.
Das Maiglöckchen (Convallaria majalis), auch Maiblümchen, Maischellchen, Maililie genannt, wurde schon früher in der Provinz Hannover, bei Hamburg und in Schleswig-Holstein angebaut. Die Maiblume liebt lockeren, humusreichen Boden.

Maiblumenpflanzung Ende der 50er Jahre

Gerade vor den Toren Wittenbergs gibt es solche Bodenarten bis zur Tiefe von 1 m; denn dort dehnten sich noch vor 1000 Jahren weite Sümpfe aus. Und noch heute müssen Gärten und Felder in den Vorstädten tüchtig entwässert und mit Sand überfahren werden, damit die dem Humusboden fehlenden mineralischen Bestandteile – die gerade das Maiglöckchen braucht – hinzukommen. Im Herbst wird der Wurzelstock in die Erde gelegt.

Maiblumenpflege

Derselbe zeigt zweierlei Keime: Brut- und Blütenkeime. Erstere sind 12 cm lang und bleistiftstark, letztere etwas größer. Die Blütenkeime brauchen zu ihrer Entwicklung 2-3 Jahre. In der Wittenberger Gegend ist nur eine zweijährige Kultur lohnend. Diese Blütenkeime lässt man aber nicht zum Blühen kommen, sondern entfernt von Ihnen die lederartige Hülle, d. h. man „putzt“ sie. Das ist eine allgemein übliche Beschäftigung unserer Vorstädter, zu der sie schreiten, wenn draußen in Feld und Garten weniger zu tun ist.

Maiblumen putzen

Da die eigenen Kräfte hierzu oft nicht ausreichen, werden Hilfen dazu angenommen, meist ältere Frauen, die sich auf diese Art des Putzens schon seit langen Jahren verstehen. Die „geputzten“ Mai-blumen werden gebündelt, weil sich an ihnen bis 25 cm lange Wurzeln befinden, und nun verpackt man sie mit Moos in Kisten. Ein Aufkäufer, deren es in unserer Gegend mehrere Berufsstände gibt, und die ihre Kaufgesuche im Herbst in großen Anzeigen zu veröffentlichen pflegen, verhandelt so die „Blüher“ meist an ausländische Gärtnereien. Besonders Holland, England und Amerika sind Abnehmer. In der Inflationszeit zahlten diese Länder selbstverständlich mit Devisen. Unsere Gärtner konnten so ihre Kulturen durch die schlimme Zeit hindurch retten. Vor dem Weltkrieg war auch Russland ein guter Abnehmer. Augenblicklich versucht Amerika, auch deutsche Brutkeime zu bekommen, um den Anbau selbst zu bewerkstelligen.

Sortiermaß für Maiblumenkeime

Die Wittenberger Maiblumenfelder erfordern sehr viel Pflege und Arbeit. Oft müssen sie vom Unkraut befreit werden. Leider macht sich bei dieser verhältnismäßig jungen Kultur auch schon eine gewisse Bodenmüdigkeit bemerkbar. Es steht zu hoffen, dass die deutsche Wissenschaft auch dagegen ein Mittel finden wird.
So trägt auch die Maiblumenkultur unserer Mitbürger in den Vorstädten zum Wohlstand unserer Heimat bei. Der Name Wittenberg wandert mit den zarten Keimen, in denen die schönste deutsche Blume schlummert, hinaus in alle Welt und verkündet so deutschen Fleiß und die einzigartige Schönheit unserer Laubwälder im Frühling. Die größte Freude erwecken diese Boten aus der deutschen Heimat besonders bei unseren Auslandsdeutschen.
Ein Wittenberger, der schon seit vor dem Kriege in Südamerika lebt, erzählte davon im vorigen Jahr: „Schon lange freuten wir uns auf die Ankunft des deutschen Dampfers in Buenos-Aires 14 Tage vor Weihnachten. Ein bekannter Hamburger Schiffsoffizier hatte uns eingeladen, auf dem Ozean Riesen endlich wieder einmal ein gutes Glas deutsches Bier vom Fass und Eis zu trinken. Mit uns waren noch viele deutsche da. Beim Abschied machte nun der Offizier meiner Frau die größte Freude durch die Überreichung einiger Maiblumenkeime, die die weite Reise im Kühlraum des Dampfers von Hamburg mitgemacht hatten.

Maiblumenkeimlinge

Wir setzten sie in Töpfe, und schon nach einigen Tagen zauberte die feucht heiße Treibhaustemperatur die Knospen hervor. Gerade zu Weihnachten konnten wir zu unserer größten Freude die vollblühenden Maiglöckchen unter den „Tannenbaum“ stellen – ein Geschenk und Wahrzeichen unserer Heimatstadt Wittenberg!“

Quelle:
Blätter für Heimatgeschichte, 3.Jahrgang, Nummer 14, Sonntag, den 25. Oktober 1925

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