In einem wendischen Dorfe vor 1000 Jahren

1927.05.19. Unser Heimatland

Seit dem 7. Jahrhundert bis in das zwölfte Jahrhundert hinein wurde unsere Heimat von den Wenden und zwar von dem charakteristischen Stamme der Sorben bewohnt. An diese ehemaligen Bewohner erinnern noch heute zahlreiche Ortschaften in ihrer Bauart, dem eigenartigen Rundling, und ihren Namen, deren Endung auf „ow, au, itz, itzsch, ig“ den sorbischen Ursprung verrät. Auf Grund der nachfolgenden Beschreibung soll versucht werden, unsern Lesern das Bild eines Sorbendorfes und seiner Bewohner zu geben.

Hinter den kahlen Sandhügeln im Osten steigt die Sonne empor. Ihre Strahlen vertreiben den Nebel, der über dem Elbstrom lagert. Noch engt kein Damm die wogende Flut ein, die sich an vielen Stellen zum See erweitert, aus dem Schilf und Sumpfgebüsch emporragt – ein Tummelplatz für große Scharen von allerlei Wasservögeln.
Inmitten der sumpfigen Niederung erhebt sich ein dunkler Eichenwald. Der Morgenwind rauscht leise in den hohen Wipfeln sein Lied und schüttelt perlenden Tau hinab ins weiche Moos. Da knackt es im Gebüsch; ein Mann bahnt sich durch das dichte Unterholz seinen Weg. Jetzt hat er den engen Fußpfad erreicht, wo er aufatmend stehen bleibt und sich den Schweiß aus dem breiten Gesicht wischt. Von der Schulter wirft er eine schwere Last; es ist ein stattlicher Rehbock, den er in der Morgenfrühe auf der Waldwiese in der Schlinge gefangen hat. Mit dem kurzen Messer, das am Leibgurt blitzt, hat er ihm den Todesstoß versetzt und ihn dann mit geübter Hand ausgeweidet. Nun nimmt er auch die Lederkappe vom Kopfe und streicht mit der braunen Hand das lange schwarze Haar aus dem Gesicht. Aufmerksam schweifen seine grauen Augen über den Fluß hinüber zu den dunklen Bäumen am jenseitigen Ufer. Hinter ihnen verborgen liegt sein Haus, wo Weib und Kind der Rückkehr des Vaters harren. Mit einer raschen Bewegung schwingt er das erlegte Wild wieder auf die Schulter, faßt den Bogen, den er heute nicht zu spannen brauchte, und schreitet räftig auf dem engen, gewundenen Pfade weiter. Wenn auch hier und da die Schwarzdornbüsche ihn streifen; sie reißen kein Loch in das dichte wollene Gewebe seines Wamses und in das feste Linnen seiner Beinkleider.
Am Ufer des Flusses hemmt er seine Schritte. Er ruft und winkt dem Fährmanne, der drüben am andern Ufer seine Fischnetze auf Pfählen zum Trocknen aufgehängt hat. Dieser bindet den Kahn los und holt den Jäger herüber. Dabei rudert er nicht, sondern schiebt mit einer langen Stange, die er bis auf den Grund stößt, das Fahrzeug vorwärts. Mit freundlichem Danke wandert der Jäger weiter. Sein Weg führt ihn an der niedrigen Lehmhütte des Fischers vorüber. Das breite Strohdach ragt weit über die Wände hinaus; es ruht auf Holzsäulen, die tief in die Erde ein gerammt sind. Eben tritt die Frau des Fischers durch die enge Tür und ruft dem Jäger einen freundlichen Gruß zu, den dieser fröhlich erwiedert. Er schreitet rüstig auf den breiten Weg zu, der nach dem Dorfe führt. Zur rechten Seite desselben dehnen sich breite Getreidefelder aus. Auf dem einen hält ein Landmann mit einem Paar Kühen, die er vor den hölzernen Pflug gespannt hat. Dieser trägt an seinem unteren Ende einen eifernen Haken, der beim Adern die Erde aufreißt. In das frischgepflügte Feld sollen Rüben gesäet werden. Jetzt macht der Weg eine Wendung, und vor dem heimkehrenden Jäger liegt das Heimatdorf.
Eine Anzahl Lehmhütten, wie die Wohnung des Fischers gebaut, stehen in Form eines Kreises beieinander. Hinter jedem Hause liegen auf einem Holzgestelle die Bienenkörbe, die ihrem Besitzer reichliche Ausbeute liefern. Der süße Honig schmeckt gut zum kräftigen Schwarzbrot. Doch mischt man ihn auch in den Met, den die Frauen aus Gerste brauen. Auf der großen Wiese vor dem Dorfe springen muntere Kinder umber. Im Dorfe selbst ist es still; denn seine Bewohner gehen ihrer Beschäftigung nach. Nur einige halbnackte Kinder tummeln sich schreiend auf dem Dorfanger, und vor einer Tür wälzen sich grunzend ein paar borstige Schweine im Schmutze. Als die Kinder den Jäger erblicken, kommen sie neugierig herbeigelaufen, um den toten Rehbock zu sehen und sein glattes Fell zu streicheln. Auch der Töpfer, der dort neben seinem Hause aus dem weichen Ton Gefäße formt, tritt herzu, um das stattliche Wild zu betrachten. Dann geht er wieder an seine Drehscheibe, um die unterbrochene Arbeit fortzusehen. Der Schmied dagegen läßt sich beim Anblick des Jägers nicht stören. Er hämmert auf seinem Amboße, daß man die Funken durch die Fensterluken sprühen sieht. In wenigen Wochen ist die Ernte, da brauchen die Bauern Sicheln, damit sie das Getreide schneiden können, und zum Holzfällen im Herbste müssen Aexte und Sägen bereitliegen.
Jetzt ist der Jäger vor seinem Hause angelangt, wo ihn die Seinen freudig begrüßen. Die Hausfrau steht am offenen Herde und rührt in einem irdenen Topfe, der auf einem Dreifuß über dem Feuer steht. Sie kocht Erbsen zum Mittagsmahle. Am Webstuble sitzt die Großmutter und fertigt aus Schafwolle warme Kleidung für den Winter. Die beiden ältesten Kinder aber halten sich hinter dem Hause auf der Tenne auf. Das schwarzhaarige Mädchen steht im kurzen wollenen Rödchen barfuß, auf dem kalten Lehmboden an einem großen runden Steine. Auf diesem dreht sie an einem Stabe einen anderen schweren Stein und zerreibt mit ihm die daraufgeschütteten Roggenkörner zu Mehl. Neben ihr sitzt auf einem Holzstoße der Bruder, ein Jüngling mit blitzenden Augen und kräftigen Armen, der Pfeile für des Vaters Bogen schnitzt. Beide beeilen sich, mit ihrer Arbeit fertig zu werden, denn am Nachmittag und Abend wird ein großes Fest, die Sommersonnenwende, gefeiert. Da ziehen sie alle in Festgewande hinaus an den Altar des Lichtgottes Belbog und schmücken ihn mit Blumenkränzen. Dann geht es in den Kretscham, das Gasthaus. Da wird Met getrunken und nach den Klängen des Dudelsackes getanzt. Bei Einbruch der Dunkelheit aber lodern zu Ehren der lieben Sonne Feuer von den Höhen, und das Jauchzen froher Menschen klingt durch den stillen Wald.

Max Jochen

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