1927.08.04. Wittenberger Tageblatt
Allen Einwohnern der Lutherstadt Wittenberg ist die bei Reinsdorf gelegene Hohe Mühle bekannt, die als Ausflugsort beliebt ist.
Wenig bekannt dagegen dürfte es sein, daß diese ehemals die Walkmühle der Wittenberger Tuchmacherinnung war. Diese ursprüngliche Walkmühle lag auf dem sogenannten Walkmühlfelde, das sich am linken Ufer des rischen Baches befand und bis an die Berliner Straße heranreichte. Kurfürst Johann Georg schenkte im Jahre 1682 das Walkmühlenfeld mit der daraufstehenden Walkmühle der Wittenberger Tuchmacherinnung, deren Fabrikate zu jener Zeit einen Weltruf besaßen. Als aber am 6. April 1813 der französische Gouverneur Lapoype die Wittenberger Vorstädte niederbrennen ließ, da fiel auch die Walkmühle diesem rücksichtslosen und grausamen Befehle zum Opfer.
Die Tuchmacherinnung kam dadurch in große Verlegenheit, da sie nach den geltenden Bestimmungen die Mühle in der Nähe der Festungswerke nicht wieder aufbauen durfte. Sie wandte sich daher in einem Bittgesuch an König Friedrich Wilhelm III. von Preußen, als dieser am 31. Oktober 1817 zur Grundsteinlegung des Lutherdenkmals in Wittenberg weilte. Die unter genauer Schilderung der Verhältnisse vorgetragene Bitte hatte den erfreulichen Erfolg, daß schon im folgenden Jahre auf Veranlassung des Königs die Regierung zu Merseburg der Tuchmacherinnung die zur Altmühle eingerichtete Hohe Mühle mit den dazu gehörigen Ländereien überwiesen wurde – eine Zuwendung, die sich bei der Separation noch um 12 Morgen Wiese vermehrte.
Mit dem Niedergang der Wittenberger Tuchindustrie stellte auch die Walkmühle ihren Betrieb als solche ein und wurde in eine Mahlmühle umgewandelt.
Diese Wittenberger Tuchinduftrie war ehemals sehr bedeutend. Noch im Jahre 1850 gehörten der Tuchmacherinnung 20 Meister an, die mit 120 bis 130 Gesellen und 25 bis 30 Lehrlingen arbeiteten. Die Wittenberger mit Indigo und Ward echt in der Wolle gefärbten Tuche besaßen, wie schon bemerkt, Weltruf, und die Wittenberger Tuchmacher waren willkommen auf allen Märkten und Messen. Sie exportierten ihre Tuche sogar nach Amerika, und man sagte ihnen nach, daß sie nach den Messen sich „auf ihren goldenen Ernten wälzen konnten“. Das wurde jedoch Ende der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts anders. Die Buckskins, auf Herstellung ihre Webstühle nicht eingerichtet waren, kamen in die Mode, die mechanischen Webstühle kamen auf, und die Erbauung neuer, leistungsfähiger Fabriken stieß in der Festung Wittenberg auf unüberwindliche Schwierigkeiten. In der benachbarten Stadt Luckenwalde entstand eine empfindliche Konkurrenz, und Amerika sperrte durch hohen Schutzoll den Deutschen Tuchen den Markt, Australien warf seine billige Wolle auf die Märkte, und Wittenbergs einst so blühende Tuchindustrie wurde kleiner und immer kleiner, bis endlich auch die letzten Handwebstühle aufhörten zu klappern. Zuletzt blieb nur noch die kleine Tamm’sche Fabrik übrig, die sich aber trotz allen Fleißes und aller Anstrengung nicht halten konnte, und am 22. September 1904 endlich den Konkurs anmelden mußte, womit der letzte Rest des einst so bedeutenden heimischen Gewerbezweiges verschwand.