Hirtenleben im vorigen Jahrhundert

1927.09.08. Unser Heimatland

1. Auf den Brachwiesen
In einem Bauernhofe wird allerlei Groß- und Kleinvieh gezogen und gepflegt wie die Kinder. Da sind Hühner, Enten, Gänse, Schweine, Schafe, Kühe, Ochsen, Pferde und zumeist auch Bienen vorhanden, die alle ihre Nahrung finden und zugleich zur Ernährung ihrer Züchter und Herren beitragen.
Wenn da nach langen, dunklen Winterwochen die dicht verwahrten Ställe geöffnet und an sonnigen Frühlingstagen gelüftet werden, dann hüpft und springt das „liebe Vieh“ hinaus auf den rings geschlossenen Hof und rennt und wirbelt bunt durcheinander; und der Hund an der Kette bellt unaufhörlich voll Zorn und Eifer und möchte selber mit dazwischen springen und jagen.
Und die Kinder im Bauernhof!
Die sehen mit großer Lust dem Springen, Tollen und Treiben der bunten Herde zu, treten furchtlos an die Brüstung, locken und streicheln ihre Lieblinge, das Jungvieh, und reichen ihnen Lederbissen dar.
Ja, man pflegt zu sagen:
„Die Bauernkinder wachsen mit dem Vieh zusammen auf.“
Nur, daß das Vieh wohl zehnmal schneller aufwächst und groß wird.
Ist die Natur in der Frühlingsentfaltung der Pflanzenwelt weiter fortgeschritten, so hört in den Bauernhöfen die Winterfütterung auf, und Klee- und Frischgrasfütterung tritt an ihrer Stelle.
In der Jugend des Erzählers kam schon vor Pfingsten die Brachweide zur Erleichterung der Fütterungsarbeiten hinzu.
Da wurde das Vieh „ausgetrieben“, die Schweine auf die weite Trift mit einem großen Puhl, worin die Schweine Tränke und Wasser und Moorbäder fanden, Schafe und Großvieh auf die mehrere Morgen umfassenden Brachfelder.
Hier wurde ein Dreifaches erreicht: diese Felder ruhten ein Jahr ohne Bestellung einer Feldfrucht; sie wurden durch das Abweiden vorteilhaft von den Samen-Unkräutern gereinigt und zugleich durch die Kuhfladen und Schafkutteln gedüngt.
Nun waren die Schweine und Schafe große Sammelherden aus allen Bauernhöfen mit zwei von der Gemeinde angestellten Hirten, während die Rinderherden kleinere Einzelherden bis zu 20 Stück bildeten, die ja meist von einem kleinen Hirten zur Weide getrieben wurden.
Bei einer solchen Gehöft-Herde war auch der Erzähler in seinen Knabenjahren angestellt, und er war immer mit großer Lust zu diesem Hirtendienst bereit.
Gewöhnlich begleitete ein Hund die kleine Herde, der die Rinder half zu sammenhalten und auf der Brachweide wie auch auf der Stoppel- und Wiesenweide mit Acht gab, daß das Vieh nicht „zu Schaden“ ging.
Auf den Brachfeldern wuchsen die zuckersüßen, „Bäden“ (Quecken) und besonders der weithin rotglänzende „Sorgel“ (Ampfer minor) in ungeheuren Mengen sowie auch Feldstiefmütterchen, Hirsegras, Hederich und andere saftige Kräuter, die der junge Hirte später alle mit Namen kennen lernte.
Wenn die Herde eifrig weidete und Groß und Klein sich den Pansen, den Füllmagen, bis zur äußersten Aufbauchung vollstopfte, hatten Hund und Hirte wohltuende Muse zu allerlei Zeitvertreib.
Da wurde der Hund, der mit seinem kleinen Herrn Frühstück und Vesper teilte, zu mancherlei Künften abgerichtet, ober der Hirte las gern in einem Buche, malte im Sande und schrieb seinen und andere Namen, oder aber, er mußte auf Mutters Drängen und Ermahnen den mit ebrachten Strickstrumpf zur Hand nehmen und fleißig Stricken.
Ja, damals gab es wohl selten einen Hirten, der nicht den Strickstrumpf hätte schwingen können. So taten es die Schweinehirten und besonders die Schafhirten und auch die Rinderhirten. –
Und der Erzähler kann noch in seinem Alter den Strumpf stricken von der ersten Aufnahme-Masche bis zum Schlußknoten an der Strumpfspitze. Das Stricken hat er von seinen Schwestern gelernt, denn die Mutter selbst konnte nur spinnen. Und Flachs hat sie gesponnen bis in ihr hohes Alter über die Achtzig hinaus, so daß sie mit Hilfe des Leinwebers in der nächsten Stadt Leinenvorräte für die Ausstattung ihrer Töchter und Söhne ansammelte, Leinenvorräte, derb und fest, aushaltend für mehr als ein langlebendes Geschlecht. – Der Strumpstricker bei der Herde wurde immer zum fleißigen Stricken ermahnt und mußte jeden Abend seine geleistete Arbeit vorzeigen.
Doch blieb ihm immer noch Zeit genug zum Spielen und zur Herstellung von kleinen Schnitzarbeiten.
Aber es gab auch noch andere Abwechslungen und auch Störungen der nützlichen Nebenarbeiten des Hirten.
War seine Jugengespielin, Nachbars Malchen, mit ihrer Kuhherde in der Nähe, so konnte Langeweile nicht aufkommen. Die Nachbarskinder vertrugen sich aufs beste und waren gern beieinander, auch draußen beim Viehhüten.
Malchen hatte auch ihren Strickstrumpf mit, aber da ihre Mutter nicht so streng nach der Förderung der Strickarbeit sah, so ließ ihr Töchterchen oft ihren Strumpf „still liegen“ und strickte lieber an dem Strumpf ihres Nebenhirten, und der mußte dann erzählen und allerlei Bilder in den Sand malen.
Aber Malchens Brachfeld war nicht jedes Jahr nahe bei, und das Zusammenspielen war dann unmöglich. Nun, da mußte jeder sich selber die Zeit vertreiben, und oft klangen dann muntere Schul- und Volkslieder aus den frischen Kehlen der jungen Hirten über die Brachfelder.
Aber ach! Im heißen Sommer gab es manchmal eine plötzliche Unterbrechung der Ruhe und Gemächlichkeit auf der Brachweide.
Wenn die Sonne um Mittag glühend heiß auf die schattenlosen Fluren niederbrannte, und eine drückende Schwüle ohne fächelnde Kühle herrschte, da stellten sich unliebsame, freche, blutgierige Gäste ein das waren die Stechfliegen und die fast Maikäfer großen Bremsen ober Kuhfliegen, die das sonst ruhig weidende Vieh plötzlich in eine wildrasende Herde aufschreckten.
„Herrgott, der Kießling kommt!“ hieß der Schreckensruf, wenn die Blutsauger in Schwärmen mit greulichem Summen in die Kuhherde einfielen.
Da nahmen die Kühe die Schwänze hoch, und fort und auseinander sprengten sie davon durch das halmhohe Korn, über Rüben und Kartoffelfelder, dem nicht fernen Schweinepuhl zu, um sich dort im Wasser der Peiniger zu entledigen. Da peitschten sie mit dem Schwanze und stampften mit den Füßen das trübe Wasser, in dem erst kurz vorher die Schweine sich abgekühlt hatten, und das Teichwasser ward förmlich in Schaum verwandelt.
Endlich waren die Blutsauger verscheucht, und die nunmehr schmutzige Rinderherde konnte mit Hilfe des Hundes wieder auf die Weide oder in die heimatlichen Ställe getrieben werden.
Der vom Schweiß triefende Hirte mußte dann daheim erzählen, wie wieder einmal,,der Riebling“ gekommen war.
2. Bei Schweine- und Schafherden
Die Schweineherde war eine Sammelherde aus allen Gehöften der Gemeinde, die, soviel sich der Erzähler aus frühester Kindheit entsinnen kann, von einem Knaben und zwei Mädchen des Gemeindedieners und Nachtwächters gehütet wurden. Doch nur wenige Jahre hielt sich diese Familie im Orte.
Als die Mädchen aus der Schule gekommen waren, strebten sie der Großstadt zu; denn es paßte diesen ländlichen Schönen nicht, die groben harten Arbeiten in den Bauernhöfen für einen „Bettellohn“ zu übernehmen. Die wähnten sich viel zu fein, um Mägbedienste zu übernehmen. Und der Hirtenvater, der selber arbeitsscheu war und als Bock im grünen Garten erwischt wurde, zog mit den Flederwischen nach Berlin, wo sie infolge nächtlicher Straßen-Ausflüge als lockere Vögel täglich zu Grunde gegangen sind.
O, was waren Nachbars Malchen und ihre Schwester doch für blitzsaubere Engel dagegen! In das Gemeindehaus zog bald ein anderer Mann, der lange als Knecht in Orte gedient hatte und noch spät eine zu ihm passende Frau heiratete.
Die beiden waren kinderlos, und da der Mann laut Dienstvertrag mit dem Gemeindevorstand auch das Hirtenamt für die Schweine übernommen hatte, so war er genötigt, aus einem nahen Dorfe einen Waisenknaben anzu nehmen, der ihm half, die Schweine zu Hüten.
Dieser neue Schweinehirte von redlichem Sinn wurde bald ein Freund des Erzählers, und so erhielt der Hilfshirte noch einen Helfer, wenn letzterer nicht selbst die Kühe hüten mußte.
Und es war noch ein merkwürdiger Hirte vorhanden, das war
Der Schafhirte.
Vom Schäfer geht da im Volksmunde ein Reim um:
Kannte Finger piepen:
Kannte Kiele (Keule) schnieten!
Kannte Hunde hetzen!
Kannte Schäfer werren!“

Seinerzeit war unser Schafhirte ein alter Junggeselle, der im Winter und überhaupt im Armenhause eines weit entfernten Dorfes sein Unterkommen hatte, und wenn er nicht im Hirtendienste stand, ein gar karges Dasein führen mußte.
Er war groß und kernig, fast schrecklich mager nnd eckig im Gesicht, trug alle Jahre dieselbe dunkle Kleidung, etwas zerschliffen, aber immer reinlich und gut geflickt.
Daß ihm die Flicklappen nicht fehlten, dafür sorgte „Wägners Mutter“; das Flicken-Einsetzen aber konnte er wie ein geübter Schneider selbst. Und auch er handhabte den Strickstrumpf für die Leute, die ihm die Wolle brachten. Dieser Schafhirte blies beim Austreiben seiner Herde eine Trillerpfeife, während der schon vorher ausgerückte Schweinehirte auf einen hohlen Kuhhorn sein dreimaliges ,,Tut, tut, tu – t“ (in Worten ausgedrückt:,,Schwei – ne – rut!“) vor jedem Gehöft ertönen ließ.
Der Schafhirte wurde, „Reihe um“ verpflegt, wie ehedem die SchuImeister in den kleinen Dörfern. Er wechselte jede Woche seine Schlafstelle, hatte ganz wenig „Umzugsgut“: einen großen Hirtenstab und eine lederne Hirtentasche, sowie einen großen blauen Mantel mit Schulterkragen, den er immer bei gutem und schlechtem Wetter mit auf die Schafweide nahm.
Diese Weide umfaßte die gesamte Flur der Gemeinde, wenn die Halmfrüchte eingeerntet waren und zwischen den Stoppeln frische junge Gräser und Blumen aufsproßten.
Und die Schafe gediehen sichtlich unter der fürsorglichen Hut des alten Hirten und seines Hundes, den er wie sein Kind hielt, und der seinem Herrn, welcher immer schwerfällig daher stapfte, ein gar treuer und wackerer Helfer war.
Die Schafherde blieb jeden Tag über Mittag auf der Weide, und das Essen für den Hirten mußte von dem Gehöft besorgt werden, in dem der Schafhirte sein Nachtlager hatte.
Das Essenbringen aber übernahmen sehr gern die Kinder, weil der alte Mann ein großer Kinderfreund war und immer eine kleine Belohnung für den oft weiten Weg bereit hielt: eine Hand voll Brombeeren oder Erdbeeren, ein buntes Sträußchen für die Mädchen oder ein selbst geschnittes Spielzeug.
Dieser Schafhirte war auch ein wandelndes Märchenbuch.
O, der konnte Märchen und Geschichten erzählen, fast noch besser als die Mutter des Erzählers, die doch wahrhaftig darin „etwas raus“ hatte.
Wenn die Schafe nach der Frühweide satt waren und anfingen, zum Wiederkäuen sich hinzulegen, dann trieb der verständige Hirt seine Herde in den Schatten einer der Rieseneichen, die an den Rändern der Felder und Wiesen standen. Hier hielt er mit seiner Herde die Mittagsrast, und wenn Hund und Hirte ihren Hunger aus dem zugetragenen Henkeltopf gestillt hatten, dann fing er an mit erzählen.
Und keiner hörte dann eifriger mit munteren Augen zu, als ein gewisser August, der, zur Mutter zurückgekommen, die eben gehörte Geschichte der Mutter wieder erzählen konnte. Und die Mutter freute sich, daß der Junge ein so gutes „schnelles“ Gedächtnis hatte.
Die Mutter stammte vom hohen Fläming, und der alte Hirte hatte „da oben herum“ auch seine Heimat; und so sprachen die Beiden des abends immer im Flämings-Platt, das bekanntlich von den Holländer-Einwanderern und Siedlern zur Zeit Albrecht des Bären hergekommen ist.
Ja, die Mutter war eine Sprachkundige und hatte eine gar flinke Zunge in 4 Sprachen, das waren das Fläminger Platt, das Spreewälder Wendisch (ihr Vater hatte bei Lübben im Spreewald seine Heimat), dann das in der Schule gelernte Hochdeutsch und das ,,Buschdörfer Kauderwälsch“, das sie erst als junge Frau sich aneignen mußte.
Von dem Schafhirten aber ging die Sage um, daß er ein „Verstudierter“ sein müsse, weil er mehr wie vier Sprachen verstehe und reden könne wie ein Buch. Daher die Kenntnis der vielen Märchen und altdeutschen Sagen.
Also, er war ein „Entgleister“ und starb hochbetagt als getreuer Hirte im Armenhause seiner Heimat auf dem hohen Fläming.

A. Wägner aus Roßleben

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