Auf allseitigen Wunsch erscheint die „Geschichte der Stadt Wittenberg“ in Buchform, nachdem sie zuerst im „Wittenberger Tageblatt“ in einzelnen Fortsetzungen veröffentlicht wurde.
Das Werk will in lückenloser Darstellung die Geschichte unserer Lutherstadt von ihren Anfängen bis zur Gegenwart schildern. Bisher fehlte eine derartige zusammenhängende Schilderung, da die älteren Publikationen entweder nur eine bestimmte Periode umfassen, oder bloß einzelne hervorragende Episoden beschreiben. Außerdem sind die wichtigsten der in Betracht kommenden Veröffentlichungen im Buchhandel nicht mehr zu haben. Die letzte zusammenhängende Darstellung (Meyner, Geschichte der Stadt Wittenberg) reicht nur bis zum Jahre 1842.
Seitdem fand sich kein Chronist, der die Geschichte unserer Stadt gerade in den wichtigsten Abschnitten ihrer Entwicklung geschildert hätte. Von den sporadischen Publikationen, die nur einzelne besonders hervortretende Ereignisse zum Gegenstande haben, können wir dabei absehen. Dem angeführten Mangel soll nun die vorliegende „Geschichte der Stadt Wittenberg von ihren Anfängen bis zur Gegenwart“ abhelfen. Bei ihrer Abfassung hat sich der Verfasser bemüht, jedes bemerkenswerte Ereignis festzuhalten, von dem er annehmen durfte, daß es allgemeinem Interesse begegnet.
Von älteren Werken wurden benutzt:
– Stier, Wittenberg im Mittelalter;
– Bernhard, Wittenberg vor 50 Jahren und
– Meyner, Geschichte der Stadt Wittenberg.
Für alles weitere waren umfangreiche Forschungen notwendig, und es wurden die verschiedensten einwandfreien Quellen nutzbar gemacht.
Möge das Buch überall freundliche Aufnahme finden und dazu beitragen, daß mit der Kenntnis der wechselvollen Geschichte unserer Lutherstadt auch die Liebe zu dieser genährt und gestärkt werde!
Wittenberg, im November 1910.
Richard Erfurth † »»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»
1. Wittenberg unter den Askaniern.
Unsere Stadt blickt auf eine lange, bewegte Vergangenheit zurück. Ihre Anfänge reichen bis in die Zeit der Kaiser aus dem Hause der Hohenstaufen. Vermutlich ist sie bereits im Jahre 1174 gegründet; urkundlich wird ihr Name zuerst im Jahre 1180 genannt. Die Stadt entstand neben einem Burgwart, d.h. einem befestigten Platze, der als deutsche Grenzwarte zum Schutze des Landes gegen die umwohnenden Slawen angelegt war. Jahrhundertelang hatte der Kampf zwischen Deutschen und Slawen in unserer Gegend gedauert, bis endlich Markgraf Albrecht der Bär (regierte 1134 bis 1170) aus dem Hause Anhalt oder Askanien mit starker Hand dem Deutschtum und dem Christentum dauernd zum Siege verhalf. Aber ganze Dörfer standen leer. Ihre wendischen Bewohner hatten – um nicht den fremden Eroberern und ihren Priestern gehorchen und zinsen zu müssen – der Heimat den Rücken gekehrt und neue Sitze in den blühenden Wendenreichen des Nordens und Ostens gesucht. Markgraf Albrecht sah sich nach Bewohnern für das Land um. Zu jener Zeit war in den niederländischen Marschlandschaften wiederholt die Nordsee eingebrochen und hatte den Bewohnern Grund und Boden, Haus und Habe geraubt. Wohin sollten die Unglücklichen sich wenden? In der dichtbevölkerten Heimat war kein Platz mehr für sie. Wanderten sie aber in die benachbarten Gebiete, so verloren sie nach den rauhen Gesetzen jener Zeit, die den Fremdling zum Sklaven und seinen Besitz zum Eigentum des Landesherrn machten, vollends alles, selbst ihre Freiheit. Mit Freuden folgten daher die Niederländer oder wie sie nach der Provinz Flamland genannt wurden – die Fläminger dem Rufe Albrechts des Bären, der ihnen im eroberten Slawenlande Wohnung und freien Besitz anbot. An den Ufern unserer Elbe entfaltete das rührige, anstellige Völkchen bald eine segensreiche Tätigkeit: sie trockneten Sümpfe aus, dämmten die Flüsse ein, rodeten Wälder aus und gründeten zahlreiche Niederlassungen. So gründeten sie neben dem erwähnten Burgwarte einen Ort, dem sie den Namen Wittenberg, d.h. Weißenberg oder Weißenburg gaben (witt-weiß). So nannten sie ihn vielleicht nach den weißen Sandhügeln am Elbufer. Aus diesem Namen geht deutlich hervor, daß nur deutsche und zwar niederdeutsche Ansiedler unsere Stadt gegründet haben können, denn während der bei weitem größere Teil der umliegenden Ortschaften Namen führt, die nur aus der sorbisch-wendischen Sprache abzuleiten sind, weist der Name Wittenberg unzweideutig auf niederdeutsche Abstammung hin. So stand Wittenberg inmitten einer slawisch benannten und zu einem großen Teile noch slawisch redenden Umgebung da als eine Warte deutschen Wesens und ein Hort deutscher Sprache und Gesittung.
Markgraf Albrecht der Bär war der erste fürstliche Beschützer von Wittenberg. Nach seinem im Jahre 1170 erfolgten Tode teilten sich seine Söhne in seine Länder.
Bernhard erhielt die anhaltischen Stammlande mit dem späteren Kurkreise. Im Jahre 1179 verlieh ihm Kaiser Friedrich Barbarossa hierzu noch den östlichen Teil des Herzogtums Sachsen, welches dem treulosen Herzog Heinrich dem Löwen genommen wurde. Bernhard wohnte bereits zeitweilig in Wittenberg, wo er sich ein Schloß bauen ließ. Da er sich von seinen Brüdern durch ein besonderes Wappen unterscheiden wollte, so vermehrte ihm der Kaiser auf seine Bitte das alte Wappen der Askanier, welches aus fünf schwarzen Balken im goldenen Felde bestand, um den sogenannten sächsischen Rautenkranz, der, trotz der vielfachen Lesarten, die sich daran knüpfen, jedenfalls nichts anderes bedeutet, als die rautenförmige Herzogskrone. Von dem schwarz-goldenen Wappen der Askanier ieiten sich die Stadtfarben von Wittenberg, schwarz-gelb (gold) ab. Wie wehrhaft Wittenbergs Bürger schon damais waren, erkennt man daraus, daß sie auf Bernhards Befehl die auf dem Wallberge bei Dobien belegene Burg zerstörten, weil deren Ritter fortgesezt die von Brandenburg nach Leipzig reisenden Kaufleute beraubten. Auf Bernhard folgte sein Sohn Albrecht I. (1212 bis 1260), der sich zuerst Herzog von Sachsen, Engern und Westfalen nannte. Auch ihn diente Wittenberg zeitweise als Wohnsitz.
Wenigstens trägt eine von ihm unterschriebene Urkunde den Vermerk:
„Gegeben zu Wittenberg, den 11. Septembris 1227.“
Seine fromme Gemahlin Helene erbaute an der Stelle der der heutigen Artilleriekaserne am Arsenalplatz den Franziskanermönchen ein Kloster. Albrecht II. (1268 – 1290); welcher bis 1282 gemeinschaftlich mit seinem Bruder Johann regierte, schlug dauernd seinen Wohnsitz in Wittenberg auf.
Er war ein tapferer Feldherr. Während seiner Regierung lebte er in beständiger Fehde mit dem Erzbischof Günther von Magdeburg. Im Jahre 1278 wurde er von diesem besiegt. Er wetzte diese Scharte in einem Treffen an der Peine wieder aus, konnte jedoch nicht verhindern, daß die Feinde bis dicht an die Mauern Wittenbergs streiften und besonders Niemegk und Belzig plünderten. Der infolge dieser Fehden eintretende Geldmangel, sowie der Wunsch, sich die Bewohner zu williger Heeresfolge zu verpflichten, veranlaßte Albrecht II. im Jahre 1293, Wittenberg städtische Gerechtsame zu verleihen, indem er die Einwohner von allen herkömmlichen Abgaben und Schuldigkeiten hinsichtlich ihres Grundbesitzes gegen Zahlung einer jährlichen zu Michaelis fälligen „Bede“ von 50 Mark befreite.
Die hierüber ausgefertigte Urkunde befindet sich als ältestes Dokument im städtischen Archive unseres Rathauses und hat in deutscher Uebersetzung folgenden Wortlaut:
Im Namen der heiligen und ungeteilten Dreieinigkeit.
Amen.
Wir, Albrecht von Gottes Gnaden Herzog zu Sachsen, Westfalen, Engern, Graf zu Brehna und Burggraf zu Magdeburg, sowie Agnes, Herzogin zu Sachsen u.s.w., von denselben Gnaden, allen, die gegenwärtigen Brief sehen, Unsern Gruß in dem Herrn.
Weil die mit der Wahrheit übereinstimmende Vernunft lehrt, daß die Merkwürdigkeiten der Gegenwart durch Briefe und angehängte Siegel so unverletzt erhalten werden, daß sie nicht durch den Untergang der Vergessenheit aus dem Gedächtnis der Nachkommen verschwinden, so wollen Wir hiermit allen, sowohl gegenwärtigen als nachkommenden, so diesen Brief sehen, kund und zu wissen tun, indem Wir hiermit aus gutem Vorbedacht öffentlich bekennen, daß wir unsere Bürger in Wittenberg nach Unsrer reiflichen Ueberlegung wollen einen solchen Vorzug und Freiheit genießen lassen, daß sie der Abgaben, die sie uns von ihren Grundstücken und Gütern bisher in früherer Zeit zu geben pflegten, sollen frei und ledig sein, mit der ausdrücklich beigefügten Bedingung, daß sie gehalten sein sollen, Uns alljährlich am heiligen Michaelis feste 50 Mark zu zahlen, indem wir bestimmen, daß das genannte Geld weder zum Teil noch im Ganzen von uns oder von Unseren Nachfolgern weder unter einem Lehn – noch Erbtitel niemals irgend jemand gegeben werden soll, und aber das Geld so verteilt werde, daß davon 40 Mark zu Unserem Gebrauche kommen, die übrigen 10 Mark aber bestimmen wir für Unsre Gemahlin Agnes, Herzogin zu Sachsen; jedoch sollen sie alljährlich an dem vorgenannten Termine gegeben werden, sodaß also diese Bestimmung zu allen Zeiten für giltig und unverletzlich gehalten, und weder von Uns noch Unsern Nachfolgern unter keinerlei Vorwand oder Verpflichtung verletzt werden soll. Wir haben denselben Bürgern in Wittenberg darüber gegenwärtigen Brief, mit Unsern beiden Insiegeln bekräftigt, für immerwährende Zeiten giltig, zugefertigt. Zeugen dieser Verhandlung sind:
– Der Ritter genannt Konrad von Gacisdorpp,
– Konrad von Globic
– und der Ritter namens Swino
– und der Herr Stadtpfarrer Friedrich.
Gegeben zu Wittenberg im Jahre des Herrn 1293,
den 27. Juni.
Durch die Verleihung der städtischen Gerechtsame war ein wichtiger Schritt zum Wohlstande Wittenbergs geschehen.
Bereits acht Jahre später, 1301, erwarb die Stadt durch Kauf von der Witwe Albrechts II. das östlich gelegene Vorwerk Bruder Annendorf mit allen Aeckern, Wiesen und Weiden.
Albrecht II. war im Jahre 1298 in einer Fehde mit dem Erzbischof von Magdeburg bei Aken gefallen.
Er sowohl wie seine fünf Nachfolger aus dem Hause der Askanier wurden samt ihren Familiengliedern in der Kirche des Franziskanerklosters beigesetzt.
Als zur Zeit der Reformation das Kloster samt der Kirche verfiel, da rettete Melanchthon die Grabinschriften durch Aufzeichnen vor dem völligen Untergange. Bei genauen Nachgrabungen, die man im Jahre 1883 dort vornahm, fand man die Ueberreste von 20 Leichen – eine Zahl, die mit den historischen Ueberlieferungen übereinstimmt. Die Gebeine wurden in der Schloßkirche unter dem Orgelchore bestattet.
Auf Albrecht II. folgte Rudolf I. (1298 bis 1356).
Mit ihm beginnt die Reihe der sächsischen Kurfürsten, da Kaiser Karl IV. ihm durch die „bulle aurea Saxon“ vom Jahre 1356 die Kurwürde und den Titel eines „Erzmarschall des heiligen römischen Reiches“ verlieh.
Wittenberg wurde also Kurhauptstadt.
Auf Wunsch seiner Gemahlin Kunigunde erbaute er auf der Stelle der heutigen Schloßkirche eine Kapelle, welche der Jungfrau Maria und allen Heiligen geweiht war und stattete diese mit Einkünften aus verschiedenen Dörfern, wie Dabrun, Eutzsch und Teuchel, reichlich aus.
Unter seiner Regierung schlossen die Bürger von Wittenberg im Jahre 1306 mit den Städten Aken und Herzberg und im Jahre 1323 mit Zerbst, Köthen und Dessau ein Bündnis zur Aufrechterhaltung des Landfriedens.
Kurfürst Rudolf gab der Stadt Wittenberg zahlreiche Beweise seines Wohlwollens. So schenkte er ihr 1349 das Dorf Hohndorf sowie den Hohndorfer und Wiesigker Lug mit allem Zubehör.
Zu gleicher Zeit besaß die Stadt das Münzrecht gegen Erlegung eines jährlichen Münzgeldes von 14 M. Silber. Außerdem genoß sie das Vorrecht der Zoll- und Geleitsfreiheit, d.h. die Bürger Wittenbergs durften ihre Waren und Güter frei durch das ganze Herzogtum Sachsen führen.
Nach den Anschauungen jener Zeit suchte Rudolf I. seine christliche Gesinnung dadurch zu betätigen, daß er im Jahre 1304 die Juden aus Wittenberg und dem Herzogtum Sachsen vertrieb.
Auf ihn folgte Rudolf II. (1356 bis 1370) Die bedeutendsten Städte des Kurfürstentums waren damals, Wittenberg, Aken, Herzberg, Kemberg, Schmiedeberg, Jessen, Prettin, Belzig und Niemegk, alle bereits mit selbständiger Verfassung.
Sein Nachfolger Wenzel (1370 bis 1388) vermehrte die Privilegien der Stadt Wittenberg dadurch, daß er durch eine 1380 festgesetzte Fährordnung für die Bürger ein sehr geringes Fährgeld anordnete. Gleichzeitig erhielten diese freie Schiffahrt und freien Kornhandel auf der Elbe.
Rudolf III. (1388 bis 1419) war ein gar streitbarer Herr. Viele Jahre hindurch lag er in Fehde mit dem Erzbischof von Magdeburg.
Zum Schaden seines Landes beteiligte er sich auch an dem Kriege gegen die Hussiten, welche dann aus Rache 1429 die Gegend um Wittenberg verwüsteten, die Stadt belagerten und die Vorstädte in Brand steckten. Er schenkte der Stadt 1416 die Waldmark Münzmeisters Werder (der heutige Fleischerwerder).
Im Jahre 1406 wurden ihm seine beiden Söhne Siegismund und Wenzel durch den einstürzenden Turm des Schlosses zu Schweinitz erschlagen.
Er selbst starb in Böhmen bei einem Feldzug gegen die Hussiten.
Ihm folgte Albrecht III. oder der Arme (1419 bis 1422).
Dieser geriet bald in Streit mit der Stadt Wittenberg. Diese hatte seit zwei Menschenaltern den früher landesherrlichen Budenzins vom Markte genossen und glaubte nun auch, nach dem Beispiele anderer Städte, das nicht „auf dem Markte fallende“ Städtegeld beanspruchen zu können. Albrecht, der bei seiner Thronbesteigung eine so erschöpfte Kasse vorfand, daß er sich kaum vier Bediente halten konnte, wollte diese Einnahme nicht fahren lassen. Der Bürgermeister aber gab nicht nach, und so wäre es beinahe zwischen dem Kurfürsten und der Bürgerschaft zu einem bewaffneten Zusammenstoße gekommen. Schließlich aber verstanden sich beide Teile dazu, den klugen und gerechten Kurfürsten Friedrich von Brandenburg als Schiedsrichter anzurufen. Dieser entschied zu Gunsten der Bürgerschaft fand aber ihr Benehmen gegen ihren Landesherrn unangemessen, und erst, als sie diesem Abbitte geleistet, erhielten sie durch Friedrichs Vermittelung das strittige Recht zugestanden.
Schon im dritten Jahre seiner Regierung starb Albrecht infolge eines Brandunglücks. Er war mit seiner Gemahlin während der Jagd in seinem Jagdschlosse Lochau eingekehrt. Während der Nacht brach hier Feuer aus, und nur durch das Winseln des Jagdhundes, das den Kurfürsten weckte, entgingen beide dem Feuertode.
Der ausgestandene Schrecken aber warf letzteren auf das Krankenlager, von dem er nicht wieder erstand. Da Albrecht ohne männliche Erben war, so erlosch mit ihm das Haus der Askanier im Kurkreise. Fast 300 Jahre hatte es über Wittenberg geherrscht, und ihm verdankt unsere Stadt einen wesentlichen Teil seiner Wohlfahrt und Blüte.
2. Wittenberg unter den Wettinern.
Kaum war mit dem Tode Albrechts III. die Kurwürde erledigt, als auch schon Kurfürst Friedrich I. von Brandenburg Ansprüche auf das Kurfürstentum Sachsen-Wittenberg erhob und die Stadt Wittenberg und den Kurkreis durch seine Truppen besetzen ließ. Allein 1423 mußte er diese wieder auf Verlangen des Kaisers zurückziehen. Doch bekam er als Vergütung für die aufgewendeten Kosten 10.000 Schock böhmische Groschen.
Kaiser Sigismund zog das Kurfürstentum als erledigtes Reichslehen ein und schenkte es Friedrich dem Streitbaren aus dem Hause Wettin (1423 bis 1428), als Belohnung für die ihm im Hussitenkriege geleisteten Dienste.
So kam Wittenberg unter die Herrschaft der Wettiner.
Friedrich der Streitbare, der Stifter der Universität Leipzig, hat viel zum Gedeihen unserer Stadt beigetragen. Er bestätigte ihr nicht allein 1424 die gesamten Privilegien, sondern befreite sie auch von mehreren Abgaben, insbesondere von dem noch aus den ersten Zeiten der Askanier herrührenden Küchengelde.
Im Jahre 1425 schenkte er der Stadt in anbetracht ihrer treuen Dienste die Dörfer Trajuhn, Gallien und Prühliz mit Gericht und Zins. Ihm folgte in der Regierung sein Sohn Friedrich der Sanftmütige (1428 bis 1464). Troz seiner Friedensliebe mußte er mehrfach zum Schwerte greifen, besonders gegen seinen herrschsüchtigen jüngeren Bruder Wilhelm, mit dem er einen langwierigen und blutigen Bruderkrieg führte.
Bekannt ist, daß der mit dem Kurfürsten verfeindete Ritter Kunz von Kauffungen dessen beide Söhne Ernst und Albrecht aus dem Schlosse zu Altenburg raubte (8. Juni 1155).
Die beiden Prinzen wurden dem Räuber wieder entrissen, der dieses Vergehen mit dem Tode büßen mußte.
Der Kurfürst wohnte zwar nicht in Wittenberg, er gab aber der Stadt vielfache Beweise seines Wohlwollens.
So bestätigte er ihr im Jahre 1428 die Zoll und Geleitsfreiheit, und als er die Stadt 1430 für 3000 Rheinische Gulden an Friedrich und Heinrich von Bygern verpfändete, wurde der Rat um Anhängen des Stadtsiegels an die betreffende Urkunde ersucht, zum Zeichen seines Einverständnisses, und ihm zugleich die Versicherung gegeben, die Stadt schadlos zu halten und sie wieder einzulösen.
Ihm folgte in der Regierung sein Sohn Ernst (1464) bis 1486), der 20 Jahre lang mit seinem Bruder Albrecht gemeinschaftlich regierte.
Im Jahre 1485 kam eine Teilung der Länder zustande, bei welcher Ernst Thüringen mit der Residenz Weimar und den Kurkreis erhielt. Auf ihn folgte sein Sohn Friedrich der Weise (1486 bis 1525), der aus dem Mittelalter bereits in die neuere Zeit herüberreicht, und dem ein besonderes Kapitel dieser Blätter gewidmet sein soll.
3. Wittenberg und seine Bürgerschaft bis 1486.
Bis zum Jahre 1300 erfahren wir von der Stadt Wittenberg und ihrer Bürgerschaft außer dem, was im Vorstehenden bereits angegeben wurde, nur wenig. Es wird uns berichtet, daß in den Jahren 1218 bis 1221 eine große Teuerung herrschte, welcher Herzog Albrecht auf den Rat des erfahrenen Grafen Hoyer von Falkenstein dadurch zu wehren suchte, daß er verbot, stärkeres Bier zu brauen, als das Stübchen zu 1 Pfennig (5 Sgr.). Aber aus der Vergleichung mit anderen Städten Norddeutschlands sowie aus den einen Rückschluß ermöglichenden Berichten der späteren Zeit läßt sich doch ein annähernd vollständiges Bild von den damaligen Verhältnissen gewinnen :
Darnach waren die Stadtbewohner zum größten Teil noch Hörige (Unfreie); denn noch galt das Wort:
Bürger und Bauer
scheidet nichts, als die Mauer.
Ursprünglich war deren Lage also recht ungünstig. Ueber ihre liegende und fahrende Habe durften sie nicht frei verfügen. Von ihren Hofstätten mußten sie dem Grundherren einen Zins zahlen und ebenso von ihren Grundstücken Zins und Frohndienste leisten. Waren sie darin säumig, so konnte der Grundherr ihnen sämtliches Eigentum nehmen. Im Todesfalle fiel diesem auch ihre gesamte Hinterlassenschaft zu.
Der Sachsenspiegel sagte:
„Gibt sich jemand einem Herren zu eigen, so nimmt nach seinem Tode der Herr sein Erbe und alle Kinder, die ihm gehören und nach der Ergebung geboren sind.“
Die Unfreiheit ging sogar so weit, daß die aus Ehen zwischen Freien und Unfreien geborenen Kinder stets der“ ärgeren Hand folgten,“
d.h. unfrei wurden. Die fortschreitende Entwickelung schaffte auch hierin Milderung; die Ansprüche des Grundherrn beschränkten sich beim Tode eines Unfreien auf das sogenannte „Buteil“, das gewöhnlich die Hälfte des Nachlasses betrug. Späterhin wurde dieses Erbrecht auf eine bestimmte Geldsumme begrenzt, oder auch auf das „Besthaupt„, d. h. die Wahl des besten Tieres aus dem Stalle, oder in den „Gewandfall“, den Anspruch auf das beste Kleidungsstück oder die beste Waffe des Toten, herabgesetzt.
Zu den Hörigen zählten alle Handwerker, mochten sie sich bereits in Zünften vereinigt haben oder nicht. Soweit schon eine Ortsgemeinde (Cives) bestand, wurden dazu außer den Freien, das waren die Ritter und die Kaufleute, nur die Unfreien höheren Standes, nämlich die Hofbediensteten (Ministeriales) gerechnet, die durch das Recht des Waffentragens ritterbürtig waren. An der Spitze der Gemeinde stand als rein herrschaftliche Ortsbehörde der Vogt (vocatus). Solange der Herzog nicht in der Stadt wohnte, war ihm ein Graf zur Seite gestellt. Später erhielt der Vogt allein den Kriegsbefehl über die Stadt und übte die Rechtspflege, besonders den Blutbann, aus. Aus dem den Vogt umgebenden Schöffengericht oder auch aus den Vorstehern der Kaufmannschaft gingen die Ratmannen (Consules) hervor, deren Vorstand denTitel Bürgermeister (Proconsul oder Magister civiumi führte Die Rechte dieses Rates umfaßten jedenfalls die Verwaltung des Gemeindevermögens, die Aufsicht über Handel und Gewerbe und eine Art von Polizeigerichtsbarkeit, die sich namentlich auf den Verkauf der Lebensmittel, richtiges Maß und Gewicht, Preis und Güte derselben erstreckte.
Eine gedeihliche Entwickelung der Stadt blieb aber unmöglich, solange der größte Teil ihrer Bewohner, namentlich die Handwerker, als Hörige von den Rechten der Bürger ausgeschlossen waren. Dem Beispiele anderer Fürsten folgend verwandelte daher Herzog Albrecht II. im Jahre 1293 sämtliche Abgaben und Frohndienste der Wittenberger Einwohner, welche deren Hörigkeit bezeichneten, wie schon bemerkt, in eine jährliche „Bede“ (d.i. ursprünglich: erbetene Beihilfe) von 50 Mark. Dadurch wurden die ganzen Bewohner mit einem Male vollberechtigte Bürger – ein für die weitere Entwickelung der Stadt hochbedeutsamer Schritt. Zwar verwaltete der herzogliche Vogt das städtische Gericht noch einige Zeit mit, aber er hatte bei der Entscheidung selbst keine Stimme. Er hatte nur die Schöffen zu befragen, und sprach dann deren Urteil aus, an dem er keine Aenderung vornehmen durfte. Die Schöppen sprachen oder schöpften (daher ihr Name) das Recht nach dem Herkommen. Die Bestimmungen des von dem anhaltischen Gerichtsschöffen Eicke von Reppichau zwischen 1215 und 1235 geschaffenen „Sachsenspiegels“ blieben auf das platte Land beschränkt. Als Richtschnur diente den städtischen Schöffen die jährlich verlesene „Willkür“ (Rechtsvergleich) und die „Weißtümer“ (gerichtliche Aussprüche).
Der Wittenberger Willkür diente die Magdeburger als Vorbild, doch galt diese später als selbständiges Recht.
Eine Urkunde vom Jahre 1317 zeigt uns zuerst die Bürgerschaft unserer Stadt, die Gemeinde, unter Leitung eines Bürgermeisters und einer Anzahl Ratmannen oder Schöppen, obgleich diese Einrichtung gewiß schon früher bestanden hat. Die Zahl der Schöppen (Schöffen) wird 1340 auf sieben angegeben. Aus der Zahl der Bürgermeister sind hervorzuheben:
– Arnoldus Pulcher (Arnold Schön) 1332 bis 1336;
– Thyle Prambalg 1340 bis 1345;
– Niklas Wiemann 1361;
– Rudolf von Feuerstein 1371,
– Peter Buhle (vielleicht ein Ahnherr der Familie Bulius) 1387;
– Matthäus Prettin 1386 und
– Kaspar Krappe (Ahnherr der Gattin Melanchthons) 1422.
Die Bürgermeister bedurften für ihre schriftlichen Arbeiten natürlich bald einer Hilfskraft. Das Vorhandensein eines Stadtschreibers finden wir zuerst verbürgt im Jahr 1371. Die Ausführung der obrigkeitlichen Anordnungen, der Pfändungen, Verhaftungen u.s.w. lag in Wittenberg, wie in anderen Städten, den jungen Bürgern ob, im ersten Jahre, nachdem sie den Bürgereid geleistet hatten. Da jene dieser lästigen Verpflichtung nur widerwillig nachkamen, so hielt es der Bürgermeister schon um die Mitte des 14. Jahrhunderts für geraten, einen Stadtknecht (Büttel, Ratsdiener) für diese Verrichtungen anzustellen. Bürgermeister und Ratmann waren naturgemäß vom Fürsten abhängig. Diese Abhängigkeit beschränkte sich zunächst auf die Mitverwaltung des Gerichtes durch den herzoglichen Vogt. Jedenfalls zwischen 1332 und 1361 trat aber an seine Stelle einer der Ratmannen mit dem Titel eines Stadtrichters. In welchem Ansehen die Rechtspflege des Wittenberger Rats damals stand, beweist die Tatsache, daß der Rat der Stadt Zerbst im Jahre 1393 die Streitsache eines dortigen Bürgers Hans Krüger, mit Bestätigung des kaiserlichen Hofgerichts zu Nürnberg dem Wittenberger Rate überwies. Eine wesentliche Veränderung in der Rechtspflege der Stadt trat 1441 ein.
War bisher das Gericht immer noch Eigentum des Landesherrn gewesen, so überließ im genannten Jahre Kurfürst Friedrich der Sanftmütige „dem Ehrsamen Bürgermeister und Raten und der ganzen Gemeinde daselbst zu Wittenberg die Gerichte der Stadt up einen Widerkauf für tausend guter rheinischer Gulden.“
Allerdings war das Gericht des Rates durch die Stadtmauer beschränkt. Deshalb mußte das hochnotpeinliche Gericht auf dem Marktplatze ausgeführt werden.
Vier weiße quadratische Steine im Pflaster vor dem Rathause bezeichnen noch heute die Stelle, wo ehedem das Schafott stand.
Das Abhängigkeitsverhältnis der Stadt zum Landesfürsten fand in erster Linie seinen Ausdruck in der Entrichtung des jährlichen Schosses von 50 Mark Silber, der später auf 100 Mark gesteigert wurde. Hierzu traten noch einige kleinere Abgaben, wie z.B. das Küchengeld. Dies reichte natürlich nicht aus, um das Geldbedürfnis der Fürsten zu befriedigen, und so sehen wir, daß diese öfter eine Anleihe bei der Stadt machten.
So zahlte Wenzel eine solche Hauptanleihe in zehn Jahren zurück. Daneben wurden auch kleinere Summen geliehen, und wir hören ge- legentlich von 6% Zinsen, die dafür entrichtet wurden. Recht häufig auch kam es vor, daß die Fürsten, um ihre Kasse wieder zu füllen, ihnen zustehende Rechte an die Stadt verkauften.
Die vier Zünfte, welche das Recht besaßen, Buden auf dem Markte aufzustellen oder das Kaufhaus zu benutzen, mußten hierfür dem Landesherrn einen Budenzins entrichten. Diesen Zins verkaufte Rudolf I. im Jahre 1354 an den Rat.
Von altersher war der Stadt das Münzrecht gegen ein an den Fürsten zu zahlendes Münzgeld von 14 Mark verliehen. Daß die Stadt von diesem Rechte der Münzprägung Gebrauch machte, bezeugen die Wittenberger Münzen von 1330 und 1355.
Auch dieses Recht verpfändete Rudolf III. an einen Wittenberger Bürger, ohne daß es je wieder eingelöst wurde. Auf diese Weise gelangte die Stadt nach und nach in den Besitz wertvoller Rechte, von denen außer den bereits genannten noch das Patronats- und Collaturrecht über die geistlichen Stellen erwähnt sein möge. Ein solches besaß der Rat u.a. über das Dorf Lubast, Berkau und Dobien. Auch das Grundeigentum der Stadt erfuhr im Laufe der Zeit teils durch Kauf, teils durch Schenkung eine ansehnliche Erweiterung. Wir erwähnten bereits, daß diese von der Herzogin-Witwe Agnes das Vorwerk Bruder Annendorf mit allen Aeckern, Wiesen, Weiden und Gehölzer käuflich erwarb, ebenso daß Rudolf I. ihr das Dorf Hohndorf nebst dem Hohndorfer und Wiesigker Lug nebst allem Zubehör schenkte. Im Jahre 1391 waren auch bereits der Brant, das Fährholz und die Rodemark städtischer Besitz.
Im Jahre 1440 erwarb der Rat von dem Ritter Albrecht von Lipzek (Leipzig) in Bärwalde das Dorf Thießen für 250 rheinische Gulden, und 1454 verkauften Kaspar und Balzer Krappe an die Stadt zwei in der „Trebitzer Pflege“ belegene Gehölze, den großen und den kleinen Lug. Auch einzelne wohlhabende Bürger brachten Vorwerke und ganze Fluren in ihren Besitz.
So erfahren wir, daß das Dorf Boldensdorf (später Apollensdorf genannt) um 1346 im Besitze der Bürger Thiele, Kremer und Wymann war, deren Erben es später an den herzoglichen Hofmeister Henning Brusicken veräußerten.
Im Jahre 1425 waren außer Gallien und Prühliz auch Trajuhn vom Landesherrn an die Stadt abgetreten worden.
Zwölf Jahre später leistete Otto von Düben auf seine an letzterem Orte haftenden Rechte zugunsten der Stadt Verzicht.
Eine wichtige Stellung in der städtischen Verfassung nahmen die Innungen oder Zünfte ein. Ihre Mitglieder mußten sich verpflichten zu gegenseitiger Unterstützung, Redlichkeit beim Handel und zu sittlichem Lebenswandel. Diese Handwerkerverbindungen bildeten bald den Kern der freigewordenen Bürgerschaft und wurden auch bald von den Fürsten als segensreiche Einrichtungen anerkannt und begünstigt. Es war natürlich, daß die Zünfte durch die große Zahl ihrer Mitglieder wie durch ihre Geschlossenheit bald ein erhebliches Uebergewicht über die übrigen Bürger erlangten. Ein Teil der Ratmannen wurde aus den Zünften genommen, und der Rat war späterhin verpflichtet, alljährlich vor vier Zunftmeistern und zwei Männern aus der Gemeinde Rechnung zu legen. Die Oberaufsicht über die Zünfte stand dem Rate zu, und die Zunftbriefe verweisen ausdrücklich zum Gehorsam gegen den Rat.
Nur der wurde in eine Zunft aufgenommen, der sich vorher das Bürgerrecht beim Rate erworben hatte. Die Erteilung desselben wurde von deutscher Abstammung (Abkömmlinge von Wenden und Juden waren ausgeschlossen), von gutem Leumund und von der Zahlung eines geringen Bürgergeldes abhängig gemacht.
Die Verkaufstaxen wurden in der Regel vom Rate nach Besprechung mit den Obermeistern der Zünfte festgesezt. Zuwiderhandlungen wurden mit Geldstrafen oder burschikoser Weise auch mit Bierstrafen geahndet.
Die Abhängigkeit vom Rate kam auch dadurch zum Ausdruck, daß die Zünfte die Bauern oder Morgensprache nur in Gegenwart der Ratmannen halten sollten.
Im Jahre 1402 scheint man diese Rechte dem Rate bestritten zu haben, weshalb Kurfürst Rudolf III. ausdrücklich diese bestätigte.
– Als erste der Wittenberger Zünfte wird urkundlich die der Bäcker genannt.
Neben dieser aber bestanden jedenfalls von altersher – wenn sie auch erst 1350 ausdrücklich erwähnt werden – noch drei andere Zünfte:
– die der Fleischer (Fleischhauer), deren Zunftbrief 1422 erneuert wurde,
– der Tuchmacher, der Gerber und Schuhmacher.
Diese genannten vier ältesten Gewerke behielten in späteren Zeiten manches vor den neu hinzukommenden voraus.
Ihre Obermeister, die alljährlich gewählt wurden, waren verpflichtet, alle Ruhestörungen und Aufläufe zu verhüten, sie wurden vom Rate in allen Handwerks- und Marktangelegenheiten befragt und wie bereits erwähnt bei der Rechnungslegung hinzugezogen.
Ja, die Zünfte aller übrigen Städte des Herzogtums waren angewiesen, die Rechtsfälle, welche sie selbst nicht erledigen konnten, durch die vier alten Gewerke von Wittenberg entscheiden zu lassen.
Nicht ohne Interesse sind die Bestimmungen der alten Zunftbriefe, die sich auf die innere Ordnung beziehen: die Vererbung des Meisterrechts auf Witwen, Söhne und Töchter. Die Söhne erbten stets ganzes Meisterrecht, die Töchter nur halbes. Witwen erhielten ganzes Meisterrecht; verheirateten sie sich aber wieder, und zwar mit einem Werkverständigen ohne Meisterrecht, so behielten sie nur das halbe. Die Innungsbriefe trafen weiter Bestimmungen üher gemeinschaftlichen Ankauf von Korn und Holz, über Aufnahme von Lehrlingen, Pflichten der Jungmeister, Leichenbegleitung, Aufzüge an Festtagen usw.
An jedem Sonntage mußten die Bäcker vor dem Rate erscheinen und zu den Heiligen schwören, daß sie dem Brote nach dem Kornpreise die rechte Größe gegeben hätten.
Die Fleischer mußten sich verpflichten, „kein scherbiges, stetiges oder mageres Vieh zu schlachten und redlichen Kauf zu geben.“
Und daß der Rat sehr scharf auf die Erfüllung dieser Verpflichtung achtete, das lassen die Strafregister jener Zeit deutlich erkennen. Wie sehr man andererseits bemüht war, sich die Gunst der Fleischerinnung zu erhalten, geht u.a. daraus hervor, daß Kurfürst Friedrich der Sanftmütige dieser das Recht der Nachhütung auf dem großen und kleinen Anger und der Kuhlache für Schweine und Schafe und im großen Lug für Rindvich verlieh. Es war dies ein wertvolles Privileg, das erst Ende des 19. Jahrhunderts bei der Separation mit 12 Morgen Land im großen Anger abgelöst wurde. Die Fleischerinnung zeichnete sich überhaupt durch umfangreichen Flurbesitz aus. So gehörte ihr die Waldmark Fleischerwerder, die ja noch heute mit ihrem Namen daran erinnert und später in das Eigentum der Stadt überging.
Bei dieser Gelegenheit sei bemerkt, daß Wittenberg schon frühzeitig ein städtisches Schlachthaus besaß. Nach einer noch vorhandenen Stadtrechnung vom Jahre 1509 brachte dieses an Benutzungsgebühren 2 Schock, 14 Groschen, 2 Pfennige und 1 Heller. Es muß also stark benutzt worden sein, da an Gebühren für seine Benutzung nur erhoben wurden:
– für ein Rind oder Schwein 1 Pfennig,
– für jedes andere Stück Vieh nur 1 Heller.
Selbstverständlich blieb es nicht bei den vier alten Zünften. Die übrigen Handwerker schlossen sich gleichfalls frühzeitig zusammen und suchten nun dieselben Rechte wie die Zünfte zu erwerben. Im Jahre 1356 bereits erlangte die Innung der Gewandschneider als solche Anerkennung, und bald folgten andere nach.
Gegen Ende des 15. Jahrhunderts bestanden in Wittenberg außer den vorgenannten fünf Zünften noch folgende:
– die der Kürschner,
– Krämer (das sind die späteren Nadler, Gürtler und Klempner),
– der Huf- und Waffenschmiede,
– der Messer- und Kleinschmiede (Schlosser),
.- der Böttcher und Leineweber.
Es verdient erwähnt zu werden, daß auch die Hirten im Kurkreise schon frühzeitig sich zu einer Zunft zusammen geschlossen hatten. Die älteste urkundliche Nachricht davon stammt aus dem Jahre 1556, wo von dem damaligen Amtsschösser Hyronimus Zorn die von den Hirten auf dem Fläming übergebenen 17 Artikel genehmigt wurden. Wegen der großen Verschiedenheit in der Hutung gliederte sich die Hirtenzunft in eine solche auf dem Fläming und in der Aue. Erstere hielt im Frühling und Herbst ihre Zusamenkunft in Zahna, Ietztere zu den gleichen Zeiten in Kemberg.
In Nachahmung der Zünfte fingen um die Mitte des 15. Jahrhunderts die Gesellen der einzelnen Gewerke an, sich zu Brüderschaften zusammenzutun, um so als geschlossene Korporation einen Einfluß in der Stadt zu gewinnen, welchen sie in den einzelnen Zünften nicht erhielten. Eine Urkunde vom Jahre 1449 erwähnt die Brüderschaften
– der Mühlknappen,
– der Bäcker,
– Schneider,
– Schuster- und
– Leinewebergesellen.
In dem von uns behandelten Zeitraume hatte die Bürgerschaft Wittenbergs, gleich derjenigen anderer Städte, zugleich auch kriegerische Verpflichtungen. Da in jenen unruhigen und unsicheren Zeiten die Landesgewalt zum Schutze der Städte nicht ausreichte, so mußten die Bürger selbst für ihre Sicherheit sorgen und die Stadt nicht allein gegen beutelüsterne Raubritter verteidigen, sondern auch mit den Streitkräften des Fürsten gegen jene adeligen Räuber zu Felde ziehen und ihre Raubburgen brechen.
Zu diesem Zwecke war jeder zünftige Meister mit Waffen versehen, ursprünglich Armbrust und Harnisch, späterhin die Büchse.
Dieses sein „Heergerät“ ging bei seinem Tode auf den ältesten Sohn oder den nächsten „Schwertmagen“ über.
(Schwertmagen werden die Verwandten männlicher Linie genannt, zum Unterschiede von „Spielmagen“ oder „Kunkelmagen“, das sind die Verwandten der Frau.)
Zum Instandhalten der Waffen und um die Bewaffnung einheitlicher zu gestalten, nahm der Rat 1332 einen Harnischmeister in Dienst, der gegen eine jährliche Besoldung, die in Geld, Holz, Dienstkleidung und Befreiung von allen bürgerlichen Lasten bestand, jährlich einige neue Armbrüste mit Sehnen und Pfeilen herstellen und schadhaft gewordene ausbessern mußte.
Wenn so die gesamte Bürgerschaft Fertigkeit in der Waffenführung zu erlangen suchte, so lag es doch in der Natur der Sache, daß einzelne, namentlich die jüngeren Bürger, die Waffenübungen mit besonderem Eifer betrieben. Aus dieser Vereinigung ging unsere Schützengesellschaft hervor.
Zum erstenmale wird der Wittenberger Bruderschaft der Schützen in einer Urkunde vom Jahre 1412 Erwähnung getan.
In diesem Jahre stiftete diese der Marienkirche (Pfarrkirche) einen neuen Altar, über welchen ihr 1433 Kurfürst Friedrich der Sanftmütige das Patronatsrecht bestätigte.
Abgesehen von anderen Merkmalen unterschied sich das Schützenkorps durch seine Ausdehnung von den Zünften.
Während letztere ihre bestimmten Grenzen hatten, über die sie nicht hinausgehen durften, ohne die Rechte anderer zu verletzen, nahm die Bruderschaft der Schützen ihre Mitglieder aus allen Kreisen der Bürgerschaft. Sie führte darum auch zum Unterschiede von den Zünften den Namen „Gilde“, der sich bis in unsere Tage erhalten hat. Jährlich ein oder mehrere Male zog die Schützengilde zu Waffenübungen aus, bei welchen nach einer Scheibe oder nach einem hölzernen Vogel geschossen wurde.
An diese Waffenübungen schlossen sich bald mancherlei Lustbarkeiten an, aus denen sich dann unser altberühmtes Schützenfest, die „Wittenberger Vogelwiese“, entwickelt hat.
Wittenbergs Bürgern blieb ernste kriegerische Tätigkeit nicht erspart: Bereits unter Herzog Bernhard, dem Sohne Albrechts des Bären, zerstörten sie die auf dem Wallberge in Dobien liegende Grenzburg, deren Ritter fortgesetzt die von Brandenburg nach Leipzig reisenden Kaufleute ausraubten und auch sonst die Wittenberger Bürgerschaft beunruhigten.
Ein gleiches Schicksal bereiteten die wehrhaften Wittenberger der etwa um 1150 erbauten Burg Ließnitz, deren Bewohner gleichfalls aus Raub und Plünderung ein einträgliches Gewerbe machten. Besonders schlimm trieb es der Ritter Otto von Düben (Dobien?). Da war die Geduld der Wittenberger erschöpft.
Um das Jahr 1538 rückten die sechs reisigen Fähnlein der Zünfte heran. Nach kurzer, verzweifelter Gegenwehr war die Burg genommen; sie wurde zerstört und dem Erdboden gleich gemacht. Dem in Gefangenschaft geratenen Raubritter wurde verboten, hier je wieder sich anzusiedeln. Zum Zeichen dessen wurde in die Furchen der gepflügten Trümmerstätte Salz gestreut.
Der Ort galt seitdem als „grobe“, d.h. verfluchte Stätte.
Erst um 1550 wurde an jener Stelle das „Haus Kropstädt“ erbaut, dessen Name später auf den ganzen Ort überging.
Auch weiterhin noch wurde die Wittenberger Bürgerschaft oft aufgeboten.
Im Jahre 1440 rief sogar die mutige Kurfürstin Margarete in Abwesenheit ihres Gemahls die Wittenberger Zünfte gegen ihre Bedränger zu Hilfe, und 1446 sahen sich die Wittenberger genötigt, die Wasserburg Reinsdorf wegen fortgesetzter Uebergriffe ihrer Bewohner zu zerstören.
Auch wird die Unterstützung gerühmt, welche Wittenbergs Bürger dem Herzoge Ernst 1466 bei Verfolgung und Vernichtung der „Stellmeisen“, einer berüchtigten Räuberbande, leisteten.
Versuchen wir nun am Schlusse dieses Abschnittes nach dem uns vorliegenden Materiale ein Bild der Stadt Wittenberg aus jener Zeit zu gewinnen.
Die Stadt hatte anfangs noch keine andere Schutzwehr, als die einfache Mauer, auf der nach einer alten Urkunde vom Jahre 1332 zweiundsiebzig Bürger die Wache hatten. Erst 1409 wurden Wall und Mauern in Festungsmanier hergerichtet. Die anfangs noch vorhandenen slawischen Elemente in der Stadt mußten immer mehr dem deutschen Wesen weichen.
Eine Verordnung vom Jahre 1327 verbot ausdrücklich den Gebrauch der wendischen Sprache. Und da 1304 Herzog Rudolf I. alle Juden aus der Stadt auswies, so konnten Wittenbergs Bewohner auch als rein christliche gelten, denn als später doch einige Juden die Rückkehr wagten, wurden sie im Jahre 1440 auf Veranlassung der Kurfürstin Margarete durch Friedrich den Sanftmütigen zum zweiten Male vertrieben.
Diesmal geschah dies mit dem Zusatze „auf ewige Zeiten“. Diese „ewigen Zeiten“ haben bis 1867 ausgehalten, wo sie durch das Freizügigkeitsgesetz beendet wurden.
Die Stadt selbst bietet folgendes Bild:
Sie ist mit Befestigungen umgeben, die von drei Toren durchschnitten werden:
– dem Coswiger-Tore (Schloß-Tor),
– Elb-Tore und
– Kreuz-Tore (Elster-Tore).
Innerhalb der Festungsmauer stehen etwas mehr als 400 Häuser. Vor dem Elstertore erhebt sich das Siechenhaus nebst Kapelle. Etwa 400 Schritte davon liegt der Kirchhof, der gleichfalls eine Kapelle besitzt. Zwischen beiden, etwa da, wo jetzt die Luthereiche ihre Aeste ausbreitet, steht das Spital zum heiligen Geist.
Vor dem Coswiger-Tore hat sich eine Neustadt zu bilden begonnen die späteren Fischerhäuser.
Genannt wird uns hier besonders eine Walkmühle.
Innerhalb der Stadt erhebt sich in der Mitte die um das Jahr 1300 erbaute Stadtkirche und daneben die um 1377 errichtete Kapelle zum heiligen Leichnam;
am Coswiger-Tore neben der vereinsamten Hofburg die Allerheiligenkapelle mit hochragendem Turme;
an der nördlichen Stadtmauer erhebt sich das stattliche Franziskanerkloster mit seiner Kirche, westlich davon die Antonienkapelle (das spätere Amtsgerichtsgefängnis in der Pfaffenstraße).
Im Osten der Stadt, neben dem Elster-Tore, hat das Augustinerkloster mit seinem bescheidenen Kirchlein Platz gefunden.
Vom Elb-Tore aus führte die erhöhte Straße nach Pratau (Brode). Anfangs wurde der Verkehr zwischen beiden Elbufern durch eine Fähre hergestellt.
Friedrich der Sanftmütige ließ eine große Holzbrücke erbauen, die aber bald durch Hochwasser zerstört wurde, so daß seit 1481 wieder die Fähre in ihre alten Rechte trat.
Oft hatte die Stadt unter Ueberschwemmungen zu leiden; an jene vom 17. Juni 1432 erinnert noch heute die steinerne Kugel am Lantzschen Grundstück am Elbtore.
Nach außen hin nahm Wittenberg am Schluß dieses Zeitabschnitts bereits eine geachtete Stellung ein. Zwar war die Stadt nicht mehr Residenz des Fürsten – dieser hielt an anderen Städten Hof – aber als Hauptstadt des mächtigsten Kurfürsten im heiligen Römischen Reiche hatte sie die erste Stelle und den Vorsitz in den Landtagen inne und verwahrte in dieser Eigenschaft auch die Landtagsbescheide.
4. Wittenberg unter Friedrich den Weisen.
Kurfürst Friedrich der Weise (1486 bis 1525), den ganz Deutschland als den gerechtesten, redlichsten und weisesten Fürsten ehrte, wandte seine Sorgfalt vor allem seinem Staate und im erhöhten Maße der Stadt Wittenberg zu. Er nahm von allen Wettinern zuerst hier zeitweise Wohnung. Zu dem Zwecke erbaute er von 1490 1499 hier an der Stelle der alten verfallenen Hofburg durch den berühmten Baumeister Konrad Pflüger aus Görlitz ein Schloß, dem die Albrechtsburg in Meißen zum Vorbilde diente. Die Innenräume desselben ließ er durch namhafte Künstler,
– wie den Nürnberger Maler Albrecht Dürer,
– den Venetianer Jakobo dei Barbari,
– Hans von Amberg u.a. ausschmücken.
Zum Bau verwandte er teilweise die Steine des alten in Trümmer liegenden Zahnaer Schlosses. Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Palästina legte er den Grundstein zum stattlichen Neubau der Allerheiligenkirche (Schloßkirche), die 1499 gleichzeitig mit dem Schloß vollendet wurde.
Bereits im ersten Jahre seiner Regierung hatte er an Stelle der durch Hochwasser zerstörten ersten Elbbrücke eine neue eichene Brücke bauen lassen, die 1490 vollendet wurde. Diese hielt aus, bis sie im dreißigjährigen Kriege – 1637 – durch die Schweden zerstört wurde. Am reichsten aber beschenkte der edle Fürst unsere Stadt durch die Gründung der Universität.
Der Gedanke einer solchen Stiftung war schon frühzeitig in ihm erwacht. Zur Reife gelangte der Plan durch das Drängen seines Lehrers und Leibarztes Pollich von Möllerstadt, der auch der erste Rektor der neuen Universität wurde.
Am 18. Oktober 1502 wurde diese feierlich eingeweiht.
Eröffnet wurde die Feier durch eine Prozession vom Schlosse aus nach der Stadtkirche, wo eine feierliche Messe gesungen und hierauf die Einweihungspredigt von Nikolaus Schreyer aus Koburg gehalten wurde. Nach Beendigung des Gottesdienstes wurde Martin Pollich von Möllerstadt zum ersten Rektor der Universität und Goswin von Orson, bisher Prediger an der Antoniuskapelle zu Lichtenburg, zum ersten Kanzler derselben eingesetzt. Die neue Hochschule war gleich anfangs gut besucht. Unter dem Rektorate Pollichs von Möllerstadt wurden schon 416 Studierende eingeschrieben und zu Melanchthons Zeit belief sich – so wird berichtet – deren Zahl auf über 2000, sodaß viele nicht bloß in den Vorstädten, sondern selbst in benachbarten Dörfern Wohnung nehmen mußten.
Der Ruf eines Luther und Melanchthon zog die Studierenden aus allen Gegenden Deutschlands und selbst aus fremden Ländern herbei.
An der Spitze der Universität stand der Rektor, welcher zweimal im Jahre, am 1. Mai und am 18. Oktober, gewählt wurde. Wenn aus hohen und fürstlichen Personen, die hier studierten, der Rektor gewählt wurde, so vertrat ein Prorektor dessen Stelle.
So war z.B.
– 1519 der Herzog Barnim von Pommern Rektor,
– 1558 Adolf Graf von Nassau,
– nach ihm ein Graf von Stahrenberg und
– 1601 August, ein Sohn des Kurfürsten Christian II., usw.
Die Wahl des Rektors erfolgte durch Stimmenmehrheit, zuerst im vollen akademischen Rate, sodann in der Sakristei der Schloßkirche. Dort, vor dem Altare, geschah auch die feierliche Abdankung des alten und die Weihe des neuen Rektors. Der abgehende Rektor hielt eine entsprechende Rede und übergab dann seinem Nachfolger die Abzeichen seiner akademischen Würde:
– das silberne Zepter,
– das Statutenbuch,
– das akademische Siegel,
– die Schlüssel der Akademie und zuletzt
– den Purpurmantal.
Das Siegel der Universität zeigte das Brustbild Friedrichs des Weisen mit dem Kurschwerte und der Umschrift:
„Auspice me Christum coepit Viteberga docere.“
Auf den Rektor folgen der Prokanzler und die vier sogenannten General-Reformatoren der einzelnen Fakultäten, deren Aemter und Würden in späterer Zeit auf die Dekane und Senioren der vier Fakultäten übergingen.
Diese vier Fakultäten waren die
– theologische,
– juristische,
– medizinische und
– philosophische.
In allen Fakultäten waren zusammen 22 Professoren angestellt.
Sehr zahlreich waren die Privilegien, welche die Universität nach und nach erhielt, und die unter der Bezeichnung ,“akademische Jurisdiktion“ zusammengefaßt wurden.
Im Jahre 1537 erhielt die Akademie von Kurfürst Johann Friedrich die Gerichtsbarkeit über die ihr zugewiesenen Dörfer Eutzsch, Reuden, Melzwig, Apollensdorf, Piesteritz, Teuchel, Köpnick, Dietrichsdorf und Ahlsdorf.
Bis zum Jahre 1507 wurde die Universität aus der Hofkasse des Kurfürsten unterhalten; im genannten Jahre überwies ihr Friedrich der Weise die Schloßkirche mit allen ihren Einkünften, die er noch dadurch vermehrte, daß er die Propsteien Kemberg, Schlieben, Klöden und die Parochien Orlamünde, Schmiedeberg, Schalken, Liebenwerda und Jessen mit der Schloßkirche und Universität so verband, daß die Domherren der Kirche oder die Professoren der Universität die Pfarrämter in den genannten Orten durch Vikare verwalten lassen durften, während das volle Einkommen jener Stellen der Schloßkirche resp. der Universität zufloß.
Außer zahlreichen anderen Privilegien erhielt die Universität z.B. das Recht, in den kurfürstlichen Gehölzen den Vogelfang auszuüben. Der Merkwürdigkeit halber sei erwähnt, daß der philosophischen Fakultät das Privilegium erteilt wurde, Poeten mit dem Lorbeerkranz zu krönen.
Zuweilen wurde diese Ehre auch Frauen zuteil;
so erhielt am 1. März 1788 die Gattin des Lizentiaten Wetzke den Lorbeerkranz, wofür diese sich in einem überschwänglich gehaltenen Gedicht bedankte.
Sehr groß war die Zahl der Schenkungen und Stipendien, welche der Universität von wohlhabenden Gönnern überwiesen wurden, und von denen mehrere, wie z.B. das Zülsdorf’sche, das Hohndorf’sche und das Thomäische, noch heute bestehen.
Es würd zu weit führen, wollten wir hier ein vollständiges Bild der Universität zeichnen. Aus dem gleichen Grunde verzichten wir darauf, auf das wichtigste Ereignis jener Zeit, die Reformation, einzugehen, da wir bei unsern Lesern eine genaue Bekanntschaft mit diesem Werke Luthers, Melanchthons und ihrer Mitarbeiter voraussetzen dürfen.
Stadt und Bürgerschaft nahmen unter der Regierung Friedrichs des Weisen einen bedeutenden Aufschwung. Wittenberg war nach längerer Unterbrechung wieder Fürstensitz geworden, doch bewahrte die Stadt gleichwohl ihre Selbständigkeit in vollem Umfange.
Das kurfürstliche Hofgericht bestand zwar, so oft der Fürst hier anwesend war, aber nur zum Scheine.
Die Stadtgerichte blieben der Bürgerschaft, wie sie ihr einmal abgetreten waren, und wir erkennen z.B. aus einer Urkunde vom Jahre 1513 deutlich, daß darunter Erbgericht sowohl als Obergericht begriffen ist.
Von den Bürgermeistern, welche in dieser Zeit die Stadt regierten, seien genannt:
– Andreas Zülsdorf,
– Ambrosius Gertitz,
– Hans Krappe (der Schwiegervater Melanchthons),
– Thilo Dehne,
– Christian Bayer,
– Johann Hohndorf,
– Anton Kellner,
– Lukas Cranach (der Maler).
Von Johann Hohndorf, der neben seinen Amtsgenossen Bayer und Cranach zu Luthers Freunden gehörte und bei der Taufe des ersten Sohnes des Reformators Gevatter stand, besitzen wir ein getreues Konterfei auf dem Altarbilde in unserer Stadtkirche und zwar auf dem Flügel, der Beichte und Absolution darstellt.
Es ist der vor Bugenhagen knieende und von ihm losgesprochene Mann. Von ihm wird eine sonderbare Geschichte erzählt, deren Wahrheit aber nicht nachzuprüfen ist:
Der Tübinger Astrolog Stöfler hatte auf den 23. Februar 1524 eine allgemeine Sündflut vorhergesagt. Die Sorge um den drohenden Weltuntergang war auch in Wittenberg groß. Der eine baute sich nach Noahs Vorbild eine Arche, ein anderer flüchtete auf einen Berg. Hohndorf aber begab sich auf den wohlverwahrten Dachboden seines Hauses und ließ sich ein Viertel Gebräude Bier dahin bringen, um – wie er sagte „beim guten Trunk zu leiden“. Das Wittenberger Bier, der „Guckuck“, wie es genannt wurde, besaß damals einen guten Ruf und wurde zur Zeit in 172 berechtigten Häusern der Stadt gebraut. Als aber die Tonne leer war, und die gefürchtete Sündflut noch immer nicht kommen wollte, da verließ Hohndorf sein hohes Asyl und übernahm mutig wieder seine Amtsgeschäfte. Unter seiner Regierung wurde auch der notwendig gewordene Rathausneubau ausgeführt. Der Grund zu diesem jetzt noch stehenden Rathause wurde 1522 gelegt. Vollendet wurde es etwa bis 1540.
Die Stadt zählte um das Jahr 1513 innerhalb der Mauern 356 Häuser, von denen – wie schon bemerkt – 172 die Braugerechtigkeit besaßen.
Außerhalb der Mauern vor dem Schloßtore, in der Neustadt, zählte man damals 60 Häuser.
Durch die Stadt strömte, wie heute noch, der rische Bach, und dieser war, wie der Zahnische Bach (faule Bach), vom Kurfürsten 1507 mit Forellen besetzt worden. Daher war den Bürgern, die sonst überall bis eine Meile von der Stadt frei fischen durften, die Fischerei in diesen beiden Bächen verboten. Diese Freifischerei gab den Anlaß zu manchem Streit mit den benachbarten Ortschaften.
Als die Elbe nach einer größeren Ueberschwemmung sich ein neues Bett gesucht, und der Fleischerwerder dadurch vom Bürgerlug getrennt worden war, mußte die Bürgerschaft mit den Gemeinden Pratau, Dabrun und dem Gute Boos in einem besonderen Vertrage eine neue Grenzregulierung vornehmen.
Der Flurbesitz der Stadt vermehrte sich während des behandelten Zeitraumes um den breiten Anger und die Pfaffenweide (Pfaffenheide). Letztere war ein Geschenk des Kurfürsten, das jedoch unter der Bedingung gegeben war, daß er er davon soviel Ziegelerde nehmen durfte, als er zum Bau des Schlosses und der Schloßkirche benötigte.
5. Wittenberg bis zum Jahre 1815.
Die auf die Regierung Friedrichs des Weisen folgenden Jahrhunderte sind reich an Kriegsstürmen, von denen namentlich unsere Stadt heimgesucht wurde. Nicht wenig trug dazu der Umstand bei, daß sie schon frühzeitig befestigt war.
Ursprünglich bestand diese Befestigung nur in einer einfachen Mauer mit festen Türmen, deren Bewachung den Bürgern oblag. Nach einem Verzeichnis aus dem Jahre 1332 waren 72 Personen zur Mauerwache berufen.
Im Jahre 1409 aber wurden Wall und Mauern in Festungsmanier hergerichtet.
Als 1429 die Hussiten mit 1000 Mann Wittenberg angriffen, berannten sie vergeblich die Festungswerke und mußten unverrichteter Sache wegen abziehen. Sie rächten sich dadurch, daß sie die Vorstädte in Brand steckten. Unter Friedrich dem Weisen wurden die Festungswerke in den Jahren 1509 bis 1517 auf Kosten der Stadt verstärkt, und unter Kurfürst Johann Friedrich wurden zu der dreifachen Mauer und den Türmen noch fünf Außenwerke errichtet. Bald sollten die Festungswerke die Probe auf ihre Festigkeit bestehen.
Bereits im Sommer 1546, noch ehe die Häupter des Schmalkaldischen Bundes, Kurfürst Johann Friedrich und Landgraf Philipp von Hessen, mit ihrer Armee gegen Kaiser Karl V. zogen, war Wittenberg mit einer Garnison von 7000 Mann besezt worden. Es wurde der völlige Belagerungszustand eingerichtet, die Hauben der Türme wurden abgetragen und deren Plattform mit Feldschlangen besetzt, ebenso wurden alle Wälle mit Geschützen und Kriegsmaschinen bewehrt.
Nachdem Kurfürst Johann Friedrich in der unglücklichen Schlacht auf der Lochauer Heide am 4. April 1547 geschlagen und gefangen genommen worden war, setzte sich das kaiserliche Heer gegen Wittenberg in Bewegung und belagerte die Stadt.
Wiederum mußten die Bewohner ansehen, wie die Vorstädte sämtlich in Flammen aufgingen. Kaiser Karl V. kam mit seinem fürstlichen Gefangenen auf dem linken Elbufer vor Wittenberg an. Etwa eine Dreiviertelstunde unterhalb der Stadt, vom sogenannten „Kaiserlager“ aus, setzte er mittels einer Schiffbrücke auf das rechte Ufer über und schlug bei Piesteritz sein Lager auf.
Beim Anblick der wohlverwahrten Festung äußerte er:
„Hätten wir den Vogel nit, das Nest bekämen wir sobald nit.“
Um seinen Zweck zu erreichen, nahm der Kaiser zu einem verwerflichen Mittel seine Zuflucht.
Er verurteilte, jedenfalls nur zum Schein, den Kurfürsten zum Tode und ließ ihm am 10. Mai das Todesurteil verkündigen.
Dieser spielte eben mit dem Herzog von Lüneburg im Zelte Schach. Gelassen hörte er das Urteil an und äußerte dann ruhig zum Herzog: „Wir wollen weiterspielen.“
Schon hatte man im Angesichte der Stadt das Blutgerüst aufgerichtet, als sich Karl V. durch die Vorstellungen mehrerer Fürsten bewegen ließ, das Todesurteil aufzuheben.
Er tat dies jedenfalls um so lieber, als er doch dabei den beabsichtigten Zweck – die Kapitulation der Festung – erreichte. Johann Friedrich mußte die im der Geschichte bekannte „Wittenberger Kapitulation“ vom 18. Mai 1547 unterschreiben, wodurch er nicht bloß die Festung mit allen Vorräten, Geschützen, Magazinen usw. dem Kaiser übergab, sondern gleichzeitig auch für sich und seine Kinder auf die Kurwürde verzichtete.
Nur ein kleiner Teil seiner Länder, die thüringischen Besitzungen, verblieben ihm. Außerdem mußte er in der Gefangenschaft des Kaisers bleiben, solange es diesem gefiel.
All diesen schweren Bedingungen unterwarf sich der Kurfürst, nur der einen nicht, daß er die Beschlüsse des Tridentiner Konzils annehmen und so von dem evangelischen Glauben sich abkehren sollte. Diese Zumutung wies er mit der größten Entschiedenheit zurück. Als die Bürgerschaft die Nachricht erhielt, die Stadt solle übergeben werden, geriet sie in die größte Bestürzung, denn man fürchtete nicht mit Unrecht die Greueltaten der zügellosen Spanier in Karls Heere. Die Einwohner bestürmten ihren Stadtpfarrer D. Bugenhagen, er möge an den gefangenen Kurfürsten schreiben und ihn bitten, die Stadt nicht zu übergeben. Bugenhagen ließ darauf alle Glocken läuten und rief die ganze Einwohnerschaft in der Stadtkirche zusammen. Hier hielt er, wie er selbst sagte, nicht eine geistliche, sondern eine weltliche Rede an die geängstete Gemeinde. Er führte ihr vor, daß beides bedenklich sei, die Nichtübergabe wie die Uebergabe der Stadt. Doch riet er nach reiflicher Ueberlegung zur Uebergabe und befahl dann in einem ergreifenden Gebete die Stadt in Gottes Schutz. Als Bedingung der Uebergabe baten die Einwohner sich vom Kaiser aus, daß kein Spanier die Stadt betreten dürfe.
Als daher der Kurfürst vom Kaiser die Erlaubnis erhielt, acht Tage lang im Schlosse zum Pfingstfest bei seiner Familie zu verweilen, da mußte dieser länger als eine Stunde vor dem Tore warten, weil sich eine Menge Spanier herandrängten, die man nicht in die Stadt einlassen wollte. Nach der Uebergabe der Stadt mußte die alte Besatzung abziehen; an ihre Stelle trat eine neue aus Deutschen bestehende unter dem Befehle des kaiserlichen Statthalters Madruska.
Am 23. Mai kam der Kaiser mit einem kleinen Gefolge durch das Schloßtor selbst in die Stadt geritten. Er stattete der Kurfürstin Anna zunächst einen Besuch ab und begab sich dann in die Schloßkirche, wo er am Grabe der beiden Reformatoren in tiefem Nachdenken verweilte. Bekannt ist die Erzählung, wonach der fanatische Herzog Alba den Kaiser aufgefordert habe, den Leichnam Luthers auszugraben und verbrennen zu lassen.
Karl V. aber soll ihm die Antwort gegeben haben:
„Laßt ihn ruhen. Ich führe Krieg mit den Lebendigen und nicht mit den Toten.“
Auf einem in der Lutherhalle befindlichen Bilde von Teich ist diese Szene dargestellt. Der ganze Vorgang ist allerdings unbeglaubigt. Der Kaiser wünschte, auch die Stadtkirche zu besichtigen, er konnte aber nicht in das Innere gelangen, weil der Küster mit den Schlüsseln nicht aufzufinden war.
Bugenhagen berichtet über diesen Besuch selbst folgendes:
„Seine kaiserliche Majestät kam über den Kirchhof, ritt für meiner Tür über. Als Seine Majestät ein Kruzifix gemalt sah an der Kirchen, blößten Seine Majestät das Haupt und die anderen Herren auch. Seine Majestät ließ fragen nach den Schlüsseln, hätte gern in unserer Kirche gewest, aber unser Küster war nicht vorhanden.“
Einige vornehme Spanier aus des Kaisers Gefolge aber wußten kurz darauf Zutritt zu dem verschlossenen Gotteshause zu finden. Kaum hatte einer auf dem vierfachen von Kranachs Meisterhand gemalten Altarbilde das Bild Luther auf der Kanzel erblickt, als er auch schon den Degen zog und mit den Worten:
„Dieses Untier wütet auch im Tode noch“
nach diesem stach und die Schulter und den Unterleib traf. Diese Stiche sind heute noch im Bilde zu fühlen.
Den Kurkreis mit der Kurwürde verlieh der Kaiser dem Vetter des gefangenen Kurfürsten, dem Herzog Moritz von Sachsen, wodurch dieser Besitz von der Wettinischen auf die Albertinische Linie überging, in deren Händen er bis zum Jahre 1814 verblieb.
Auch die über 7000 Mann starke Besatzung Wittenbergs wurde mit ihrem Gehorsam an den neuen Kurfürsten verwiesen. Moritz zeigte sich sehr besorgt um das Wohl der Stadt, namentlich um das der Universität. Die spanischen Horden hatten in der Umgegend arg gehaust, die Saat ihren Pferden gefüttert oder sie verwüstet.
Nach geschehener Huldigung erließ Kurfürst Moritz eine Bekanntmachung, in der er alle Einwohner des Kurkreises, die verjagt oder geflohen waren, zur Rückkehr aufforderte, indem er ihnen gleichzeitig Holz zum Aufbau der zerstörten Häuser und Brotkorn versprach.
Sein Wohlwollen gegen die Stadt Wittenberg bezeugt u.a. der Freiheitsbrief, welchen er ihr im Jahre 1552 erteilte.
Er gibt darin die Versicherung, daß die Stadt nicht ohne die äußerste Not mit Truppen belegt werden sollte. In dem Falle, daß dies doch geschähe, sollten die Kirchen- und Schuldiener, Professoren, Ratspersonen sowie auch Witwen und Waisen davon befreit sein.
Bei Ausbruch des dreißigjährigen Krieges wurde Wittenberg noch stärker befestigt, und die älteren Festungswerke durch neue vermehrt. Gegen 2000 Arbeiter waren dabei ununterbrochen tätig.
Im allgemeinen erging es der Stadt im Vergleich zu anderen Städten in diesem schrecklichsten aller Kriege noch glimpflich. Allerdings gingen auch jetzt wieder die Vorstädte in Flammen auf.
Im Jahre 1632 nahm der Retter des evangelischen Glaubens, der Schwedentönig Gustav Adolf, seinen Weg über Wittenberg. An der Elbbrücke begrüßten ihn die Studenten mit lauten Hochrufen. Er dankte ihnen bewegt und soll zu ihnen gesprochen haben:
„Von Euch kam das Licht nach Schweden. Weil es aber bei Euch in Deutschland wieder dunkel wurde, mußten wir von Schweden herüber kommen, um das Licht wieder anzuzünden. Es soll bald taghell sein in diesem großen und schönen Lande.“
Der Stadt Wittenberg gab er zahlreiche Beweise seines Wohlwollens. Das geht auch aus den vielen Reden und Gedichten hervor, die zu seinem Lobe von Wittenberger Professoren und Studenten verfaßt wurden. Nach dem Heldentode Gustav Adolfs bei Lützen mußte freilich Sachsen und auch die Umgegend von Wittenberg durch die schwedischen Scharen viel leiden.
Im Jahre 1636 fiel der schwedische General Banner in Sachsen ein. Raub, Plünderung, Brand und Mord bezeichnete den Weg, den seine zügellose Soldateska genommen. Auch die Umgegend von Wittenberg wurde schwer heimgesucht. Viele Ortschaften, von denen nur noch die Namen auf uns gekommen sind, wurden damals bis auf den Grund verbrannt und zerstört.
Im ganzen Kurkreise zählte man 343 „wüste Marken“ auf dem Raume von 74 Quadratmeilen.
Davon entfallen auf das
– Amt Wittenberg allein 80,
– auf Belzig mit Rabenstein 65,
– auf Seyda 11,
– Schweinitz 15,
– Schlieben 4,
– Liebenwerda 27,
– Annaburg und Pretzsch 45,
– Gräfenhainichen 13 und
– Bitterfeld 62.
Die übrigen 41 kommen auf die zum Kurkreise gehörigen Exklaven. Ganze Gemeinden mit ihren Geistlichen und Lehrern suchten hinter den Mauern von Wittenberg Schutz.
Dieses wagten die rücksichtslosen Feinde seiner starken Festungswerke wegen nicht ernstlich anzugreifen.
Am 17. Januar 1637 aber legten sie Feuer an das Werk Friedrichs des Weisen, die Elbbrücke, von der drei Joche abbrannten.
Da der Kurkreis durch den Krieg und die ihm folgende Pest gänzlich verarmt war, so konnte vorerst an eine Wiederherstellung der Brücke nicht gedacht werden. Was die Schweden davon übrig gelassen hatten, das vernichtete in den nächsten Jahren Hochwasser und Eisgang, so daß man sich genötigt sah, auch die letzten noch stehenden sechs Joche abzutragen.
Von 1637 bis 1787, also 160 Jahre lang, war der Verkehr über den Elbstrom wieder auf die Fähre angewiesen.
Erst im Jahre 1784 bis 1787 ließ Kurfürst August III., der Erbauer des nach ihm benannten Augusteums, eine neue, auf 12 hölzernen Pfeilern ruhende Brücke von 350 Ellen Länge und 11 Ellen Breite herstellen. Diese dauerte nur 54 Jahre, bis zum Jahre 1841, wo sie durch einen starken Eisgang vernichtet wurde.
In den Jahren 1842 bis 1846 wurde dann die jetzt noch stehende und später mehrfach umgebaute Elbbrücke von der preußischen Regierung mit einem Kostenaufwande von 800 000 M. errichtet.
Um den Zustand des Kurkreises und den durch den Einfall der Schweden verursachten Schaden festzustellen, setzte Kurfürst Georg I. eine besondere Kommission zu diesem Zwecke ein. Diese Untersuchung, welche im April und Mai 1638 stattfand, lieferte folgendes Resultat:
„Im Bezirke des Amtes Wittenberg sind 111 Oerter gelegen,
nämlich 5 Städte:
– Wittenberg,
– Schmiedeberg,
– Kemberg,
– Zahna,
– Pretzsch;
– 25 Dörfer sind den Kanzleisassen gehörig;
– 1 Flecken und 52 Dörfer gehören dem Amte,
– 19 Dörfer der Universität und dem Erbmarschall Löser (in Prezsch)
– und 9 Dörfer den Amtsschriftsassen.
Es haben sich 3540 Häuser und Güter und ebensoviel Familien bei vorigen guten Zeiten darin befunden.
Von obiger Zahl sind 1033 Häuser und Güter abgebrannt, und 1315 Häuser und Güter stehen wüste.
Außer den abgebrannten Häusern waren noch 254 von den feindlichen Truppen niedergerissen.
An Vieh sind gefunden worden: 205 Pferde, 55 Ochsen, 204 Kühe, 921 Schafe, 9 Ziegen und 197 Schweine.
Unter den Städten haben Zahna und Prezsch am meisten gelitten. Im ersteren Orte sind 243 und im letztern 133 Häuser zerstört.
In Schmiedeberg wurden 159 Häuser abgebrannt, und nur 101 Einwohner blieben am Leben. Man sah täglich 6 bis 10 Dörfer in Flammen aufgehen. Die über der Elbe in der Aue belegenen Dörfer haben am meisten gelitten, ebenso die der Universität gehörenden und die Löserschen Dörfer, nicht minder die auf dem Fläminge der hiesigen Festung am nächsten lagen, denn in diesen letzteren hat sich ein Meile umher kein Mensch aufhalten dürfen“. – Soweit der Bericht der Untersuchungskommission.
Viel Ungemach widerfuhr der Stadt Wittenberg im sogenannten nordischen Kriege, den Kurfürst Friedrich August 1. (König August der Starke von Polen) mit veranlaßt hatte.
Am 27. August 1706 erging an die Bürger der Befehl, daß kein Bürger die Stadt verlassen dürfe und jeder sich zum Wachdienste bereit halten möge, da die Schweden im Anzuge seien.
Am 8. September rückte ein französisches Bataillon in die Stadt ein. Die französischen Soldaten begingen allerlei grobe Ausschreitungen, was die Bürger zu lebhaften Klagen beim Rate veranlaßte. Dessenungeachtet wurde jedem Bürger das Verlassen der Stadt bei 100 Talern Strafe von neuem verboten.
Die französische Besatzung verließ die Stadt bald wieder, und am Michaelistag 1706 rückte ein 1200 Mann starkes schwedisches Regiment hier ein. Der Rat der Stadt ließ dem Obersten Rosenstirna bei seiner Ankunft zwei vergoldete silberne Deckelbecher als Geschenk überreichen. Eine Stunde nach dem Einmarsche versammelte sich das Regiment wieder auf dem Marktplatze, und Offiziere wie Gemeine hielten hier knieend eine Andacht.
Die Stadt wurde verpflichtet, dem Obersten wöchentlich 50 Taler Tafelgelder zu zahlen. Indessen war dies eine Kleinigkeit, gegenüber den sonstigen Lasten, welche ihr innerhalb von 9 Monaten von den ungebetenen feindlichen Gästen auferlegt wurden.
Allein während der vier Monate September bis Dezember mußte die Stadt aufbringen:
An Kriegskontribution
An Exekutionsgebühren 2074 Taler 15 Gr.
An Exekutionsgebühren 157 Taler 16 Gr.
Für zu liefernde Artilleriepferde 500 Taler –
112 Zentner 24 Pfund Heu 80 Taler 8 Gr. 9 Pf.
An Hafer und Stroh 32 Taler 3 Gr.
Für die Verpflegung der schwedischen
Truppen an den ersten beiden Tagen,
inklusive 17 Taler, die der Major Wrangel
mit seinen Leuten vor dem Einmarsch im
„Goldenen Adler“ verzehrt 217 Taler –
Zu den verschiedenen Bedürfnissen;
wie Wagen, Baukosten an der
Hauptwache usw. 238 Taler 2 Gr. 6 Pf.
______________________________________________________________________
Sa. 22020 Taler 21 Gr. 3 Pf.
Hierzu kommen noch 6000 Taler, welche die Universität und die umliegenden Dörfer aufbringen mußten. In den Monaten Januar und Februar 1707 mußte die Stadt ferner aufbringen:
10376 Taler, in den Monaten März und April 6917 Taler 11 Gr. und im Monat Mai 1729 Taler 10 Gr.;
ferner an Fouragegeldern 8000 Taler;
an Verpflegung 524 Taler 18 Gr.,
ungerechnet sonstiger bedeutender Kosten.
Es leuchtet ohne weiteres ein, daß es unserer Stadt schwer wurde, diese hohen Summen aufzubringen. Der Rat sah sich daher genötigt, einen Teil des städtischen Grundbesitzes unter der Bedingung der Wiedereinlösung zu verpfänden.
So verpfändete er den Fleischerwerder an Samuel Fröber aus Treuenbrietzen gegen 4000 Gulden, ebenso die Hutung auf Bodemar und eine zum Rittergute Seegrehna gehörige Wiese an die Gemeinde Seegrehna gegen 1700 Gulden und die auf Bodemar gelegene weiße Pfuhlwiese an den Seegrehnaer Pfarrer gegen 200 Taler und das Versprechen, dem Sohne des Pfarrers eine Freistelle auf der Landesschule Grimma und späterhin ein ansehnliches Stipendium auf der Wittenberger Universität zu verleihen.
Am 21. Februar 1707 kam der Schweden- könig Karl XII. nach Wittenberg, wo er die Schloßkirche und die Lutherstube besuchte.
Einige Jahre später am 14. Oktober 1712 besuchte übrigens auch sein Gegner, Peter der Große von Rußland, unsere Stadt.
Bei seinem Besuche im Lutherhause ließ er das Trinkglas Luthers fallen, so daß dieses noch jetzt in Scherben gezeigt wird.
Nach einer anderen Lesart hat er es absichtlich fallen lassen, weil man ihm das kostbare Andenken nicht überlassen wollte.
An die Tür, welche aus der Lutherstube nach dem Nebenraume führt, schrieb er mit Kreide seinen Namen, wo dieser, unter Glas gefaßt, noch heute zu sehen ist.
Erst am 2. September 1707 verließ die schwedische Besatzung die Stadt, nachdem sie diese 11 Monate lang bedrückt und ausgesogen hatte.
Noch größeres Unheil brachte der siebenjährige Krieg über unsere Stadt. Der Kurfürst von Sachsen hatte sich den Feinden des Preußenkönigs Friedrichs des Großen angeschlossen.
Die Folge dieser kurzsichtigen Politik war, daß Wittenberg wieder die Schrecken des Krieges erfahren mußte.
Bereits im Sommer 1759 wurde die Stadt von den Preußen besetzt. Als aber am 20. August 1759 die Reichsarmee sich der Festung näherte, schlossen diese eine Kapitulation ab, nach der ihnen freier Abzug zugestanden wurde.
Am 27. August erschien wieder ein preußisches Heer vor den Wällen, und nun erfolgte eine ähnliche Kapitulation seitens der Reichsarmee.
Im Herbste 1760 aber rückten gleichzeitig vier Heeresabteilungen gegen die geängstigte Stadt:
auf der linken Seite der Elbe das Württembergische Korps,
auf der rechten Seite ein preußisches Heer, dem bald die Reichsarmee und die unter dem Befehle des Generals Lasci stehenden Truppen folgten.
Die Stadt seufzte unter der Last der Einquartierung.
Die akademischen Gebäude, das Rathaus, das Schulgbäude u.a. öffentlichen Häuser wurden zu Lazaretten eingerichtet und mit Hunderten von Kranken angefüllt.
Am 2. Oktober entspann sich hinter den Weinbergen bei Teuchel ein heftiges Gefecht zwischen den Preußen unter dem Befehle des General Hülsen und der Reichsarmee unter dem Kommando des Herzogs von Zweibrücken, wobei das Dorf Teuchel in Flammen aufging. In der folgenden Nacht brannte die preußische Besatzung die Vorstädte nieder, um freies Gefechtsfeld zu haben.
Am gleichen Tage begann das Württembergische Korps, die Stadt mit Haubitzen und Granaten zu beschießen.
Durch diese Kanonade wurde das Kleemannsche Haus in der Mittelstraße völlig zerstört, die akademischen Gebäude, Fridericianum und Augusteum, arg beschädigt.
Der preußische Kommandant verweigerte die geforderte Kapitulation, er ließ das Straßenpflaster aufreißen und die Wälle noch mehr befestigen.
Die Beschießung vom 2. Oktober war indessen nur das Vorspiel zu dem unheilvollen Bombardement vom 13. Oktober.
Die Belagerer hatten eine Schiffbrücke über die Elbe geschlagen, eröffneten Laufgräben, errichteten drei Batterien vor dem Schloßtore und begannen nun ihren Geschoßhagel in die unglückliche Stadt zu werfen.
Ein Augenzeuge berichtet, daß an diesem Tage 1000 Bomben, ungezählte Kanonenkugeln und Haubitzgranaten in die Stadt geschleudert wurden. Grauenhaft war die angerichtete Zerstörung: In der inneren Stadt allein wurden 181 Häuser stark beschädigt und 132 völlig zerstört. Besonders in Mitleidenschaft gezogen wurde die Juristenstraße, die einem Trümmerhaufen glich, ferner die Klosterstraße, Bürgermeisterstraße, Scharrengasse, Töpfergasse und ein großer Teil der Jüdenstraße.
Es wurden infolge dessen 296 Familien obdachlos. Noch schlimmer waren die Verwüstungen in den Vorstädten, in denen insgesamt 200 Häuser zerstört wurden. Zwei Personen – der Pächter der Fleischsteuer namens Kõppe und die Ehefrau des Tagelöhners Gentzsch wurden durch einschlagende Granaten getötet.
Besonders schlimm hatte die Schloßkirche gelitten, von welcher fast nichts als nur die kahlen Umfassungsmauern stehen blieben.
Die historische Tür, an welche Luther am 31. Oktober 1517 die 95 Thesen schlug, wurde samt der inneren Einrichtung ein Raub der Flammen.
Auch unsere Pfarrkirche schwebte in großer Gefahr; sie wurde von zahlreichen Kugeln getroffen, und der eine Turm hatte bereits Feuer gefangen, das aber von einigen beherzten Bürgern noch rechtzeitig gelöscht wurde.
Da endlich, als die Not der Einwohner aufs höchste gestiegen war, entschloß sich die preußische Besatzung zur Kapitulation. Mit klingendem Spiele zog sie zum Elbtore hinaus, um dort das Gewehr zu strecken. Der Oberbefehlshaber der Reichsarmee gab hierauf den Befehl die Festungswerke zu sprengen. Schon hatte man an der Nordseite die Brustwehr zerstört, die Palisaden ausgehoben und Minen zur Sprengung der Hauptwerke gelegt, als die Nachricht eintraf, daß der gefürchtete Preußenkönig mit einer Armee im Anmarsch auf Wittenberg sei.
Daraufhin unterbrach man die Zerstörungsarbeiten, und am 23. Oktober verließ die letzte Abteilung der Reichsarmee die Stadt, die Schiffbrücke, auf welcher sie über die Elbe setzte, hinter sich verbrennend. Gleich darauf rückten preußische Husaren in Wittenberg ein.
Friedrich der Große erschien selbst in der Stadt und nahm mit Bedauern die großen Verheerungen darin wahr.
Das preußische Heer ging hierauf auf zwei unweit Wittenberg und Dessau geschlagenen Schiffbrücken über die Elbe, um den Feind zu verfolgen, und in der Schlacht von Torgau am 3. November zu besiegen.
Die demolierten Festungswerke wurden leider zum Unglück unserer Stadt wieder hergestellt.
Nur schwer und allmählich erholte sich Wittenberg von den Wunden des siebenjährigen Krieges.
Im Jahre 1806 aber begann für dieses eine neue schwere Leidenszeit. Der Kurfürst Friedrich August von Sachsen hatte noch in der Schlacht bei Jena den Franzosen als Feind gegenüber gestanden. Im Frieden zu Posen am 11. Dezember 1806 aber erklärte er sich zum Bundesgenossen Frankreichs und Mitgliede des Rheinbundes und sagte die Stellung eines Bundeskontingents von 2000 Mann zu. Für diese Willfährigkeit erhob ihn Napoleon I. zum König.
Die Stadt Wittenberg aber mußte diese Wandlung bitter bezahlen. Nach der Schlacht von Jena richtete der Stolze Sieger seinen Marsch nach Preußens Hauptstadt Berlin. Der größte Teil der französischen Truppen berührte unsere Stadt. Vom 20. Oktober bis 28. November 1806 hatte diese und die an der Heerstraße liegenden Ortschaften unter der wechselnden Einquartierung schwer zu leiden.
Wegen der mit dem Kurfürsten angebahnten Verhandlungen wurde Sachsen zwar nicht als feindliches Gebiet behandelt, aber trotzdem mußte Wittenberg und der Kurkreis bedeutende Lieferungen an Naturalien leisten und 2 Millionen Franken Kriegskontribution zahlen. Insbesondere hatten die jenseits der Elbe gelegenen Orte viel zu leiden. Das Korps des Marschalls von Davout erhielt den Befehl, nicht eher die Elbe zu überschreiten, bis der Kaiser mit dem Kerne der Armee von Halle aus eingetroffen sei.
Infolgedessen schlug das genannte Korps zwischen Eutzsch und Pratau sein Lager auf, da nicht alle Soldaten in den Dörfern untergebracht werden konnten. Die drei Tage dieses Lagerlebens haben die Bewohner jener Orte schwer empfinden müssen. Den Truppen mußte nicht allein reichliche Verpflegung gegeben werden, sondern diese nahmen auch heimlich und mit Gewalt Geld und Geldeswert hinweg. Lebensmittel, Vieh, Kochgeschirr, Betten usw. wurden den Einwohnern fortgenommen und ins Lager geschleppt, wo es auf Nimmerwiedersehen verschwand.
Ein getreues Bild von den der Stadt Wittenberg auferlegten Lasten geben die uns vorliegenden Aufzeichnungen eines Zeitgenossen. Zur Verpflegung der französischen Truppen wurden geliefert
a) am 20. Oktober 1806:
6000 Bouteillen Wein,
30 000 Rationen Brot,
100 Stück Kühe und Ochsen,
außerdem 2385 Taler für diejenigen Lieferungen,
die nicht aufgebracht werden konnten.
b) am 21. Oktober wurden durch den Kriegskommissar Bourget ausgeschrieben:
20 000 Rationen Brot,
20 000 Rationen Hafer, Heu und Stroh,
200 Ochsen,
2000 Flaschen Wein.
c) am 26. und 27. Oktober wurden zur Lieferung ausgeschrieben:
6000 Zentner Weizen,
6000 Zentner Heu,
6000 Zentner Stroh,
11000 Scheffel Hafer,
60 Stück. Ochsen.
d) am 15. November erfolgte eine neue Ausschreibung von:
5200 Scheffel Hafer,
9686 Scheffel Weizen,
65 Scheffel Erbsen,
260 Faß Bier,
70 ½ Eimer Branntwein,
414 Eimer Wein,
26 ¾ Scheffel Salz,
810 Stück Ochsen,
450 Stück Schafen,
7587 Zentner Heu,
505 Schock Stroh,
482 Klaster Brennholz,
1350 ½ Pfund Lichte,
525 ½ Pfund Oel,
2315 Pfund gebackenen Pflaumen,
17 ½ Zentner Reis.
e) Für das angelegte Reserve-Magazin für 150 000 Mann
und 40 000 Pferde wurden requiriert:
18 456 Scheffel Weizen,
7099 Scheffel Korn,
447 ½ Zentner Reis,
437 ½ Scheffel Salz,
37 500 Pinten Weinessig,
140 625 Pinten Branntwein,
54 000 Pinten Wein,
328 191 Kannen Bier,
3214 Ochsen,
8600 Zentner Heu,
5250 Schock Stroh,
33819 Scheffel Hafer,
7380 Klafter Scheitholz,
1050 Pfund Lichte,
525 Pfund Oel.
Für Napoleon schien Wittenberg als befestigter Platz große Wichtigkeit zu haben. Gleich nach seiner Ankunft hier gab er Befehl, die vernachlässigten Festungswälle wieder herzustellen und zu verstärken. Damit begann für unsere Stadt die Einleitung zu den schrecklichen Drangsalen der Jahre 1813 und 1814.
Im Jahre 1809 erschien der Major Schill mit seinem Korps vor den Mauern Wittenbergs. Im Verein mit der damals nur schwachen Besatzung schloß die bewaffnete Bürgerschaft bei dessen Annäherung die Tore und besetzte die Wälle, sodaß die kühne Schar nichts ausrichten konnte, sondern weiterziehen mußte, ohne die in der Stadt unter gebrachte Kriegskasse, auf die es wohl hauptsächlich abgesehen war, in die Hände zu bekommen.
Zur Belohnung für die bewiesene Treue verlieh der König von Sachsen den beiden Bürgerhauptleuten Oeser und Naumann die Ehrenmedaille, der Bürgerschaft aber schenkte er eine kostbare Fahne in den sächsischen Farben.
Zum Andenken hieran veranstaltete die Bürgerschaft eine Sammlung, die den Betrag von 300 Talern ergab und aus der am 23. März 1811 das sogenannte Fahnen-Stipendium gegründet wurde. Die Verwaltung desselben wurde dem Magistrate übertragen und im Einverständnis mit diesem bestimmt, daß die Zinsen dieses Kapitals wechselsweise ein Bürgerssohn, der sich dem Handwerk, der Kunst oder der Wissenschaften widmet, oder eine Bürgerstochter zur Aussteuer bei ihrer Verheiratung erhalten solle. Die Zinsen des Stipendiums betragen gegenwärtig 31,50 M.
Im Jahre 1821 lieh sich die hiesige Schützengilde das Kapital gegen Verpfändung des im Schießgraben belegenen Gebäudes und verzinste dieses mit jährlich 4 ½ Prozent.
Im Jahre 1876 zahlte sie die Summe wieder an die Kämmereikasse zurück. Die vom König von Sachsen geschenkte Fahne wurde beim Auszuge zum Schützenfeste abwechselnd von den Schützen und den Grenadieren, welche die bewaffnete Bürgerschaft bildeten, getragen.
Im Jahre 1817 schenkte König Friedrich Wilhelm III. von Preußen der bewaffneten Bürgerschaft an Stelle dieser sächsischen Fahne eine andere, ihr ähnliche mit dem preußischen Wappen und dem Namenszuge des Königs, die nunmehr von den Schützen und Grenadieren bei den Auszügen getragen wurde.
Vom Jahre 1843 ab wurde aber den Schützen auf ihr Gesuch das Tragen der sächsischen Fahne wieder gestattet. Die Schützen und die Grenadier-Kompagnie hatte gleichzeitig auch die Verpflichtung, die Stadt in besonderen Fällen zu schützen und zu verteidigen. Zu diesem Zwecke war ihr eine besondere Zug- und Wachtordnung vom Magistrate vorgeschrieben.
Wir heben aus dieser vom Jahre 1810 datierten Ordnung nachstehend die wichtigsten Bestimmungen hervor:
§ 2. Jeder neu anzunehmende Bürger kann nicht eher als Bürger angenommen und verpflichtet werden, bevor er nicht nachgewiesen hat, daß er sich mit einem guten, brauchbaren Feuer und Seitengewehr nebst Patronentasche und der üblichen Uniform versehen hat.
§ 3. Ob jemand unter die Schützen oder Grenadier-Kompagnie aufgenommen werden soll, bleibt ganz allein der Bestimmung des Magistratsmitgliedes, welches als Oberhauptmann fungiert, überlassen. Es hat sich daher jeder Neuaufzunehmende bei ihm zu melden und sich zu seiner Bestimmung ohne Murren sich unterwerfen.
§ 4. Jeder Bürger hat bei allen Auf- und Auszügen, beim Exerzieren und den Wachen dem Oberhauptmann sowie den übrigen Offizieren strengen Gehorsam zu leisten. Würde sich jemand widersetzen und widerspenstig bezeigen, der soll unabänderlich mit 6 Tagen Gefängnis oder um ein neues Schock ?? bestraft werden.
§ 10. Wer mit unbrauchbarem und ungeputztem Gewehre erscheint, wird um 4 Groschen gestraft und das Gewehr auf seine Kosten repariert
§ 12. Wenn beim Exerzieren oder zur Zeit des Vogelschießens zu feuern oder nach der Scheibe zu schießen angeordnet wird, soll jeder mit 3 Schuß Pulver zum Feuern und 3 Schuß Blei und Pulver zum Scheibenschießen versehen sein, auch sollen an diesem Scheibenschießen alle ohne Ausnahme teilnehmen. Jeder kann erst dann, wenn er seine Schüsse getan, nach erhaltener Erlaubnis fortgehen, um sich ein Ver gnügen zu machen, doch darf er sich nicht zu weit entfernen, damit er, sobald die Vergatterung geschlagen wird, schnell sich zu seinem Gewehre stellen kann. Wer dagegen handelt, wird um ein halbes altes Schock oder nach Beschaffenheit der Umstände mit Gefängnis bestraft.
Kehren wir nunmehr zu den Zeitereignissen zurück. Die Annäherung des vom General Grénier befehligten Korps, das aus Italien kommend in Stärke von 24000 Mann in Sachsen einrückte, wurde das Vorspiel zu dem schreckensvollen Kriegsdrama, in dessen Mittelpunkte unsere Stadt stand.
Am 12. Januar 1813 rückte Gréniers Vorhut in Wittenberg ein. Der Durchmarsch der Truppen währte bis zum 30. Januar, und auch noch im Februar berührten einzelne Teile der großen Armee unsere Stadt.
Es kam daher nicht selten vor, daß einzelne von ihnen zu den Belagerern übergingen.
Am 6. Mai unternahm die Garnison wieder einen Ausfall nach der Gegend der Klausstraße, wurde aber von den tapferen preußischen Jägern zurückgewiesen, wobei die Franzosen 17 Tote und 31 Verwundete verloren. Das Herannahen einer größeren französischen Truppenmacht zwang die Verbündeten, die Belagerung von Wittenberg vorläufig aufzuheben. Indessen kam die geängstete Stadt noch nicht zur Ruhe, da sich noch fortgesetzt russische Kosaken sowie preußische Truppen in der Nähe zeigten, und man jeden Tag eine neue Einschließung gewärtigen mußte. Endlich aber kam zwischen den kriegführenden Mächten ein Waffenstillstand zustande, der die Bedingung enthielt, daß alle noch in Sachsen befindlichen preußischen und russischen Truppen dieses Gebiet räumen sollten.
So wurde endlich Wittenberg nach Wochen und Monaten höchster Not von der Belagerung und ihren Schrecken befreit – freilich nur für eine kurze Frist.
Die gewonnene Zeit benutzten die Franzosen zur Ausbesserung und Verstärkung der Festungswerke.
Im Juli kam der Kaiser Napoleon nach Wittenberg, um die Festungsanlagen zu besichtigen. Die Universität bewillkommnete ihn durch eine Deputation, welche die Hochschule seinem Schutze empfahl. Allein der hochmütige Korse soll erklärt haben: „Wittenberg hat aufgehört, eine Bildungsanstalt für junge Leute zu sein.“
Nach einer kurzen Truppenschau reiste Napoleon wieder nach Dresden ab. Ehe noch in Sachen der Universität eine Entscheidung der zuständigen sächsischen Behörde eintraf, ließ Lapoype eigenmächtig die akademischen Gebäude vollends räumen. Die Bücher der reichhaltigen Bibliothek wurden von den Soldaten in buntem Durcheinander in Körbe gepackt und in das Provianthaus geschüttet. Ein Reskript vom 24. Juli ordnete an, daß die Bibliothek und die Sammlungen der Universität nach Dresden gebracht und dort in den Souterains der Kreuzkirche aufbewahrt werden sollten. Die Bücher wurden daher in eilig zusammengenagelten Kisten notdürftig verpackt und auf zwei Elbkähne gebracht. Allein beide Schiffe wurden in der Nähe von Meißen von Kosaken angehalten und mit Beschlag belegt, und nur unter den größten Schwierigkeiten gelang es, die Bücher und Sammlungen in das nahe Schloß Seuselitz zu schaffen.
Nach der im Jahre 1815 erfolgten formellen Aufhebung der Wittenberger Universität und ihrer Vereinigung mit der Halleschen Hochschule wurde die Bibliothek nach letzterem Orte überführt, während ein Teil, vorwiegend theologische Werke, dem 1817 gegründeten Wittenberger Predigerseminare überwiesen wurde. Den Universitätslehrern wurde es, unbeschadet ihres Gehalts, überlassen, ihren Aufenthaltsort frei zu wählen. Auch wurde durch besondere Reskripte angeordnet, daß der Fortschaffung des Eigentums der Universität und der Professoren, sowie deren Weggange aus Wittenberg weder von den französischen Behörden, noch von sonst einer Seite Hindernisse in den Weg gelegt werden sollten.
Dessenungeachtet erlaubte sich Lapoype allerlei Uebergriffe.
Sehr treffend bemerkt darüber einer der Universitätslehrer, der Professor Pölitz:
„Es gehörte zu den größten Willkürlichkeiten des in den deutschen Universitätsanalen unvergeßlichen Lapoype, daß er die plötzliche Räumung aller Universitätsgebäude mit der größten Härte anordnete und durchführen ließ und dennoch das Eigentum der Universität sowie das Privateigentum der Professoren nicht aus Wittenberg herauslassen wollte, um die durch Leiden aller Art erschöpften Professoren zur Rückkehr, oder eigentlich zur Verpflegung der ihnen zugeteilten Einquartierung zu nötigen.“
Ein weiteres Reskript der sächsischen Regierung ordnete an, daß die Angelegenheit der Universität bis auf weiteres von Schmiedeberg aus geordnet würden und demnach das Protonotariat und die Verwalterei nebst dem vorhandenen baren Kassenbestande dahin gebracht werden sollte, was denn auch vom 1. September ab geschah.
Unterdessen hatten die Feindseligkeiten bereits wieder begonnen. Bald nach der Niederlage der Franzosen bei Großbeeren wandte sich ein Teil dieser Armee in die Gegend von Wittenberg, für die nunmehr eine neue Leidenszeit anbrach. Was die Soldaten nicht freiwillig erhielten, das nahmen sie sich mit Gewalt. Raub, Plünde- rung und Verwüstung von Häusern, Gärten und Feldern waren an der Tagesordnung.
Durch die Einquartierung waren ansteckende Krankheiten eingeschleppt worden, die unter den Einwohnern zahlreiche Opfer forderten.
Im Monat September starben in Wittenberg allein 100 Personen. Vom 12. September ab konnte in der Stadtkirche kein Gottesdienst mehr gehalten werden, da der rücksichtslose Gouverneur diese räumen und in ein Magazin umwandeln ließ.
Durch dringende Vorstellungen erreichte der Generalsuperindent Nitzsch, daß wenigstens der Altarplatz, die Kanzel und die Orgel geschont wurden und die Sakristei frei blieb, in welcher das Kirchenarchiv aufbewahrt wurde.
Anfang des Monats September traf der Marschall Ney in Wittenberg ein. Er vereinigte sämtliche in der Umgegend stehende Heeresabteilungen, um mit der so gebildeten Armee erneut gegen Berlin zu marschieren.
Am 6. September wurde er aber bei dem Dorfe Dennewitz von dem durch russische Artillerie und die Schweden verstärkten Korps des Generals von Bülow angegriffen und nach verzweifelter Gegenwehr zurückgeworfen. Die in wilder Flucht zurückweichenden Franzosen ließen mehrere Tausend Tote, 70 Kanonen und zahlreiche Pulverwagen auf dem Platze und büßten außerdem 12000 Gefangene ein.
Bereits am 5. September hatte eine Abteilung Kosaken das gegen Zahna vorgeschobene Lager der Franzosen im Rücken umgangen und sich in den Weinbergen bei Teuchel festgesetzt. So war dem flüchtenden Ney’schen Korps der Weg nach Wittenberg abgeschnitten, und seine Trümmer mußten sich nach Torgau zurückziehen.
Gleich nach der Schlacht von Dennewitz wurde Wittenberg auf der rechten Elbseite durch die Truppen des Generals Bülow von neuem eingeschlossen.
Noch vor seiner Ankunft war das bisher in Wittenberg stehende 2000 Mann starke Korps des Generals Dombrowski in die Gegend von Leipzig abgerückt.
Die Besatzung der Festung bestand daher nur noch aus etwa 2500 Mann, von denen aber kaum 1500 Mann, nämlich die beiden holländischen Bataillone, kampffähig waren. Zu all seinen Willkürlichkeiten besaß der Gouverneur noch die empörende Unverfrorenheit, am 21. September von der hartgeprüften Stadt eine Anleihe von 50 000 Talern zu fordern, um seine geleerte Kasse zu füllen. Selbstverständlich war die Stadt, die durch die unaufhörlichen Einquartierungen ohnehin erschöpft war, und die auch jetzt noch die Besatzung auf Kosten des Gemeindesäckels verpflegen und dem edlen Lapoype täglich 36 Taler Traktement zahlen mußte, während aller Erwerb stokte, hierzu nicht imstande. Der Rat der Stadt versäumte denn auch nicht, dies dem Gouverneur in entschiedener Form mitzuteilen und dabei die Bemerkung zu machen, daß man ein solches Ansinnen allenfalls vom Feinde hätte erwarten können, aber nicht von einer mit dem sächsischen Staate befreundeten Macht, die doch die Aufgabe habe, die Stadt zu schützen. Trotz alledem stand Lapoype von seiner Forderung nicht ab und befahl die Ratsmitglieder am 24. September zu einer Versammlung, in der über die Beschaffung jener Summe beraten werden sollte. Kaum aber hatten die Verhandlungen begonnen, als von draußen die preußischen Kanonen zu donnern begannen. General von Bülow hatte die Vorstädte angegriffen und brachte dadurch die französische Behörde so außer Fassung, daß sie eilig die Versammlung verließ.
Von jener Anleihe ist seitdem nicht wieder die Rede gewesen. Der Gouverneur sah wohl ein, daß er die ohnehin empörte Bürgerschaft nicht zum Aeußersten treiben durfte. Die Verbündeten griffen nunmehr die Festung mit ganzer Macht an;
vom 25. bis 30. September sandten ihre Batterien fast ununterbrochen ihren eisernen Hagel über die unglückliche Stadt. Das erste Bombardement begann am 25. September abends 8 ½ Uhr und dauerte ohne Unterbrechung bis zum 26. September früh 3 Uhr. Neben einer beträchtlichen Anzahl von Haubitzgranaten wurden auch viele Brandraketen in die Stadt geworfen, wodurch in der Jüdenstraße drei Wohnhäuser und mehrere Hintergebäude angezündet und teilweise in Asche gelegt wurden. Der vor dem elterlichen Hause stehende 15 jährige Sohn des Senators Giese wurde durch einen Granatsplitter schwer verwundet.
Ihren Höhepunkt erreichten die Schrecknisse in der Nacht vom 27. zum 28. September. Unaufhörlich brüllten auf beiden Seiten die Geschütze, und in das laute Geräusch der Waffen, in das Knattern des Gewehrfeuers, das Zischen der Brandraketen, das Krachen der berstenden Granaten und die rote Glut der Feuersbrünste mischte sich das Geschrei der Verwundeten und Sterbenden, der Jammer der geängsteten Bewohner.
Um 3 Uhr früh fing der von Brandraketen getroffene Turm der Schloßkirche an zu brennen. Wie eine helle hohe Fackel leuchtete er zum dunklen Nachthimmel empor.
Um 4 Uhr stürzte die Kuppel mit den zum Teil geschmolzenen Glocken und der Uhr zusammen und fiel auf das benachbarte Schleußnersche Haus, welches dadurch gleichfalls in Asche gelegt wurde. Auch an anderen Orten der Stadt wüteten die Flammen, denen man nur mit großer Mühe Einhalt tun konnte.
In der Jüdenstraße und Schloßstraße fielen je fünf Häuser dem Feuer zum Opfer, während in der Collegienstraße mehrere Hintergebäude niederbrannten.
Am Morgen des 28. Septembers erteilte der Gouverneur den Einwohnern die Erlaubnis, die Stadt zu verlassen.
Gegen 1000 Personen, meist Frauen, machten hiervon Gebrauch und begaben sich nach den benachbarten Orten, besonders nach Kemberg.
Die beiden Geistlichen D. Heubner und Diakonus Magister Nitzsch, ein Sohn des Generalsuperintendenten Nitzsch, hielten treu bei ihrer Gemeinde aus.
Am Abend des 30. September erneuerte sich das Bombardement. Aber trotz der durch die Beschießung angerichteten Verwüstungen ließ sich der Gouverneur nicht zur Uebergabe der Stadt bewegen und wies jede diesbezügliche Vorstellung entschieden zurück. Am Morgen des 3. Oktober vernahm man von Elster und Wartenburg her starken Kanonendonner. Die schlesische Armee, unter dem Befehle des alten Feldmarschalls Blücher, war trotz der heftigen Angriffe der Franzosen von Elster aus auf zwei Schiffbrücken über die Elbe gegangen und griff das bei Wartenburg stehende 20 000 Mann starke Korps des Generals Ney an und besiegte dieses nach heftigem, blutigen Kampfe. Die geschlagenen Truppen flohen teils über Pratau nach Dessau zu, teils über Düben gegen Leipzig.
Als am 12. Oktober sich mehrere französische Korps Wittenberg nahten, hoben die Preußen die Belagerung der Stadt auf – leider nur für kurze Zeit.
Bald nach der Völkerschlacht bei Leipzig, in welcher der sieggewohnte Napoleon eine entschiedene Niederlage erlitt, wurde Wittenberg wiederum blockiert.
Am 28. Oktober rückte der Generalmajor von Dobschütz vor die Stadt und schloß diese ein. Die Belagerer schnitten die durch die Stadt fließenden Bäche ab, wodurch die Stadtmühle am Mahlen verhindert wurde.
Von einer in der Probstei errichteten Batterie wurden auch die in der Elbe liegenden Schiffsmühlen bestrichen und der Brückenkopf beunruhigt. Infolgedessen ließ der Gouverneur in pietätloser Weise in der Schloßkirche zwei Roßmühlen errichten.
Abgesehen von einigen Vorpostengefechten fanden bis zum Dezember hin keine Vorstöße der Belagerer statt.
In der von der Außenwelt abgeschnittenen Stadt aber stieg die Not von Tag zu Tag immer höher.
Zunächst machte sich bei der rauhen Witterung der Mangel an Brennholz fühlbar, Lapoype ließ kurz entschlossen die noch stehenden Bäume. namentlich die schöne, aus einem Legat des Bürgermeisters Thomä herstammende Allee nach dem Luthersbrunnen niederschlagen. Außerdem wurden auf seinen Befehl die vor dem Elstertore noch stehenden Häuser, die sogenannte lange Reihe, niedergerissen, sowie in der Stadt selbst fünf Wohnhäuser, mehrere Hintergebäude, Ställe und Schuppen zur Gewinnung von Brennholz abgetragen; selbst vom Schlosse wurden die Dachsparren und das innere Holzwerk abgerissen.
Diesen Gewalttaten folgten bald noch schlimmere.
Den Kaufleuten nahm man widerrechtlich ihre Vorräte an Kaffee und Zucker weg, die Königliche Salzniederlage belegten die Franzosen mit Beschlag und verkauften dann das Salz an die Einwohner zu dem unerhörten Preise von 1 Taler 6 Groschen pro Metze. Der Gouverneur begründete dieses Vorgehen damit, daß die Sachsen zu den Verbündeten übergegangen seien und er deshalb das Land, also auch Wittenberg, als feindliches Gebiet behandeln müsse. Der wahre Grund war natürlich der, daß der edle Lapoype sich auf Kosten der armen Einwohner die Taschen füllen und wohl auch für die abgelehnte Zwangsanleihe eine niedrige Rache nehmen wollte. Die Empörung stieg aufs höchste, als der Gouverneur anordnete, alle Keller und Vorratsräume der Einwohner zu durchsuchen. Gegen diesen erneuten Uebergriff erhob aber der Magistrat nachdrücklichst Protest, so daß sich Lapoype mit einer allgemeinen Angabe über die Höhe der vorhandenen Vorräte begnügen ließ. Da mangels Mühlen trotz der noch vorhandenen großen Vorräte an Getreide nicht genügend Mehl vorhanden war, so setzte der Gouverneur die Rationen der Soldaten wesentlich herab. Die Einwohner suchten sich dadurch zu helfen, daß sie Weizen und Roggen auf Hand- und Kaffeemühlen schroteten. Doch war das daraus gebackene Brot für viele nicht genießbar. Da der Gouverneur sämtliches Malz weggenommen hatte, so war schon seit langem kein Bier mehr zu erhalten, nur Tee und Rum ohne Zucker wurde noch gereicht.
Die Preise für alle Lebensmittel hatten eine ganz unglaubliche Höhe erreicht. So kostete
– eine Kanne Butter 4 Taler,
– ein Scheffel Korn 8 bis 10 Taler,
– eine Metze Kartoffeln 12 bis 14 Groschen,
– ein Pfund Rindfleisch 7 bis 9 Groschen,
– Schweinefleisch 14 bis 16 Groschen,
– Schinken 16 Groschen bis 1 Taler,
– eine Gans 5 Taler,
– ein Huhn 1 Taler,
– ein Apfel 1 Groschen,
– eine Zitrone 8 Groschen,
– eine kleine Metze Erbsen 12 Groschen,
– die Metze Linsen 14 Groschen und
– eine Metze Bohnen 16 Groschen;
– eine Kanne Oel galt 16 Groschen,
– eine Kanne Branntwein 16 Groschen,
– eine Kanne Essig 4 Groschen,
– ein Eimer Wein bis 80 Taler,
– ein Klafter Holz 10 Taler.
Wir könnten das Preisverzeichnis noch fortsetzen, doch geben schon die angeführten Zahlen ein anschauliches Bild von dem Elend, das über unsere arme Stadt hereingebrochen war.
Hungersnot, Angst, Schrecken und Kälte erzeugten zudem ein Heer von Krankheiten, so daß die Zahl der Todesfälle auf 147 in einem Monat stieg, während in normalen Zeiten höchstens 24 auf diesen Zeitraum kamen. Dazu kam noch, daß die Franzosen die Bürger mit dem größten Mißtrauen betrachteten, weil sie ein Einverständnis derselben mit dem Feinde vermuteten.
Diese häßliche Gesinnungsschnüffelei trieb die sonderbarsten Blüten. Ein Bauer von Labetz, namens Knape, fiel diesem Mißtrauen zum Opfer. Er hatte wiederholt, wohl um des Gelderwerbs willen, Briefe nach der belagerten Stadt und aus dieser befördert, sich also jedenfalls von beiden Seiten zur Spionage gebrauchen lassen. Schließlich wurde er aber von den Franzosen arretiert, vor ein Kriegsgericht gestellt und von diesem als Spion zum Tode verurteilt. Am 8. Dezember wurde er auf dem Anger vor dem Elbtore im Beisein der Garnison erschossen.
Endlich sollte der armen Stadt die Erlösungsstunde schlagen. Vorher aber mußte sie freilich die Schrecken einer 14 tägigen Beschießung durchkosten und so den Leidenskelch bis zur Neige leeren. Ende Dezember, nach dem Falle der Festung Torgau, erschien der General Tauentzien mit schwerem Geschütz vor Wittenberg.
Sogleich begannen nun die Preußen mit Eröffnung der Laufgräben. Im Dunkel der Nacht wurde die erste Parallele in der Nähe des Krankenhauses gezogen. Zwar feuerten die Franzosen mit 44 Kanonen gegen die kühnen Belagerungstruppen, sodaß die in der folgenden Nacht von diesen errichtete Batterie zum Schweigen gebracht wurde. Indessen erbauten die Preußen in der nächsten Nacht gleich drei Batterien, aus denen sie am folgenden Tage die Wälle befeuerten und 27 Kanonen der Franzosen unbrauchbar machten.
Am vierten Tage hatten die Belagerer die Parallele weiter vorgeschoben, das befestigte Krankenhaus wurde von ihnen zusammengeschossen und am 1. Januar 1814 mit Sturm genommen. Bald umgaben 12 preußische Batterien die Stadt und entsandten Tag und Nacht ihren Geschoßhagel gegen die Wälle. General von Dobschütz suchte zwar die Stadt so viel als nur möglich zu schonen, konnte aber doch nicht verhindern, daß sich einige Kugeln in die Stadt verirrten und an den Häusern in der Nähe des Walles und am Schloßtore Schaden anrichteten.
Eine von den Franzosen am sogenannten Berliner Pförtche angelegte Batterie brachte das Kunststück fertig, statt die preußische Batterie am bedeckten Wege zum Schweigen zu bringen, die beiden Häuser des Kaufmanns Haberland und des Bürgermeisters Böhringer in der Coswigerstraße in Brand zu schießen. Die Belagerer hatten sich mittlerweile so nahe an die Stadt vorgeschoben, daß sie den Sturm auf diese wagen konnten. Am Mittag des 12. Januar ließ Graf Tauentzien den Gouverneur nochmals zur Uebergabe auffordern, indem er ihm bedeutete, daß im Falle der Weigerung die Stadt erstürmt werden würde.
Aber Lapoype gab dem Parlamentär eine abschlägige Antwort.
Die Bürgerschaft war über diese unverständliche Hartnäckigkeit umsomehr empört, als am Tage vorher der Sohn des Bürgermeisters Adler durch eine Granate schwer verwundet und die Frau des Kutschers Balzer durch ein gleiches Geschoß in ihrer Wohnung auf der Stelle getötet wurde.
Die Belagerer hatten unterdessen das für kurze Zeit unterbrochene Bombardement wieder aufgenommen und setzten es bis Mitternacht 12 Uhr fort.
Plötzlich schwieg der Geschützdonner; die Preußen bereiteten sich zum Sturme vor, der unter Leitung des Generals von Dobschütz in 4 Angriffssäulen ausgeführt wurde. Ohne daß die Besatzung der Wälle es gewahrte, stürzte plötzlich von allen Seiten die preußische Infanterie heran, griff den Brückenkopf, die Wasserarche zwischen dem Elstertore und dem Berliner Pförtchen, sowie die Wälle am Schloßtore und Elbtore gleichzeitig an und erklomm sie, ohne auf erheblichen Widerstand zu stoßen.
Die überraschten Franzosen stürzten mit lautem Geschrei in die Stadt und warfen sich in das Rathaus und ins Schloß, wo sie sich erfolglos noch kurze Zeit zu verteidigen suchten, sich aber schon nach Verlauf einer Stunde ergeben mußten.
Der Gouverneur befand sich mit dem Kommandanten und mehreren Offizieren in der Sakristei der befestigten Schloßkirche und war nicht wenig überrascht, als er die Nachricht erhielt, die Preußen seien bereits in die Stadt eingedrungen.
Noch ehe er dazu kam, sich zu verteidigen, sah er sich von den in den Schloßhof eindringenden Preußen umringt und gefangen genommen.
Am 13. Januar früh 3 Uhr war die Stadt völlig in der Hand der Belagerer.
Nur 200 Tote und Verwundete sowie 9 verwundete Offiziere hatte der Sieg den Preußen gekostet.
Ihrem Dankgefühle über die endliche Befreiung gaben die Einwohner in rührender Weise Ausdruck. Sie versammelten sich auf dem Marktplatze, und nach einer Ansprache ihres treuen Seelsorgers Heubner stimmten alle aus überquellendem Herzen an: „Nun danket alle Gott“.
Dem General Tauentzien wurde vom König Friedrich Wilhelm III. zur Belohnung für seine Verdienste bei der Belagerung und Einnahme Wittenbergs das Großkreuz des eisernen Kreuzes verliehen. Gleichzeitig erhielt er die Erlaubnis, sich hinfort „Graf Tauentzien von Wittenberg“ zu nennen.
Noch am 13. Januar wurde der Gouverneur Lapoye samt dem Ingenieuroberst Pressart und dem Kommandanten Major von Lohausen gefangen aus der Stadt geführt und zunächst nach Coswig und dann nach Berlin gebracht. Der Haß und die Wut des Volkes gegen diesen Mann machte sich in einer Flut von Flüchen und Schmähungen Luft, und ein Hagel von Schneebällen und Unrat fiel auf ihn nieder, als er auf einem Korbwagen zur Stadt hinausgebracht wurde.
So wenig man auch diese Tätlichkeiten gegen einen Wehrlosen gutheißen kann, so sehr kann man doch den darin sich äußernden Volksunwillen verstehen, wenn man bedenkt, wie dieser Mann Monate hindurch die Bevölkerung in der schamlosesten Weise gedrückt und mißhandelt hat.
Wohl war Wittenberg nunmehr von der französischen Willkürherrschaft befreit, aber die Stadt blutete aus tausend Wunden, und es bedurfte vieler Jahre und großer Opfer, um diese Wunden zu heilen. Wohin der Blick fiel, überall bot sich ihm ein trauriges Bild der Verwüstung und der bittersten Not.
Vom 1. März 1813 bis zum 13. Januar 1814 waren 285 Wohnhäuser teils durch Feuer, teils durch Niederreißen zerstört worden, und zwar 26 in der Stadt und 259 in den Vorstädten. Außerdem wurden in der Stadt 21 und in den Vorstädten 16 Häuser so beschädigt, daß sie zum Bewohnen kaum noch tauglich waren.
Durch Bombardement oder Einreißen wurden folgende öffentliche Gebäude gänzlich zerstört:
– das Schloß mit Turm,
– der Turm der Schloßkirche,
– die Nebengebäude des Schlosses,
– die Reitbahn,
– das Universitätshospital,
– der Ratsmarstall,
– die Ratsziegelscheune mit allen Nebengebäuden,
– die Abdeckerei,
– die Garküche,
– die Wohnung des Ratswagenmeisters,
– das Spritzenhaus,
– das Parentationshaus auf dem Gottesader, der mit seinen zerstörten Grabdenkmälern einen betrübenden Anblick bot,
– ferner die Totengräberwohnung,
– das Wohnhaus der Torschreiber und der Akzisetorschreiber,
– ebenso das Ratskrankenhaus und
– das Pulvermagazin.
Vielfache Beschädigungen erlitten auch die
– Schloßkirche,
– Stadtkirche,
– das Amtshaus,
– die Stadtmühle,
– das Hebammeninstitut und
– die Amtsfrohnfeste (Gefängnis)
Die Zahl der Einwohner, die sonst Stadt und Vorstädte zusammengenommen 7000 betrug, war auf 4727 Personen gesunken.
Vom 27. Dezember 1813 bis zum 13. Januar 1814 wurden von den Belagerungstruppen in die Stadt geworfen:
– 1720 Bomben von je 50 Pfund,
– 474 Bomben zu 24 Pfund,
– 350 Bomben zu 18 Pfund,
– 3480 Haubitzgranaten von 10 Pfund,
– 970 Haubitzgranaten zu 8 Pfund und
– 6026 zwölfpfündige Kanonenkugeln.
Während des Monats September 1813 wurden bis 8000 Geschosse in die unglückliche Stadt geworfen, und während des furchtbaren Bombardements in der Nacht des 28. Septembers zählte man allein 3000 Granaten, Haubitzen und Kanonenkugeln.
Schon an diesen Zahlen kann man die durch die Beschießung angerichteten Verwüstungen ermessen.
Ueber die unerträglichen Lasten der Einquartierung gibt eine vom Magistrat veröffentlichte Aufstellung Auskunft:
„Die Stadt Wittenberg hatte im Jahre 1812 überhaupt 602 Häuser, 302 in der Stadt und 282 in den Vorstädten.
In diesen Gebäuden wurden vom 17. März bis 31. Dezember 1812 einquartiert und verpflegt von französischen und verbündeten Truppen 67133 Mann, nach Tagen gerechnet, nämlich:
– 72 Generäle,
– 425 Stabsoffiziere
– 2996 Offiziere und
– 63139 Unteroffiziere und Soldaten.
Der Verpflegungsaufwand war zwar vom Lande vergütet, aber der Bequartierte durch diese Vergütung noch nicht ganz entschädigt. Vom Januar 1813 bis zum 12. Januar 1814 sind in der Stadt einquartiert und verpflegt worden:
– a) in Bürgerhäusern:
344059 Mann, nach Tagen gerechnet, und zwar 491 Generäle, 7158 Stabsoffiziere, 57397 Offiziere und 279013 Unteroffiziere und Soldaten.
– b) in Kasernen, wozu 22 Bürgerhäuser genommen wurden:
699 000 Mann, nach Tagen ausgerechnet, und zwar 4968 Offiziere und 15 795 Unteroffiziere und Soldaten, gefangene Preußen und Russen, überhaupt 719 763 Mann. Es sind also in einem Jahre überhaupt 1 063 882 Mann, nach Tagen gerechnet, in Wittenberg einquartiert und verpflegt worden.
Auf vielen Seiten regte sich bald die Wohltätigkeit für die vom Unglück so schwer heimgesuchte Stadt.
Der König von Sachsen sandte 1 000 Taler, die vor allem unter die ärmsten Bewohner verteilt wurden;
das englische Volk sandte zu wiederholten Malen Unterstützungen, welche insgesamt die Höhe von 9000 Talern erreichten.
Der Kronprinz von Bayern schickte gleichfalls 3000 Gulden.
Unmittelbar nach Einnahme der Stadt durch die Preußen wurde diese unter preußische Administration gestellt und nach dem Friedensschlusse vom 21. Mai 1815 endgültig dem preußischen Staate einverleibt. Die preußische Regierung nahm sich der geprüften Stadt tatkräftig an. Sie gab reiche Zuschüsse zum Wiederaufbau der zerstörten Vorstädte, die nach dem Frieden in weiterer Entfernung unter dem Namen Kleinwittenberg und Friedrichstadt schöner denn vorher wiedererstanden.
Außerdem erließ König Friedrich Wilhelm III. den Einwohnern auf mehrere Jahre die Abgaben, er stellte die Schloßkirche wieder her, stattete das Gymnasium aus und gründete am 1. November 1817 das Predigerseminar als Ersatz für die aufgehobene Universität.
Für die weiteren Bedürfnisse der Stadt genehmigte er eine Kirchen- und Hauskollekte im ganzen Umfange der preußischen Monarchie. Als Lebenselement erhielt Wittenberg eine preußische Garnison, die von dem 11. schlesischen Landwehr-Regiment gebildet wurde. Außerdem wurde ein Kreisgericht in seine Mauern gelegt, dem die Stadt 1820 das ganze obere Rathausgeschoß mietefrei und unkündbar zur Benutzung übergab.
Leider versäumte man, sich in irgend einer Form das Eigentumsrecht an diesen Räumen zu wahren – ein Versehen, das der Stadt in unseren Tagen bittere Früchte tragen sollte.
So wurde es Wittenberg möglich, unter einer kraftvollen, zielbewußten Regierung, unter vielseitiger Unterstützung und durch die Tatkraft seiner Bürger sich allmählich aus tiefstem Elend zur gedeihlichen Entwickelung zu erheben.
Eine interessante Episode aus jenen bewegten Tagen, die von der Klugheit und dem Mute der darin auftreten-den Hauptperson ein rühmliches Zeugnis gibt, möge hier eine Stelle finden:
Unterhalb der Elbbrücke, am Brückenkopf, lag in der Elbe die dem Müller Hubrig aus Pratau gehörige Schiffmühle. Mit der Befestigung des Brückenkopfs wurde in diese eine starke französische Wache gelegt, welche die besondere Aufgabe hatte, den Elbstrom zu beobachten. Es ist erklärlich, daß dem Müller diese fremden Gäste, die in seinem Eigentum in rücksichtsloser Weise schalteten, höchst unbequem waren, zumal sie ihn zu allerlei Dienstleistungen und zur Lieferung von Lebensmitteln nötigten, die von seiner Familie aus Pratau herbeigeschafft werden mußten.
Als die Preußen den durch Wittenberg fließenden Bächen das Wasser abschnitten, und dadurch die Stadtmühle außer Betrieb setzten, wurde der Müller Hubrig von den Franzosen gezwungen, für die Besatzung der Stadt das benötigte Mehl zu mahlen.
Da aber die Schiffmühle den Bedarf nicht decken konnte, so zwang man Hubrig, im Schloßhofe eine Roßmühle einzurichten.
Mittlerweile waren die preußischen Belagerungstruppen immer näher an die Stadt herangerückt. Hubrig sehnte, gleich den Bewohnern Wittenbergs, den Tag herbei, an dem diese die Festung erobern und ihn von seinen Peinigern befreien würden.
Seine Lage war die denkbar schlimmste, denn die Franzosen beobachteten jeden seiner Schritte mit Mißtrauen und behandelten ihn wie einen Gefangenen. Wiederholt hatte seine in Pratau wohnende Frau ihn durch Boten ersuchen lassen, er möge nachhause kommen und nach dem Rechten sehen, aber der die Wache befehligende französische Offizier verbot ihm streng, die Schiffmühle zu verlassen.
Erst als die von der Not eingegebene Nachricht kam, Hubrigs Frau liege schwer krank darnieder, verstand sich der Franzose dazu, ihn für kurze Zeit zu entlassen. In seinem Anwesen angekommen, trat dem Müller ein preußischer Offizier entgegen, der ihn barsch aufforderte, seine den Franzosen geleistete Unterstützung einzustellen und auf die Seite der Preußen zu treten, widrigenfalls seine Schiffmühle von der in der Probstei errichteten preußischen
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