Geschichte der Lutherstadt Wittenberg II – 1927

Die Jahre 1911 bis zum
Ausbruch des großen
blutigen Weltbrandes
bedeuten für die Stadt
Wittenberg eine Zeit
verheißungsvoller
Entwicklung.
Insbesondere ist
das erstgenannte Jahr reich
an den für das städtische
Gemeinwesen wichtigen
Ereignissen.

1911

Das erfreuliche Wachstum der Stadt hatte eine größere Anzahl neuer Straßen entstehen lassen, die nun des Ausbaues harrten. Ganz besonders dringlich war dieser für die Straßen im „Lindenfelde“.
Ende Februar wurde endlich mit der viel erörterten Kanalisation begonnen. Der ursprüngliche von Ingenieur Pfeffer in Halle a. d. Saale nach dem Trennsystem ausgearbeitete Entwurf verlangte zu seiner Ausführung 440 000 M.
Zur Begutachtung wurde Baurat Herzberg – Berlin herangezogen, der engere Röhren und eine geringere Bodenbedeckung derselben empfahl. Die städtischen Behörden entschieden sich um so lieber für diesen Vorschlag, da hierdurch die Gesamtkosten sich auf
250 000 M. verringerten. Diese Summe wurde durch eine Anleihe bei der städtischen Sparkasse gedeckt, die mit 4 v. H. verzinst und mit 2 v. H. in 32 Jahren getilgt werden sollte. Von den angeschlossenen Grundstücken wurde eine Kanalgebühr von
2½ v. H. erhoben.

Nach vollendeter Kanalisation bildete die Pflasterung der vorgenannten Straßen eine in den beiden Ortszeitungen und in der Stadtverordnetenversammlung vielgeforderte Notwendigkeit. Dementsprechend bewilligte letztere in der Sitzung vom 3. Januar 1913 die Summe von 180 000 M. zur Pflasterung der Sternstraße, Heubnerstraße und Großen Friedrichstraße.

Am 1. April 1911 vollzog sich ein Wechsel im Landratsamte des Kreises Wittenberg.
Anfang März schied der bisherige Landrat Freiherr Bodo von Bodenhausen-Radis, der seit 1899 an der Spitze des Kreises gestanden hatte, wegen andauernder Krankheit aus seinem Amte. An seine Stelle wurde der bisherige Landrat des Kreises Hünfeld (Regierungsbezirk Kassel), von Trotha, berufen.

In den Kämpfen gegen die aufständischen Boxer in China (1900) und die aufständischen Eingeborenen in unserer Kolonie Deutsch-Südwestafrika (1904 bis 1906) waren auch Krieger aus Wittenberg und Umgebung den Heldentod gestorben.
Die hiesigen Krieger und Militärvereine beschlossen, ihr Gedächtnis durch einen Gedenkstein zu ehren, der in den Anlagen östlich vom Augusteum errichtet wurde. Die Mittel hierzu wurden durch die Aufführung des Hohwarth’schen Nationalfestspiels „Deutschlands 19. Jahrhundert“ beschafft.
Die Grundsteinlegung erfolgte am 10. April durch eine schlichte Feier, bei welcher der Vorsitzende des Wittenberger Kriegervereins, Lehrer Zimmer, die Ansprache hielt.
Bereits am 23. April konnte die Einweihung des Denkmals stattfinden. Daran beteiligten sich sämtliche Krieger- und Militärvereine des Kreises Wittenberg mit ihren Fahnen.
Die Teilnehmer versammelten sich nachmittags 2½ Uhr vor dem Schloßtore und zogen unter Voraus schreiten der Musik des 20. Infanterieregiments und der Freiwilligen Feuerwehr durch die fahnengeschmückte Schloss Straße und Collegienstraße nach dem Denkmalsplatze.
Hier hatten sich als Ehrengäste u. a. der Kgl. Landrat von Trotha, die Offiziere der Garnison, die Mitglieder des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung, Abordnungen des 20. Infanterieregiments und des Artillerieregiments Nr. 74 sowie Angehörige der gefallenen Kämpfer eingefunden und an dem mit Fahnentuch verhüllten und mit Tannengrün und Blattpflanzen geschmückten Denkstein Aufstellung genommen.
Dieser besteht aus einem viele Zentner schweren Findling, der im Garten des Gemüsegärtners Gustav Schwarze, Klaus Straße 22, gefunden und mit einer gusseisernen Tafel mit entsprechender Widmung versehen wurde.
Nach dem unter Musikbegleitung gesungenen Chorale, „Lobe den Herren“ hielt Pfarrer Haupt die Weiherede.
Im Anschluss an Offenb. Joh. 2 V. 10:
„Sei getreu bis in den Tod“
beantwortete er darin die Frage: Was will uns dieser Stein sagen? dahin:
– 1. Er erinnert uns daran, dass es nichts Größeres auf Erden gibt, als wenn ein Mensch treu ist bis zum Tode.
– 2. Er ruft uns zu: Sei du auch treu!

Lehrer Zimmer begrüßte als Vorsitzender des Kriegervereins die Festgäste und brachte das Kaiserhoch aus, während der Vorsitzende des Veteranenvereins, Stadtverordneter Rentier Tettenborn, den Denkstein der Stadt übergab, in deren Namen ihn Bürgermeister Dr. Schirmer übernahm.
Unter dem Gesange des Liedes „Deutschland, Deutschland über alles“ wurden von verschiedenen Abordnungen am Denkmal Kränze niedergelegt.
An die Weihe schloss sich eine Nachfeier im Saale des Gasthofs „Zur Reichspost“, bei der Musikvorträge, Ansprachen, Gesänge, turnerische Vorführungen und lebende Bilder miteinander wechselten.

Die Lutherstadt Wittenberg hat von jeher dem Werke der Heidenmission ein reges Interesse entgegengebracht.
Daher begrüßte es die Bürgerschaft mit Freude, dass am 8. und 9. Mai 1911 hier das zahlreich besuchte Provinzial – Missionsfest und die 22. Hauptversammlung des Missionsverbandes der Provinz Sachsen und des Herzogtums Anhalt tagte.
Das Fest wurde am 8. Mai nachmittags 5 Uhr durch einen Festgottesdienst in der Stadtkirche eingeleitet, bei dem Missionsdirektor D. Gensichen aus Berlin die Festpredigt hielt über Römer 1 Vers 16 u. 17:
„Denn ich schäme mich des Evangelii von Christo nicht“.
Abends 8 Uhr fand im Saale der „Reichspost“ die erste öffentliche Versammlung statt.
Die Begrüßungsansprache hielt Superintendent Orthmann, den Festvortrag Missionar Zimmerling aus China über
„Die Bibel als Missionar“, während Lic. Axenfeld aus Berlin über die Generalversammlung der Britischen Bibelgesellschaft in London berichtete und Pfarrer Reichardt aus Rotta bei Kemberg das Schlusswort sprach.

Der zweite Festtag wurde früh 7 Uhr durch Festgeläut mit den Glocken der Stadtkirche und Schlosskirche eingeleitet.
Von 8 Uhr an wurden in den einzelnen Schulen durch auswärtige Geistliche Missionsvorträge gehalten.
Für die Kinder, die nicht daran teilnehmen konnten, fanden in der Stadtkirche und in der Christuskirche Mission Kindergottesdienste statt.
Die Mitglieder der Christlichen Gemeinschaft vereinigten sich um 9 Uhr im Refektorium des Lutherhauses zu einer Gebetsandacht, die von Geh. Konsistorialrat D. Werner aus Dessau geleitet wurde.
Um 10 Uhr tagte im Festsaale des Melanchthongymnasiums die öffentliche Hauptversammlung.
Nach Eröffnung durch den Vorsitzenden des Provinzial – Missionsverbandes, Geh. Konsistorialrat Siegmund Schultze aus Magdeburg, und der Begrüßung durch die Vertreter der verschiedenen Behörden und Vereinigungen hielt Prof. D. Haußleiter aus Halle den Festvortrag über „Erziehung und Unterricht der Eingeborenen Kinder in Deutsch-Ostafrika“.
Die seitens des Wittenberger Missionshilfsvereins, der Kirchengemeinden, Schulen und Vereinigungen überreichten Missionsgaben erreichten die Summe von 2 554 M. 90 Pf.

An das Festmahl in der „Reichspost“ schloss sich um 4 Uhr nachmittags dort eine geschlossene Sitzung des Vorstandes und der Vertreter der Zweigvereine und um 8 Uhr abends die öffentliche Schluss Versammlung.
Der Direktor des Kgl. Predigerseminars, Lic. Dunkmann, eröffnete diese mit einer biblischen Ansprache, die er an Psalm 46 B. 11 anknüpfte.
Den Hauptvortrag hielt Missionsdirektor D. Gensichen aus Berlin über „Das ökumenische Missionskonzil in Edinburgh“.
Das Schlusswort sprach Sup. Eckstädt aus Zahna.
Der Wittenberger Männergesangverein verschönte die Feier durch den Vortrag mehrerer Lieder.

Für Zwecke der allgemeinen Wohlfahrtstätigkeit wurde am Sonntag, den 21. Mai, nach dem Beispiel anderer Städte auch in Wittenberg ein Maiblumentag veranstaltet.
Hierzu hatten sich unter Leitung von Frau Hauptmann Hohmann 80 junge Mädchen zur Verfügung gestellt, die gegen Verabreichung von natürlichen wie künstlichen Maiblumen und Festpostkarten in den Straßen und Häusern die Gaben einsammelten.
Zahlreiche Gebäude hatten zu diesem Tage geflaggt und zahlreiche Geschäftshäuser sinnigen Fensterschmuck geschaffen.
Mittags von 12 bis 1 Uhr fand auf dem Marktplatze ein Konzert der Regimentsmusik statt.
Die Gesamteinnahme des Blumentages betrug 2 718 Mark.

Ein anziehendes Schauspiel genoss unsere Stadt am folgenden Tage, den 22. Mai.
Von 6 Uhr nachmittags ab trafen von Dresden kommend die Teilnehmer der Deutsch – österreichischen Motorbootfahrt Leitmeritz – Berlin in 54 Motorbooten hier ein und machten im Ehehafen fest, wo sie von einer unabsehbaren Menge, welche weithin die Ufer säumte, lebhaft begrüßt wurden.
Vom Landungsplatze aus begaben sich die fremden Gäste durch die reichbeflaggten Straßen nach dem Saale der „Reichspost“ zum Festmahle.
Die Reihe der Trinksprüche eröffnete Vizeadmiral z. D. Aschenborn mit dem Kaiserhoch.
Namens der Stadt Wittenberg begrüßte Bürgermeister Dr. Schirmer die Teilnehmer.
Deren Dank brachte der Präsident des Österreichischen Motor Yachtklubs, Dr. Lautin, zum Ausdruck mit einem Hoch auf das gastliche Wittenberg, während der Vizepräsident des Klubs, Kontreadmiral Holtzhauer, sein Glas den Wittenberger Damen weihte.
Am nächsten Morgen verließen die Motorboote die Stadt zur Weiterfahrt nach Magdeburg.
Bei ihrer Ankunft wie bei ihrer Abfahrt spielte auf dem Landungsplatze die Regimentsmusik.

Zum Empfang und Bewirtung der Gäste hatten. die städtischen Behörden 1000 M. bewilligt.

Der 27. Juni brachte die Nachricht von dem wertvollen Geschenk, das Kaiser Wilhelm II. unserer Lutherhalle überwiesen hatte:
der Brief, welchen Luther auf seiner Rückreise von Worms am 28. April 1521 von Friedberg in Hessen aus an Kaiser Karl V. schrieb, und in welchem er noch einmal freimütig die Gründe für sein Handeln darlegt.
Der Brief gelangte jedoch nicht in die Hand des Kaisers, sondern wurde, wie eine darauf befindliche Bemerkung vermuten lässt, von Spalatin in Empfang und Verwahrung genommen, der es wohl nicht wagte, das kühne Schreiben des in Bann und Acht stehenden Mönches dem Kaiser zu übergeben.
Das denkwürdige Schriftstück ging dann durch verschiedene Hände und gelangte endlich in die Boernersche Handschriftensammlung. Als diese im Mai 1911 in Leipzig zur Versteigerung gelangte, wurde es durch einen Beauftragten für den amerikanischen Millionär
J .Pierpont Morgan zum Preise von 112 200 M. (eingeschlossen die Vermittlungsgebühr) erworben.
Eine so hohe Summe konnten freilich die beim Verkaufe anwesenden Vertreter der Wittenberger Lutherhalle nicht aufbringen, und so ging denn das kostbare Reformationsdenkmal ins Ausland.
Die unangenehmen Empfindungen, welche dadurch im evangelischen Deutschland erweckt wurden, veranlassten wohl Morgan mit, den Brief unserm Kaiser als Geschenk anzubieten, der ihn den Sammlungen der Lutherhalle überwies, wo er in der Luthergedenkhalle in einem kostbaren Behälter aufbewahrt wird. Die städtischen Behörden gaben ihrer Freude über das hochherzige Geschenk in einem Dank Telegramm an Kaiser Wilhelm II. Ausdruck.

Ein langgehegter Wunsch der Bewohner des nördlichen Teiles unseres Wittenberger Kreises ging mit dem 14. Juli in Erfüllung.
An diesem Tage wurde die Wittenberg-Straacher Eisenbahnlinie eingeweiht und dem Verkehr übergeben, der sich freilich bis zum 2. Dezember 1925 auf den Güterverkehr beschränkte.
An der Einweihungsfeier nahmen Mitglieder des Kreis Ausschusses und des Kreistages, mit dem Landrat von Trotha an der Spitze, sowie Vertreter der Stadt Wittenberg unter Führung des Bürgermeisters Dr. Schirmer, Beamte der Eisenbahn, Vertreter der Presse u. a. teil. Mittels Sonderzuges fuhren die Teilnehmer um 1 Uhr mittags über Kleinwittenberg auf der neuen Bahnstrecke nach der vorläufigen Endstation Straach, wo sie von dem Vorsteher des Amtsbezirks Straach, Hauptmann a. D. Roebellen, mit einer Ansprache begrüßt wurden.
An die Fahrt schloss sich ein Festmahl im Saale der „Stadt Hamburg“ in Straach.

Während der Monate Juni, Juli und August herrschte große Hitze und Trockenheit.
Im Juli stieg die Wärme im Schatten auf 37° C.
Da viele Wochen hindurch kein Regen fiel, so trat Futtermangel ein, und die Preise für Milch, Butter, Gemüse u. a. stiegen ganz erheblich. Der Wasserspiegel der Elbe sank noch 2 cm unter den bisher niedrigsten Wasserstand des Jahres 1904 und betrug von Torgau ab bis zur anhaltischen Grenze nur noch 1 m.
Infolgedessen war die Elbschifffahrt auf längere Zeit unterbrochen und damit 300 Dampfer und 20 000 Kähne stillgelegt.
Die Folge davon war ein beträchtliches Anziehen der Kohlenpreise.

Der Ernst der weltpolitischen Lage, wie er durch die Marokko – Wirren geschaffen war, kam insbesondere bei den Feiern des Sedantages zum Ausdruck.
Es gab nicht wenige auch unter unseren Einwohnern, welche der Überzeugung waren, dass jetzt für Deutschland der geeignete Augenblick gekommen sei, sich mit dem Schwerte seiner ränkespinnenden Widersacher zu erwehren.
Der Weltkrieg hat diesen Stimmen Recht gegeben.

Am 29. Oktober stattete die in Merseburg tagende 13. Provinzialsynode unter Führung ihres Vorsitzenden Graf D. von Wartensleben unserer Lutherstadt einen Besuch ab, an dem sich von den 110 Mitgliedern der Synode 100 beteiligten.
Unter dem Geläute der Schloss Kirchenglocken begaben sich diese durch die reichbeflaggten Straßen nach der Schlosskirche, wo der Direktor des Kgl. Predigerseminars Lic. Dunkmann eine Predigt hielt über 1. Petri 2 B. 9:
„Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht“.
Der Straubesche Gesangverein stattete den Gottesdienst aus durch den Gesang des Liedes: „Du, dem Ruhm und Preis gebühret“.
Am Nachmittag vereinigten sich die Teilnehmer mit hiesigen Gästen zu einem Festmahle in der „Reichspost“.
Während desselben wurde an Kaiser Wilhelm II. ein Begrüßungstelegramm gesandt.

Der 29. November brachte die Gründung einer Ortsgruppe des der Wehrhaftmachung unserer Jugend dienenden „Jung Deutschland-Bundes“ unter Leitung des Oberleutnants von Chorus.

Seit Jahren schon war es der Wunsch der Wittenberger Schützengesellschaft, ein eigenes Heim zu besitzen.
Nach langem Raten und Wägen ging dieser Wunsch endlich in Erfüllung.
Am 10. Dezember konnte der Grundstein zu dem Schützenhause auf der „Kuhlache“ gelegt werden.
Nachmittags 2½ Uhr nahmen beide Schützenkompagnien und die Ehrengäste Aufstellung am Grundsteine, in den die entsprechende Urkunde nebst 23 verschiedenen Beigaben eingefügt wurden.
Nach einer Ansprache des Kommandeurs der Schützengesellschaft, Kaufmann und Stadtverordneten Paul Friedrich, der sich um das Zustandekommen des Baues die größten Verdienste erworben hat, wurden von den Ehrengästen und den Vertretern der Schützengesellschaft unter Weihesprüchen die üblichen Hammerschläge getan.
Mit dem von der Regimentsmusik gespielten ,“Altniederländischen Dankgebet“ schloss die Feier, an die sich eine Besichtigung der Bauanlage und ein geselliges Beisammensein im Balzer’schen Saale schloss.

1912

Die Einweihung des fertigen Baues geschah am Sonntag, den 28. Juli 1912, gleichzeitig mit der Jubelfeier des fünfhundertjährigen Bestehens der Wittenberger Schützengesellschaft.
Die Stadt hatte hierzu reichen Festschmuck aus Tannengewinden und Fahnen angelegt.
An den Haupteingängen, am Bahnhof, Elstertor, Schloßtore u.a. Orten waren hohe Ehrenpforten errichtet.
Das Doppelfest wurde am Vorabend durch einen Festabend im Saale des neuen Schützenhauses unter Mitwirkung der vereinigten Männergesangvereine und der Regimentsmusik eingeleitet.
Am Festtage früh 6 Uhr fand großes Wecken statt.
Im Laufe des Vormittags hielten die von auswärts kommenden Schützen sowie eine Abordnung der Torgauer Geharnischten ihren Einzug in die Stadt, deren Straßen bald von einer dichten Menschenmenge erfüllt waren.
Um 10½ Uhr erfolgte vom Schützenhause aus unter Glockengeläut ein gemeinsamer Kirchgang zur Stadtkirche, an dem sich außer der festgebenden Schützengesellschaft sämtliche anwesenden fremden Schützen mit ihren Fahnen beteiligten.
Die Festpredigt hielt Pfarrer Haupt über Spr. Salom. 14 B. 35.
Den Glanzpunkt des Tages bildete der malerische Festzug, der sich mittags bald nach 12 Uhr vom Schloßtore aus durch die Hauptstraßen der Stadt bewegte. Voran ritt ein Herold, dem zwei Standartenträger zu Pferde mit dem Reichswappen und dem Wappen der Stadt Wittenberg folgten.
Dann kam eine berittene Musikabteilung in altdeutscher Tracht, der sich die zehn Torgauer Geharnischten in ihren glänzenden Rüstungen anschlossen.
Die nächste Gruppe eröffneten vier Pritschenmeister in mittelalterlicher Tracht.
Hinter ihnen schritt eine Abteilung Wittenberger Schützen, denen die Ehrengäste in mehreren Wagen folgten.
Nun nahte eine Musikabteilung in der Uniform aus der Zeit Friedrichs d. Großen, an die sich 27 auswärtige Schützengilden mit ihren Fahnen sowie der Wittenberger Scharfschützenklub anreihten.
Den Schluß bildete eine Abteilung der Wittenberger Schützengesellschaft und eine Abordnung der hiesigen Sanitätskolonne.
Im ganzen marschierten in dem farbenreichen Festzuge 600 Schützen mit 37 Fahnen und 6 Musikabteilungen.
Gegen 1 Uhr traf dieser auf dem Marktplatze ein und nahm dem reich geschmückten Rathause gegenüber Aufstellung.
Von dessen Vorhalle aus begrüßte Stadtrat Merker in Vertretung des verhinderten Stadtoberhauptes namens der Stadt die Festgäste. Hierauf setzte sich der Zug nach dem Festplatze wieder in Bewegung, wo er sich nach dem Abbringen der Fahnen auflöste.

Während des Festmahls im Saale des neuen Schützenhauses wurde an Kaiser Wilhelm II. ein Huldigungstelegramm gesandt.
Für das bis zum Donnerstag, den 8. August dauernde Jubiläums-Preisschießen waren von den verschiedensten Seiten wertvolle Preise gestiftet, die in einem besonderen Gabentempel aufgestellt waren.
Als Zeichen der kaiserlichen Anerkennung wurde der Schützengesellschaft der von ihrem jeweiligen Führer zu tragende Schützenadler verliehen.
Aus Anlass der Jubelfeier erschien eine reich aus gestattete Festschrift*), in welcher die 500 jährige Geschichte und Entwicklung der Wittenberger Schützengesellschaft dargestellt ist.
*) Die Schützengesellschaft zu Wittenberg. 
Festschrift zur Feier ihres 500 jährigen Bestehens,
von Richard Erfurth)

Das Jahr 1912 war überhaupt reich an Jubelfeiern.
Am 9. Juli beging der Männer- Turnverein von 1862 das Fest seines fünfzigjährigen Bestehens, durch einen Festabend und einen Festzug, an dem sich rund 1 000 Turner, darunter zahlreiche auswärtige Turnvereine, mit 20 Fahnen beteiligten.
Daran schloss sich die Weihe einer neuen Vereinsfahne und ein Wettturnen auf dem Tauentzienplatze.

Die gleiche Feier beging am 19. September der Männergesangverein durch einen Festabend im Balzerschen Saale, an dem sämtliche hiesigen Gesangvereine teilnahmen.

Gleichsam als Vorfeier hierzu hielt am 23. Juni der Sängerbund an der mittleren Saale in Wittenbergs Mauern sein 57. Gesangsfest ab, an dem sich 11 zum Bunde gehörigen Gesangvereine beteiligten. Die Sängerschar wurde auf dem Marktplatze namens der Stadt durch Bürgermeister Dr. Schirmer begrüßt
Den Höhepunkt des Festes bildete das im Balzerschen Saale gegebene Konzert, dem sich ein Festabend anreihte.

Auch der Evangelische Männer- und Jünglingsverein konnte sein fünfzigjähriges Bestehen durch eine größere Feier im Balzerschen Saale begehen.

Am 12. Mai stattete der Magdeburger Zweigverein des Evangelischen Bundes in Stärke von 400 Mann unter Begleitung der Magdeburger Kurrende unserer Stadt einen Besuch ab, um die Reformationsstätten zu besichtigen.
Zu dem gleichen Zwecke kehrte am 7. und 8. Dezember der Wartburgbund (evangelische Studentenvereinigung der Universitäten Berlin-Halle-Leipzig) hier ein.
Bei dem am 7. Dezember im Balzerschen Saale stattfindenden Festabend sprach Pfarrer D. Buchwald aus Leipzig über das Lutherwort:
„Meinen Deutschen bin ich geboren, ihnen will ich dienen“.
In der am 8. Dezember in der Schlosskirche veranstalteten Feier hielt Superintendent Orthmann eine Ansprache.
Daran schloss sich eine Nachfeier in „Sichlers Garten“.

Auch der Evangelisch-Kirchliche Hilfsverein in Gemeinschaft mit der Sächsischen Frauenhilfe erkor Wittenberg in diesem Jahre zum Tagungsort und hielt hier am 22. Oktober in Balzers Saal sein Jahresfest ab.

1913

Das Jahr 1913 zeichnet sich durch eine Reihe vaterländischer Gedenkfeiern aus.
Die Jahrhundertfeier der Erhebung Preußens wurde am 10. März durch Schulfeiern, Festgottesdienst und Paradeausstellung der Garnison gefeiert, an der auch der Kriegerverein, die Freiwillige Sanitätskolonne und der Jungdeutschlandbund teilnahmen.

Am 13. Juni beging die hiesige Reitende Abteilung des Torgauer Feldartillerie Regiments Nr. 74 die Feier ihres 100 jährigen Bestehens durch Paradeaufstellung der Batterien und Festmahl. Stadt und Kreis Wittenberg sowie die Offiziere des Infanterieregiments Nr. 20 überreichten dem feiernden Regimente silberne Armleuchter als Ehrengeschenk.

Zum 25. Regierungsjubiläum Kaiser Wilhelms II. am 15. und 16. Juni hatte sich die Stadt festlich mit Tannengrün und Fahnen geschmückt.
Am Augusteum und vor dem Rathause waren Ehrenpforten errichtet.
Am 15. Juni sanden in sämtlichen Kirchen Festgottesdienste statt, und am Nachmittag veranstalteten die Krieger und Militärvereine als Vorfeier in „Sichlers Garten“ ein Familienfest mit Konzert.
Mit Rücksicht auf den Todestag Kaiser Friedrichs war der 16. Juni als eigentlicher Festtag bestimmt.
Er wurde früh 6 Uhr durch das große Wecken eingeleitet. Daran schlossen sich im Laufe des Vormittags Fest-Appell bei den einzelnen Truppenteilen und ein Konzert der Regimentsmusik nebst großer Paroleausgabe am Kriegerdenkmal.
Nachmittags von 1 Uhr ab versammelten sich die Schülerinnen und Schüler sämtlicher Schulen mit ihren Lehrerinnen und Lehrern am Melanchthon-Gymnasium und marschierten von hier aus unter Musikbegleitung in einem rund zwei Kilometer langen Zuge, der 3600 festlich gekleidete Kinder umfasste, durch die Hauptstraßen nach dem Marktplatze.
Hier richtete Gymnasialdirektor Siebert an die Jugend eine Ansprache, die in ein Hoch auf den Kaiser ausklang.
Nach dem Gesange von „Heil dir im Siegerkranz“ begaben sich die einzelnen Schulen nach den ihnen zugewiesenen Festplätzen, wo die ärmeren Kinder seitens der Stadt aus Mitteln der Zimmermann-Stiftung mit Kaffee und Kuchen bewirtet wurden.
Aus Anlass des Festes verteilte der Magistrat ferner an 60 bedürftige und würdige Kriegsteilnehmer die Summe von 3 000 Mark.

Ein noch glänzenderes Fest sah Wittenberg vom 29. Juni bis 1. Juli. In diesen Tagen feierte das Infanterieregiment Graf Tauentzien von Wittenberg (3. Brandenburgisches) Nr. 20 unter zahlreicher Beteiligung von ehemaligen Regimentsangehörigen von nah und fern und freudiger Anteilnahme der Bürgerschaft sein hundertjähriges Bestehen.
Die Stadt hatte sich hierzu in ein reiches, prächtiges Festgewand gehüllt, das teilweise an jenes vom 31. Oktober 1892 (Einweihung der Schlosskirche) heranreichte.
Eingeleitet wurde das Fest am 29. Juni durch einen Begrüßungsabend in den Räumen der Offizier-Speiseanstalt, zu dem auch der neu ernannte Chef des Regiments, Generaloberst von Kessel, Kommandeur der Marken, von Berlin eintraf.
Am Vormittag des zweiten Festtages hielt das Regiment auf dem Tauentzienplatze Wetzturnen, Preisfechten und Wettspiele mit anschließender Preisverteilung ab.
Nachmittags 3½ Uhr wurden in der Offizier- Speiseanstalt die Ehrengeschenke überreicht.
Die Stadt Wittenberg schenkte eine kunstvoll aus Silber gearbeitete Prunkschale.
Daran schloss sich um 4 Uhr im Garten die Aufführung eines Festspiels, das in lebenden Bildern mit verbindendem Texte die Geschichte und die Heldentaten des Regiments veranschaulichte. Um 5 Uhr begann in den Räumen der Speiseanstalt das Festmahl. Den Schluss des Tages bildete der große Zapfenstreich.
Am Hauptfesttage, dem 1. Juli, rückten die Kompagnien vormittags 9 Uhr nach dem Tauentzienplatze, auf dem bald darauf auch etwa 2000 ehemalige Angehörige des Regiments von Berlin aus mit Sonderzug eintrafen.
Um 10½ Uhr begann hier der Feldgottesdienst, bei welchem der evangelische Garnisonpfarrer Herrmann und der katholische Garnisonpfarrer Wand Ansprachen hielten.
Daran schloss sich der Parademarsch, an dem auch die Vereine ehemaliger 20 er teilnahmen.
Den Abschluss des Festes bildeten die Mannschaftsfeiern der einzelnen Kompagnien in den verschiedenen Sälen der Stadt und der nächsten Umgebung.

Der hundertjährige Gedenktag der Völkerschlacht bei Leipzig wurde gleichfalls festlich begangen.
Am 18. Oktober hielten die einzelnen Schulen Festfeiern ab, und mit einbrechender Dunkelheit lohten von den umliegenden Höhen Freudenfeuer ins Land.
Am folgenden Tage, einem Sonntag, wurde des Tages im Festgottesdienste gedacht, während am Abend die hiesige Kreisgruppe des Deutschen Flottenvereins in dem überfüllten Balzerschen Saale unter Mitwirkung der Turnvereine und der Regimentsmusik eine öffentliche Festfeier veranstaltete.
Hierbei gelangte ua. das Festspiel
„Der Trommeljunge von Dennewitz“
von Paul Matzdorf zur Aufführung.
Die Festrede hielt der Vorsitzende des Flottenvereins Lehrer Erfurth.

Zur Hebung des Verkehrs in unserer Stadt wurde am 14. März ein Verkehrsverein gegründet und dem Hausbesitzerverein angeschlossen.

Die Entwicklung des städtischen Gemeinwesens ließ die Anstellung, eines juristisch gebildeten Beigeordneten (2.Bürgermeisters) notwendig erscheinen.
An Stelle des in den Ruhestand getretenen bisherigen  Beigeordneten Große wählte die Stadtverordnetenversammlung am 15. Mai von 65 Bewerbern den Magistratsassessor Dr. Thelemann aus Neukölln.
Seine Einführung geschah in der Stadtverordnetensitzung am 3. September.

Ein anschauliches Bild von der Entwickelung unseres heimischen Gewerbes gab die vom 2. bis 12. Oktober in den Räumen des Balzerschen Grundstücks veranstaltete Gewerbeausstellung für Gastwirtschafts- und Hotelwesen, Kochkunst und verwandte Gewerbe, die reich beschickt war und sich eines zahlreichen Besuchs erfreute.
In einer Sonderabteilung waren Obst und gärtnerische Erzeugnisse ausgestellt, die in ihrer Reichhaltigkeit und Güte ein rühmliches Zeugnis von dem hohen Stande unserer heimischen Gartenbaukunst und des Obstbaues ablegte.

Von Anfang an war der im Jahre 1910 gegründete Verein für Heimatkunde und Heimatschutz bemüht, heimatgeschichtliche Gegenstände und Erinnerungen zu sammeln.
Seine Sammlung war zunächst in einem Zimmer des Rathauses untergebracht, das sich aber bald als zu klein erwies.
Auf die Bitte des Vereins wurde diesem von den kirchlichen Körperschaften die unbenutzt stehende Kapelle zum heiligen Leichnam zur Einrichtung eines Heimatmuseums überlassen.
Am 9. Oktober wurde dieses mit einer schlichten Feier eingeweiht und eröffnet.

Die ständig wachsende Einwohnerzahl der westlichen Vororte hatte schon seit langem den Wunsch nach einem Verkehrsmittel zwischen diesen Orten und der Stadt Wittenberg geweckt.
Am 18. Oktober trat dieses in Form eines Auto-Omnibusbetriebs ins Leben.
Die Stadtverordnetenversammlung bewilligte dem Unternehmer, Kaufmann und Stadtverordneten Paul Friedrich, hierzu eine Beihilfe, die im ersten Betriebsjahr 1 000 Mark und in den beiden folgenden Betriebsjahren je 500 Mark betrug.

1914

In der Nacht vom 12. bis 13. Januar 1814 wurde die Festung Wittenberg von den preußischen Truppen erstürmt und Wittenbergs Bürger damit von der Willkür der französischen Besatzung befreit.
Der hundertjährige Gedenktag dieses für unsere Stadt so wichtigen Ereignisses wurde am 13. und 15. Januar 1914 durch eine von den Militärvereinen mit Unterstützung der Stadt in Balzers Saale veranstalteten Erinnerungsfeier begangen.
An beiden Festabenden gelangte ein von Lehrer Erfurth verfasstes Fest-Spiel „Vom Joche erlöst“ (Vaterländisches Festspiel in zwei Aufzügen von Richard Erfurth. Verlag von Arwed Strauch in Leipzig)
durch einheimische Darsteller zur Aufführung.
Die Festrede hielt am ersten Abend Bürgermeister Dr. Thelemann, am zweiten Abend Lehrer Erfurth.
An Kaiser Wilhelm II. wurde ein Huldigungstelegramm gesandt.
Zur Erinnerung an die Befreiung Wittenbergs vom französischen Joche errichteten die Offiziere der Garnison im Garten der Offizier- Speiseanstalt einen Gedenkstein.

Die „Internationale Hygiene Ausstellung“ zu Dresden im Jahre 1911 hatte durch ihren starken Besuch einwandfrei bewiesen, wie dankbar unser Volk für volksgesundheitliche Belehrungen ist. Letzterem Zwecke soll die provinzial-sächsische Wanderausstellung für Volksgesundheit und Jugendpflege dienen, die in der Zeit vom 20. bis 25. Februar 1914 auch in Wittenberg unter Leitung des Lehrers Temme aus Nordhausen einkehrte und am 20. Februar in der Turnhalle des Melanchthongymnasiums durch Bürgermeister Dr. Schirmer eröffnet wurde.
Die Ausstellung besuchten insgesamt 8 200 Personen, darunter 3 800 Jugendliche. Es wurden 11 Vorträge und 48 Führungen abgehalten und 2 000 Schundschriften gegen gute Bücher umgetauscht.

Wenige Tage vor Schluß des Schuljahres wurde der Stadt die Genugtuung, daß nach längeren Verhandlungen die bisherige Höhere Mädchenschule als Lyzeum anerkannt und ihr bald darauf der Name Katharinenlyzeum verliehen wurde.

2. Wittenberg während des Weltkrieges bis zum Schmachfrieden von Versailles.
1914

Krieg! Mitten hinein in unser friedliches Schaffen warf die Kriegsfurie plötzlich den lohenden Brand.
Draußen auf den Feldern schnitt der Landmann eine reiche, gesegnete Ernte, drinnen in Werkstatt, Fabriksaal und Geschäftsraum regten sich tausend geschäftige Hände in friedlichem Wettstreit, als der Ruf zu den Waffen wie vor 44 Jahren durch die deutschen Dörfer und Städte gellte.
Millionen deutscher Männer und Jünglinge legten Sense und Hacke, Hammer und Meißel, Feder und Stift beiseite, um die Werkzeuge des Friedens mit der toddrohenden Waffe zu vertauschen.
Hier mit stillem Ernst, dort mit einem Aufatmen, wie von schwerem Druck befreit, und da mit jugendfrohem begeisterten Kampfliede auf den Lippen, so traten sie an zu dem gewaltigen Völkerringen, wie die Erde noch keines sah.

Jeder Versuch, ein Gesamtbild dieses Riesenkampfes um unseres Volkes Dasein zu zeichnen, muss einem solchen Stoffe gegenüber selbst der aufs höchste gesteigerten Schilderungskunst als unzureichend erscheinen.
Die nachfolgenden Blätter sollen daher nur einen begrenzten Ausschnitt dieses erschütternden Weltdramas bilden, wie es mit seinen einzelnen Geschehnissen und Folgen im Leben der Stadt Wittenberg in Erscheinung trat.

Die langen Befürchtungen, die schon seit Tagen wie ein drückender Alp auf den Einwohnern gelegen, erreichten am Freitag den 31. Juli 1914 ihren Höhepunkt, als die Sonderblätter die Nachricht von der Erklärung des Kriegszustandes verbreiteten.
Von da bis zur eigentlichen Mobilmachung ist bekanntlich nur ein Schritt.
Der Ernst der Stunde drückte dem Leben in unserer Stadt und der Stimmung der Bürgerschaft unverkennbar den Stempel auf.

Von früh an bis in die Nachtstunden hinein waren die Geschäftsräume der beiden Ortszeitungen von einer dicht gedrängten Menge umgeben, die jedes neu erscheinende Sonderblatt mit der größten Spannung, aber in ernster, würdiger Haltung entgegennahm und eifrig die verschiedenen Möglichkeiten gegeneinander abwog.
Auf der Vogelwiese, die sich ihrem Ende näherte, wurde sogleich das Schießen nach der Festscheibe eingestellt, und nach erhaltener Anweisung marschierte eine Abteilung der Schützen zur Bewachung der Elbbrücke ab.
Die Eisenbahnbrücke über die Elbe war schon seit drei Tagen von Eisenbahnbeamten mit geladenem Gewehr scharf bewacht. Daß unter diesen Umständen von einem Verkehr auf dem Schützenfestplatze kaum noch die Rede sein konnte, ist selbstverständlich.
In höchster Eile durchfuhr unsere Stadt eine große Anzahl von Kraftwagen, die ihre Insassen aus den Bädern und Sommerfrischen in die Heimat zurückführten.
Viel angestaunt wurde ein russischer Wagen, dessen Erscheinen zu den übertriebensten Gerüchten Veranlassung gab.
Vor den Kasernen, besonders vor der Fridericianum- und Kavalierkaserne, in denen die Mannschaften ihre kriegsmäßige Ausrüstung in Empfang nahmen, sammelte sich seit den Nachmittagsstunden eine erwartungsvolle Menge, welche zunahm, als die Bekanntmachung des Generalkommandos vom IV. Armeekorps über das Verhalten der Bevölkerung bei Verhängung des Kriegszustandes angeschlagen wurde.
Auf dem Telegraphenamte musste fieberhaft gearbeitet werden, um die Menge der einlaufenden und abgehenden Depeschen zu erledigen. Privattelegramme erlitten mehrstündige Verspätungen, da die Telegraphenlinien in erster Reihe von der Militärverwaltung und den staatlichen Behörden in Anspruch genommen waren.

Das Leben der Straße spiegelte deutlich die innere Erregung wieder. Überall sah man Gruppen von Menschen, die eifrig die Lage erörterten, und besonders in der Collegienstraße flutete bis in die Nacht hinein der Strom auf und ab.
Die Haltung der Bevölkerung war ernst und ruhig; gefaßt sah sie den nahenden Ereignissen entgegen.
Aus allen Worten klang die Überzeugung: Wir suchen den Krieg nicht, aber wir fürchten ihn auch nicht. Wird er uns freventlich aufgezwungen, so werden wir ihn mit Gottes Hilfe auch siegreich bestehen.

Als am 1. August früh die Sonderblätter die Mitteilung brachten, daß unsere Regierung durch eine befristete Anfrage in Petersburg über den Zweck der russischen Mobilmachung den letzten Versuch zur Erhaltung des Friedens unternommen habe, da gab es noch viele, welche die Hoffnung hegten, das Zarenreich könnte noch in letzter Stunde einlenken.
Mit gespannter Erwartung sah man daher dem Ablauf der durch das Ultimatum gestellten zwölf-stündigen Frist entgegen.
Aber Stunde um Stunde verstrich, ohne daß eine Nachricht über den Ausgang dieses letzten Schrittes gekommen wäre, und je weiter die Zeiger der Uhr vorrückten, desto mehr sank die Hoffnung auf Erhaltung des Friedens.
Die Unruhe, die sich im ganzen öffentlichen Leben ausdrückte, stieg immer höher. Unter diesen Umständen fand die von Sonderblättern gebrachte Nachricht von der Ermordung des Führers der französischen Sozialdemokratie Jaurés nicht die Beachtung, welche diese Tat sonst gefunden hätte.
Endlich gegen 6¼ Uhr abends traf die Nachricht ein, daß Rußland auf das deutsche Ultimatum keine befriedigende Antwort gegeben und Kaiser Wilhelm II. deshalb die Mobilmachung befohlen habe. Kurze Zeit darauf hatten die Zeitungsboten diese inhaltsschwere Mitteilung durch Sonderblätter in allen Teilen der Stadt verbreitet, und wie ein fliegendes Feuer ging sie hinaus in die Dörfer.
Gefaßt wie etwas Unabänderliches, das man kommen sah, wurde sie überall aufgenommen.

Vor den Kasernen sammelte sich bald wieder eine immer mehr anschwellende Menge, welche die jungen Krieger mit ermunternden Zurufen begrüßte.
Es bedurfte dessen freilich nicht;
Mut und Siegeszuversicht leuchtete aus jedem Gesicht.
Immer wieder ertönte aus den Mannschaftsstuben der Gesang der „Wacht am Rhein“ und anderer Vaterlandslieder.
Gegen 8 Uhr abends und kurz nach 10 Uhr rückten die ersten größeren Scharen von Reservisten ein, die von allen Seiten mit lautem Hurra begrüßt wurden.
Bis in die späten Nachtstunden hinein wogte das Leben in den Straßen und auf dem Marktplatze auf und ab.

Leider muß auch von einigen unerfreulichen Erscheinungen berichtet werden:
Überängstliche Leute bestürmten die städtische Sparkasse, die Kreissparkasse und die Banken und forderten ihre Sparguthaben zurück, sodaß sich die Behörde veranlaßt sah, in einer Bekanntmachung auf das Törichte dieses Gebahrens hinzuweisen und die Sicherheit der Spareinlagen zu betonen.
Wiederholt kam es auch vor, daß einzelne Personen sich weigerten, Papiergeld in Zahlung zunehmen.
In manchen setzte sich sogar jetzt schon die Furcht vor einem Mangel an Lebensmitteln fest, sodass sie anfingen zu „hamstern“ – ein Beginnen, das in den folgenden Kriegsjahren immer mehr zunahm, dann aber wenigstens begründet war.

Das fieberhaft aufgeregte Leben, das in der Nacht nur wenige Stunden geruht hatte, begann am 2. August – einem Sonntag – sehr früh wieder sich zu regen.
Die Eisenbahnzüge brachten zahlreiche Verwandte von Mannschaften unseres Infanterieregiments Nr. 20 und des Artillerieregiments Nr. 74, welche kamen, um Abschied zu nehmen – für so manchen ein Abschied fürs Leben.

Not lehrt beten!
Das zeigte ein Blick in die Kirchen, deren Gottesdienste so zahlreich besucht waren, wie seit Jahren nicht. Viele, die seit Jahren den Weg ins Gotteshaus nicht zu finden wußten, hatte die Not der Zeit dahin getrieben. Im Hauptgottesdienste der Stadtkirche predigte Pfarrer Haupt über das Psalmwort „Befiehl dem Herrn deine Wege“, und mit so großer Inbrunst ist wohl unseres Luthers Kampf-und Siegeslied „Eine feste Burg ist unser Gott“ in diejem Gotteshause selten erklungen.
Abends 6 Uhr hielt Superintendent D. Orthmann hier die erste Kriegsbetstunde ab, die von da ab während der Dauer des Krieges jeden Mittwoch abends 8 Uhr stattfand.
Im Laufe dieses Sonntags wurden auch die ersten Kriegstrauungen in größerer Zahl vollzogen.
Die in den Abendstunden durch Sonderblatt verbreitete Nachricht von der Kriegserklärung Deutschlands an Rußland, welche über Kopenhagen kam und sich nachher als falsch erwies, wurde als eine Selbstverständlichkeit hingenommen.
Als dann die ersten telegraphischen Nachrichten über die Zusammenstöße der russischen und deutschen Grenztruppen bekannt wurden, da lösten diese bei den Mannschaften unserer Garnison nur den einen Wunsch aus:
bald mit an den Feind zu kommen.

Die polizeiliche Sonntagsruhe war aufgehoben, die Geschäfte blieben wie an den Wochentagen geöffnet. Wie immer in erregten Zeiten schwirrten viele teils übertriebene teils unwahre Gerüchte der verschiedensten Art durch die Stadt.
In den späten Nachmittagsstunden brachten die Eisenbahnzüge immer mehr Reserven, die in den Kasernen und den Bürgerhäusern untergebracht wurden.
Was der Dichter der Freiheitskriege sang, das bewährte sich wieder glänzend in diesen Tagen:
„Der König rief, und alle, alle kamen!“

Je näher der Abend und mit ihm die Stunde des Ausmarsches unseres 20. Infanterieregiments kam, desto mehr wuchs die vor den Kasernen, namentlich der Fridericianumkaserne, sich anstauende Menge, sodaß der Verkehr auf den Bürgersteigen ins Stocken geriet. Sobald ein Soldat in der neuen grauen Felduniform Freunden und Bekannten sich näherte, hob ein Grüßen, Händeschütteln und Wünschen an.
Aber freilich – auch manchen schmerzlichen, tränenreichen Abschied gab es.
War doch wohl kaum ein Haus in unserer Stadt, aus dem nicht an diesem oder einem der kommenden Tage ein Verwandter hinauszog in den schweren Kampf.

Gegen 8 Uhr rückte die Fahnenkompagnie des 20. Infanterieregiments unter den Klängen des Preußenmarsches in den Hof der Fridericianumkaserne ein.
Nach einer begeisterten Ansprache des Regimentskommandeurs Oberst Schulze, die mit einem brausenden Hurra der Mannschaften beantwortet wurde, setzte sich das 1. Bataillon in Bewegung – voran die Regimentsmusik, welche die „Wacht am Rhein“ erklingen ließ. Die vielen Hunderte auf der Straße stimmten begeistert in das Kampflied ein. Hände, Hüte und Tücher wurden geschwenkt; brausendes Hurrarufen erfüllte die Luft und begleitete die Ausziehenden bis zum Bahnhofe, wo diese den Sonderzug bestiegen und unter den Klängen von „Deutschland, Deutschland über alles“, unter Grüßen und heißen Wünschen hinauszogen in den Kampf gegen Deutschlands Erbfeind.
Um 9¼ Uhr folgte die Maschinengewehrabteilung und 10¾ Uhr das 2. Bataillon unter Trommel und Pfeifenklang und dem Gesange von Soldatenliedern, während das 3. Bataillon um 12½ Uhr nachts ausrückte.
Im ganzen marschierten am ersten Mobilmachungstage 2 400 Mann des 20. Infanterieregiments ins Feld.

In den folgenden Tagen trafen unausgesetzt weitere Reserven der Infanterie und Artillerie ein, von denen die ersteren bald nach ihrer Einkleidung unter dem Gesange von Soldatenliedern nach dem Bahnhofe marschierten, um dem aktiven Regiment an die belgische Grenze nachbefördert zu werden.
Staunend sah man, was es bedeutet: ein Volk in Waffen.
Groß war die Zahl der Freiwilligen.
Namentlich der Zudrang zur Artillerie war sehr stark.
Von den 28 Primanern des Melanchthongymnasiums traten 21 als Kriegsfreiwillige ins Heer.
Für diese fand am 4. August vor dem Lehrerkollegium die Not-Reifeprüfung statt, welche 14 bestanden.
Während in den Grenzprovinzen bereits der Landsturm aufgerufen war, bewendete es bei uns noch bei Reserve und Landwehr. Trotzdem griff die Mobilmachung bereits tief in das Familien- und Geschäftsleben ein.
Auch in der Landwirtschaft machte sich der Mangel an Arbeitskräften geltend, zumal die erfreulich reiche Ernte noch teilweise im Felde stand.

Am 3. August traf die Nachricht ein, daß russische Truppen tags zuvor ohne förmliche Kriegserklärung die deutsche Grenze überschritten und die Feindseligkeiten eröffnet hatten, bei denen unsere Sicherungsposten Sieger blieben.
Noch größere Freude erweckte die Mitteilung von dem Schneidigen Vorgehen des Kleinen Kreuzers „Augsburg“, der den russischen Kriegshafen Libau mit mit sichtbarem Erfolge beschoß.

Seit dem 3. August wurde die scharf bewachte Elbbrücke – die Schützen waren mittlerweile durch Militär abgelöst worden – mit einbrechender Dunkelheit für den Verkehr gesperrt.
Die von diesem Zeitpunkte an die Brücke überschreitenden Personen und Wagen wurden in Sammeltrupps von den Wachen hinübergeleitet.
Da das Erscheinen feindlicher Flieger befürchtet wurde, so war längere Zeit neben dem Hause des Brückengeldeinnehmers ein Abwehrgeschütz aufgestellt.
Gleichzeitig erließ der Magistrat eine Bekanntmachung über das Verhalten der Bürgerschaft bei Ankunft von feindlichen Flugzeugen. Glücklicherweise erwiesen sich diese Besorgnisse als unnötig.
Vom Generalkommando des 4. Armeekorps erging an alle Gemeinden die Aufforderung, zur Sicherung des militärischen Verkehrs die Eisenbahnstrecken in ihrer Umgebung zu bewachen. Dementsprechend waren neben der Elbbrücke auch sämtliche Flutbrücken, sowie die Eisenbahnübergänge und die Eisenbahnstrecke selbst durch Militär, Wittenberger Schützen, Eisenbahnbeamte und Pratauer Einwohner mit scharfgeladenem Gewehr gesichert.
Alle Wagen, besonders Kraftwagen, wurden angehalten, untersucht und unter Bedeckung über die Elbbrücke begleitet.
Vor dieser lag in der Elbe der Dampfer „Habicht“ der Strompolizei, der jedes Schiff, welches die Elbbrücke durchfahren wollte, anhielt und nach der Durchsuchung durch die Brücke geleitete.

Ebenso wie Wittenberg glich auch das benachbarte Pratau einem Truppenlager. In diesem Orte waren namentlich die Freiwilligen der Artillerie einquartiert. Die Uniformen saßen ihnen zwar nicht immer gut – öfter waren die Beinkleider oder die Rockärmel zu lang, sodaß sie umgeschlagen werden mußten – aber der unverwüstliche Humor und die Begeisterung hilft über solche Kleinigkeiten hinweg.

Vertrauensselige Gemüter hatten bis zur letzten Stunde noch gehofft, England werde in dem Streite zwischen Deutschland und seinen beiden Nachborn eine wohlwollende Neutralität bewahren. Die weniger Gutgläubigen freilich, die den britischen Charakter besser einzuschätzen wußten, setzten von vornherein in dessen Verhalten das größte Mißtrauen.
Die Ereignisse gaben ihnen nur zu bald recht.
Am 4. August abends 7 Uhr erklärte England an Deutschland den Krieg unter dem Vorwande, Deutschland habe durch seinen notgedrungenen Einmarsch in Belgien dessen Neutralität verletzt, und England sei verpflichtet, diese zu schützen.
Dabei hatte Belgien, wie die in den Archiven von Brüssel, Antwerpen ua. Orten aufgefundenen Dokumente beweisen, sich Frankreich und England gegenüber längst seiner Neutralität begeben und sich bereitfinden lassen, diesen beiden Staaten im Falle eines Krieges mit dem Deutschen Reiche als Aufmarschgebiet zu dienen.
Mit steigendem Neide hatte man schon längst jenseits des Kanals Deutschlands wachsende Macht verfolgt.
Der deutsche Welthandel war überraschend schnell gewachsen und würde in kurzer Zeit den englischen eingeholt und übertroffen haben. Das aber war dem britischen Dünkel und der britischen Gewinnsucht ein unerträglicher Gedanke.
Daraus erklärt sich die Einkreisungspolitik Eduards VII., daraus Englands Eintritt in den Krieg.
War doch seine Politik von jeher gegen die stärkste Macht auf dem Festlande und gegen jeden ernsthaft auftretenden Wettbewerber im Welthandel gerichtet.
Jetzt hielt das neidgeschwollene Albion den geeigneten Augenblick für gekommen, diesen lästigen deutschen Mitbewerber mit Hilfe seiner Verbündeten zu beseitigen, die kurzsichtig genug waren, mit dem Blute ihrer Völker den englischen Weizen zu düngen.
Denn lediglich als ein Geschäft galt England dieser Krieg.
Daß dieses sich trotz der zahlreichen Geschäftsteilhaber mehr und mehr zu einem „faulen“ entwickelte, lag freilich außerhalb der so fein ausgeklügelten Berechnungen.

Gerade als die Glocken der Stadtkirche zu dem von dem Kaiser für den 5. August angeordneten allgemeinen Buß- und Betgottesdienste riefen, wurde die Nachricht von der Kriegserklärung Englands bekannt, und dies trug wesentlich dazu bei, die tiefernste Stimmung der das Gotteshaus füllenden Menge zu verstärken.
Währenddem dauerte der Einmarsch und Ausmarsch der Reserven ununterbrochen fort.
Am Abend des Buß- und Bettages marschierte das hier gebildete Reserve-Infanterieregiment Nr. 20 zum Bahnhofe, durch den Tag und Nacht die Züge mit Truppen und Kriegsgerät rollten.
Seit dem ersten Mobilmachungstage waren an den Bahnsteigen vom hiesigen Zweigverein vom „Roten Kreuz“ Erfrischungsstellen errichtet, von denen den durchkommenden Truppen unentgeldlich Eßwaren, alkoholfreie Getränke sowie Zigarren und Zigaretten gereicht wurden.
Hierzu hatte sich aus der Bürgerschaft eine große Zahl freiwilliger Helferinnen und Helfer zur Verfügung gestellt. Hocherfreulich war auch der Zudrang zu dem im Katharinenstift eingerichteten Samariterkursus, der so überfüllt war, daß weitere Anmeldungen abgewiesen werden mußten.
Die vom Zweigverein des „Roten Kreuzes“, vom Vaterländischen Frauenverein und von dem Vorstande des hiesigen Flottenvereins erlassenen Aufrufe zum Spenden von Liebesgaben hatten reichen Erfolg.
Bis zum 14. August ging allein bei der hiesigen Sammelstelle vom „Roten Kreuz“ an barem Gelde die Summe von 5 266,14 Mark ein. Bewundernswert waren die Leistungen der Eisenbahnverwaltung, die sich vor eine Riesenaufgabe gestellt sah, die sie aber sicher und glatt löste. Geradezu ansteckend wirkte der Humor und die Begeisterung der vielen unsern Bahnhof berührenden Truppen.
Das Äußere der Wagenabteile zeigte meist launige oder auch ernste Sprüche, sowie Zerrbilder, bei denen vor allem Zar Nikolaus, Englands König und Frankreichs Präsident eine nicht beneidenswerte Rolle spielten.

Sehr oft sah man Bismarcks Wort:
– „Wir Deutschen fürchten Gott, sonst nichts auf der Welt.“
Dann ging es in bunter Folge weiter:
– „Dem Deutschen das Kreuz von Eisen, dem Franzosen das Eisen ins Kreuz.“
– „Wir haben Schneid und Mut, dazu ’ne saft’ge Wut.
– Wer fort uns zwingt von Weib und Kind, kriegt Keile, aber nicht gelind.“
– „Laßt die Franzosen Siege lügen, wenn wir nur Sieg an Siege fügen.“ – „Russische Eier, französischer Sekt, deutsche Hiebe – ei, wie das schmeckt!“
– „Alle Schuld rächt sich auf Erden. England, du mußt chemisch gereinigt werden.“
– „Franzosen, Russen, Serben, alle müssen sterben. Deutschland und auch Österreich sollen sie dann beerben.“
– „Nikolaus und Poincaré, ihr bringt uns nicht in Schrecken, ihr könnt uns mit dem Mister Grey mal ruhig am Ärmel lecken.“
Der König der Belgier an Kaiser Wilhelm:
– „Lieber Wilhelm, ich bitt‘ dich, gib mir zurück mein Lüttich.“
Kaiser Wilhelm an den König von Belgien:
– „Warte nur noch ein bissel, gleich nehme ich auch noch Brüssel.“

In dem hellen, freundlichen Bilde, das unsere Stadt in der Begeisterung und Vaterlandsliebe ihrer Bewohner bot, fehlten leider auch einzelne verunzierende Flecken nicht.
Zu den schlimmsten gehörten die Wucherpreise für notwendige Lebensmittel.
Wurde doch von einigen gewinnsüchtigen Leuten für eine Metze (5 Liter) Kartoffeln 1 M. gefordert, während der regelmäßige Preis 40 bis 50 Pf. betrug.
Der Vorstand des Gartenbauvereins sah sich daher veranlaßt, seine Mitglieder vor derartigen ungerechtfertigten Preissteigerungen zu warnen, und die Geistlichen fühlten sich gezwungen, diesen Wucher in der Predigt zu verurteilen.
Zu seiner Bekämpfung wurde später eine städtische Preisprüfungsstelle errichtet, welche für die Lebensmittel usw. Höchstpreise festsetzte.
Freilich fanden sich immer wieder Leute mit weitem Gewissen, die sich nicht daran kehrten, und Verurteilungen und Geschäftsschließungen wegen Überschreitung der Höchstpreise kehrten während der ganzen Dauer des Krieges immer wieder.

Die erste Festsetzung von Höchstpreisen auf Grund des Reichsgesetzes vom 4. August 1914 geschah durch den Magistrat am 12. März 1915 mit Wirkung vom 15. März 1915 ab. Sie bestimmte:
– für 1 Zentner Kartoffeln ………..   5,50 M
– für 1 Pfund Roggenmehl …………. 0,20 M
– für 1 Pfund Weizenmehl …………  0,24 M
– für 1 Pfund gemahlener Zucker 0,24 M
– 1 Pfund Würfelzucker ……………..  0,28 M
– für 1 Liter Vollmilch ………………….  0,20 M
– für 1 Pfund Butter ……………………   1,20 M
– für 1 Liter Petroleum ……………….   0.24 M

Diese Höchstpreise wurden von den Erzeugern – namentlich inbezug auf Milch und Butter – als zu niedrig bekämpft, und dieser Widerspruch kam auch in der Stadtverordnetensitzung vom 16. März zum Ausdruck.
Es wurde darauf hingewiesen, daß die Höchstpreise für Milch und Butter in keinem Verhältnis zu dem Preise für Futtermittel ständen, die seit dem Herbste 1914 eine ganz außerordentliche Steigerung erfuhren; zB.
– ein Zentner Kleie von 7,50 M. auf 20 M.,
– Erdnußmehl von 8,10 M. auf 18 M.,
– Rapskuchen von 7,50 M. auf 15 M.

Da diese Höchstpreise von den Verhältnissen bald überholt wurden, so sah sich der Magistrat genötigt, sie am 18. Mai 1915 wieder aufzuheben und später wiederholt durch andere, höhere, zu ersetzen.
Jedenfalls erwies sich die Festsetzung von Höchstpreisen zum Schutze der Verbraucher gegen Wucher als notwendig.
Freilich hatten diese eine ebenso ungewollte als unangenehme Erscheinung im Gefolge:
Mit ihrem Erscheinen pflegten viele Lebensmittel aus dem freien Verkehr zu verschwinden, um unter der Hand zu weit höheren Preisen, die oft wahre Phantasiepreise waren, verkauft zu werden; so wurde im Frühjahr 1917
– für ein Pfund geräucherten Speck statt des Höchstpreises von 2,20 M. unter der Hand bis 8 M.,
– für Schlackwurst (Höchstpreis 2,60 M.) 6 M.,
– Butter (Höchstpreis 2,54 M.) 6 M.,
– für ein Ei (Höchstpreis 24 Pf.) 40 Pf. und darüber gezahlt.

Es gab Leute genug, die jeden verlangten Preis zahlten, wenn es galt, Vorräte einzuheimsen.
Der Volksmund bezeichnete sie zutreffend mit dem Namen „Hamster“.
Die Behörden sahen sich wiederholt gezwungen, gegen diese die Allgemeinheit schädigende „Hamsterei“ einzu greifen, ohne jedoch das Übel beseitigen zu können.

Die Truppeneinquartierungen in unserer Stadt, die mit dem ersten Mobilmachungstage begannen, dauerten auch in den folgenden Wochen fort.
So trafen am 7. August 2 000 Mann zur Bildung eines Landwehrregiments hier ein, denen wenige Tage später die gleiche Anzahl folgte.
Bis zum 14. August waren 7 200 Mann einquartiert, und bis zum 20. März 1915 wuchs diese Zahl auf mehr als 30 000 Mann.
An Quartiergeldern wurden bis zum genannten Tage rund 310 000 Mark ausgezahlt, die sich auf 260 049 Einquartierungstage verteilen.
Zweifellos stand Wittenberg mit der Einquartierungslast im Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl an der Spitze aller Garnisonstädte. Um den darin liegenden gewaltigen Anforderungen genügen zu können, mußte das städtische Einquartierungsamt vom ersten Mobilmachungstage ab ununterbrochen, oft bis 10 Uhr abends, angestrengt arbeiten.
Zur Unterbringung dieser Massen mußten die Bürgerquartiere bis an die Grenze des Möglichen belegt werden.
Neben den Haus besitzern wurde jeder Mieter von 300 M. Jahresmiete ab verpflichtet, Einquartierung aufzunehmen.
Daß bei dieser starken Belegung die Quartiere nicht immer den gestellten Anforderungen entsprachen, liegt auf der Hand. Der Magistrat sah sich daher veranlaßt, unter dem 16. Oktober 1915 die entsprechenden Bestimmungen über die Beschaffenheit der Quartiere zur Beachtung bekannt zu geben.
Diese Bestimmungen, die freilich für normale Verhältnisse berechnet sind, erfuhren denn auch in der Bürgerschaft heftigen Widerspruch, der ua. in der Ortspresse und in der Stadtverordnetenversammlung zum Ausdruck gelangte. Dieser richtete sich ua. dagegen, daß den Bürgern außer ihren sonstigen Opfern auch noch Opfer an Geld zugemutet wurden, da die Quartiergeldsätze unzureichend waren.
Wurde doch, solange die Truppen mit voller Verpflegung einquartiert waren, für den Mann und Tag nur 1,20 M. gezahlt.
Als auf das Drängen der Bürgerschaft hin die Truppen ohne Verpflegung gelegt wurden, zahlte die Militärverwaltung für den Mann und Tag im Winter nur 15 Pf. und im Sommer 10 Pf., trotzdem die Kosten für die geforderte Heizung und Beleuchtung der Quartiere ganz erheblich gewachsen waren.
Hatte doch die Stadt selbst für das von ihr im „Gesellschaftshaus“ eingerichtete Massenquartier den Preis auf 45 Pf. für den Mann und Tag festgesetzt.
Lebhaft beklagt wurde es auch, daß sich die Auszahlung der Quartiergelder so lange verzögerte. Um diese zu beschleunigen, beschloß die Stadtverordnetenversammlung am 22. Oftober 1914, zu diesem Zwecke bei der Stadtsparkasse ein Darlehen bis 400 000 M. aufzunehmen.
Während Wittenberg unter der großen Einquartierungslast seufzte, blieben die Nachbarstādie Zahna, Pretzsch, Kemberg, Schmiedeberg davon befreit.
Die Anträge, zugunsten von Wittenberg dorthin Truppen zu legen, wurden „aus militärischen Gründen“ abgelehnt.
Um der Bürgerschaft die Last etwas zu erleichtern, richtete die städtische Behörde anfangs Januar 1916 die Knabenbürgerschule zur Hilfskaserne ein. Die Schüler wurden im Gebäude der Mädchenbürgerschule untergebracht.

Eins darf gerechterweise hierbei auch nicht übersehen werden: durch die Einquartierung machten zahlreiche Gastwirtschaften und Kaufleute namentlich im ersten und zweiten Kriegsjahre glänzende Geschäfte, und man kann es verstehen, wenn aus diesen Kreisen den Anträgen auf Verlegung von Truppen ein gewisser Widerstand entgegengesetzt wurde.
Erst Mitte Juli 1916 entschloß sich die Militärverwaltung dazu, der Wittenberger Bürgerschaft durch Verlegen des Landwehrbataillons die gewünschte Erleichterung zu gewähren. Über den Umfang der Einquartierungslast gibt die nachfolgende Aufstellung ein anschauliches Bild.

Nachdem England unter fadenscheinigen Gründen Deutschland den Fehdehandschuh hingeworfen hatte, folgte auch Belgien als vierter Feind diesem Beispiele, obgleich die deutsche Regierung ihm seine Selbständigkeit feierlich zugesichert und versprochen hatte, allen durch den notgedrungenen Durchmarsch der deutschen Truppen entstandenen Schaden zu vergüten.
Eine bedauernswerte Voreiligkeit war es, daß der Reichskanzler von Bethmann-Hollweg im Deutschen Reichstage das Wort von „einem Belgien zugefügten Unrecht“ fallen ließ.
Diese diplomatische Entgleisung hat sich später schwer gerächt.
Die nachfolgenden Ereignisse bewiesen bald, daß Belgien – wie bereits ausgeführt wurde – längst seiner Neutralität entsagt und zu einem bloßen Werkzeuge Englands und Frankreichs geworden war. Die Vergeltung folgte auf dem Fuße.
Am 7. August abends 8 Uhr meldete ein Sonderblatt, daß die deutschen Truppen in heldenhaftem Ansturm die Festung Lüttich genommen und damit den Weg ins Tal der Maas geöffnet hatten.“
(Wir folgen bei diesen und den weiteren Angaben über die Kriegsführung den amtlichen Heeresberichten, deren Nachprüfung nicht Im Rahmen dieser Veröffentlichung liegt.)

Gleich darauf erschienen an den Häusern die Fahnen und gaben die Freude der Bürgerschaft kund.
Von einer zweiten Heldentat wußten die Blätter am nächsten Tage zu berichten:
Der Hilfskreuzer (frühere Bäderdampfer) „Königin Luise“ brachte durch Legen von Minen in der Themse den englischen Kleinen Kreuzer „Amphion“ mit 380 Mann Besatzung zum Sinken.
Leider wurde das Schiff dabei selbst samt seiner tapferen Besatzung von 6 Offizieren und 114 Mann in den Grund gebohrt.

Schon seit dem 4. August lief durch die verschiedenen deutschen Zeitungen und zwar in bestimmter Form die Mitteilung, daß in Deutschland feindliche Kraftwagen unterwegs seien, die 80 Millionen in Gold von Frankreich nach Rußland bringen sollten. Auch in Wittenberg und Umgegend fahndete man eifrig nach diesen sagenhaften Goldwagen.
Alle Straßen und Brücken in Stadt und Land wurden scharf bewacht und jeder Kraftwagen genau durchsucht.
Die Sache war natürlich eine fette Ente.
Die Automobiljagd aber artete in groben, gefährlichen Unfug aus.
Es konnte schließlich kein Kraftwagen mehr eine Ortschaft durchfahren, ohne mehrfach angehalten und bedroht zu werden.
Da hierdurch das Leben von Personen gefährdet und der Kraftwagenverkehr, selbst jene der Armee, empfindlich gestört wurde, so sah sich das Generalkommando veranlaßt das Anhalten der Kraftwagen zu untersagen.

Ein freudiges Echo weckten am 11. August die Nachrichten von den ersten siegreichen Gefechten gegen die französische Armee. Eine vorgeschobene gemischte Brigade des 5. Armeekorps wurde von den deutschen Sicherungstruppen bei Lagarde in Lothringen angegriffen und unter schweren Verlusten in den Wald von Paron bei Luneville zurück geworfen, während das von Belfort aus in Ober-Elsaß vorgedrungene 7. französische Armeekorps von unseren Truppen bei Mülhausen in südlicher Richtung unter blutigen Verlusten zurückgeschlagen wurde.

Am 11. August fand die erste Stadtverordnetensitzung seit Kriegsausbruch statt, die für immer denkwürdig bleiben wird und sich zu einer begeisterten vaterländischen Kundgebung gestaltete. In treffender und wirkungsvoller Weise begründete der Stadtverordnetenvorsteher Bickel die Einberufung der außerordentlichen Versammlung im Hinblick auf die Aufgaben der angebrochenen ernsten und doch großen Zeit.
Ebenso eindrucksvoll war die Begründung, die Bürgermeister Dr. Schirmer zu den beiden den Vorlagen gab:
– 1. Bereitstellung von 10 000 Mark für außergewöhnliche, durch den Krieg bedingte Ausgaben.
– 2. Weitergewährung der bisherigen Gehalts- bzw. Lohnbezüge an die zur Fahne einberufenen städtischen Angestellten und Arbeiter. Beide Vorlagen wurden ohne Besprechung einstimmig angenommen.
Mit einem vom Stadtverordnetenvorsteher ausgebrachten und von der Versammlung begeistert aufgenommenen Hoch auf den Kaiser schloß die denkwürdige Sitzung.

Am Vormittag des 12. August fanden für das hier zusammengestellte und zum Ausmarsch bereite Landwehr-Infanterieregiment Nr. 20 auf dem Arsenalplatz, im Hofe der Kavalierkaserne und im Birkenwäldchen Feldgottesdienste statt. Abends 10½ Uhr rückte das 1. Bataillon aus, begrüßt und geleitet von der Begeisterung und den Wünschen der Bürgerschaft.
Nachts 2½ Uhr folgte das 2. und früh 5½ Uhr das 3. Bataillon.
Der Andrang der Freiwilligen zu den Fahnen war noch immer so zahlreich, daß viele zurückgewiesen werden mußten.
Bis zum 10. August wurden im Deutschen Reiche im ganzen 1 300 000 Kriegsfreiwillige gezählt. In großer Zahl stellten sich namentlich die Schüler der höheren Schulen der Landwirtschaft zur Verfügung zum Einbringen der reichen Ernte, die denn auch bei dem anhaltend guten Wetter trotz Mangel an geübten Arbeitskräften und an Gespannen glücklich geborgen werden konnte.
Immer zahlreicher kamen in dieser Zeit die Nachrichten über das rohe Verhalten der belgischen Zivilbevölkerung, insbesondere der Wallonen, welche die in Belgien Iebenden Deutschen in gemeinster Weise mißhandelten und unsere Truppen aus dem Hinterhalte meuchlings beschossen.

Die am 15. August in den hiesigen Zeitungen veröffentlichte erste Verlustliste des Infanterieregiments Nr. 20 bestätigte das schon seit einigen Tagen in der Stadt im Umlauf befindliche Gerücht:
Der Kommandeur des Regiments, Oberst Schulze, der seit 1912 an dessen Spitze stand und der sich „durch hervorragende menschliche und soldatische Eigenschaften auszeichnete“, erlitt in den Kämpfen um Lüttich den Heldentod.
Magistrat und Stadtverordnetenversammlung widmeten ihm einen warmen Nachruf.

Mit großer Spannung erwartete die Bevölkerung die Nachrichten von den Kriegsschauplätzen.
Bisher war nur weniges durchgesickert.
Der Aufmarsch der Truppen vollzog sich in großer Heimlichkeit; man erfuhr nicht einmal die Namen der Heerführer. Die von den Soldaten nach der Heimat gesandten Postsachen waren einer Strengen Zensur unterworfen.
Mittlerweile wurde auch der Landsturm der innerpreußischen Provinzen, also auch unserer Provinz Sachsen, aufgeboten.
Die am 18. August erschienene dritte Verlustliste, welche die bei Lüttich erhaltenen Verluste meldete, enthielt 621 Namen.
Das 20. Infanterieregiment war daran mit 137 Mann beteiligt.
Dazu kamen in der vierten Verlustliste weitere 208, darunter 17 von unseren 20 ern.
Die fünfte Verlustliste zählte 90 Namen unseres 20. Infanterieregiments auf und die sechste deren 25.

Den erfreulichen Nachrichten über die Siege der deutschen Truppen über die französischen in den Gefechten bei Pervez, Weiler und Tirkemont und über den Erfolg des Kleinen Kreuzers „Straßburg“, der ein englisches Torpedoboot versenkte, folgte leider die Botschaft von der feindseligen Haltung Japans.
Mit schamloser Dreistigkeit stellte dieses in Form eines Ultimatums an Deutschland das Ansinnen, ihm unsere blühende Kolonie Kiautschou auszuliefern und alle deutschen Kriegsschiffe aus den japanischen und chinesischen Gewässern zurückzuziehen. Selbstverständlich hielt es unsere Regierung als unter ihrer Würde, auf dieses Verlangen zu antworten. Sie rief den deutschen Gesandten in Tokio ab und stellte dem japanischen Gesandten in Berlin die Pässe zu.

So trat denn zu Rußland, Frankreich, England, Belgien, Serbien und Montenegro Japan als neuer Feind, der aber ebensowenig wie jene vermochte, die Begeisterung und den Mut unserer Truppen wie der Daheimgebliebenen zu erschüttern.
Bereits am 21. August konnten diese neue, hohe Wellen schlagen. An diesem Tage traf die Nachricht von einem Doppelsiege ein: Deutsche Truppen besetzten Brüssel, die Hauptstadt Belgiens. Truppen aller deutschen Stämme unter Führung des Kronprinzen von Bayern schlugen am 20. August zwischen Metz und den Vogesen die in Lothringen vordringenden starken französischen Kräfte, deren Rückzug in wilde Flucht ausartete.
Mehr als 10 000 Gefangene und über 500 Geschütze fielen in die Hände der Sieger. Heller Jubel erfüllte unsere Stadt, als die Sonderblätter gegen 4 Uhr nachmittags diese Siegeskunde verbreiteten. Gleich darauf flatterten aus den Häusern die Fahnen und hüllten die Straßen in ein festliches Gewand.
Auf dem Marktplatze sammelte sich eine frohgestimnite Menge, die eifrig das große Ereignis erörterte. Sie schwoll immer mehr an, als um 5 Uhr die Kühnsche Musikkapelle erschien und im Rathausportal Aufstellung nahm.
Von hier aus richtete Superintendent Orthmann an die Versammelten eine begeisterte Ansprache, die in ein Hoch auf den Kaiser ausklang. Die Musik trug dann eine Reihe von Märschen und vaterländischen Liedern vor, die von der Menge mitgesungen wurden.
Um 9 Uhr abends führte der Jung-Deutschland-Bund unter Trommel- und Pfeifenklang und begleitet von einer großen Menge einen Zapfenstreich durch die Hauptstraßen der Stadt aus.
Bis in die späten Nachtstunden wogten die Einwohner in froher Stimmung auf dem Marktplatze und in den Hauptstraßen auf und ab, während aus den Mannschaftsstuben der Kasernen unaufhörlich vaterländische Lieder und Hurrarufe erklangen.

In den folgenden Tagen mehrten sich fortgesetzt die Siegesnachrichten:
Am 22. August siegte der deutsche Kronprinz über die Franzosen bei Longwy und der Herzog Albrecht von Württemberg am Semois. Bei Gumbinnen schlägt das 1. deutsche Armeekorps die Russen und erbeutet 8 000 Gefangene nebst 8 Geschützen.
Am 25. August wird die belgische Festung Namur von unseren Truppen eingenommen und am 27. August die französische Festung Longwy.
Am 28. August wird die englische Armee durch die Deutschen unter Generaloberst von Kluck bei Maubeuge vollständig geschlagen. Mehrere tausend Gefangene, 7 Feldbatterien und eine schwere Batterie wurden die Beute des Siegers.
Am gleichen Tage wurde eine französisch-belgische Armee zwischen Sombre, Namur und Maas durch Generaloberst von Bülow und Generaloberst von Hausen völlig besiegt.
Gleich nach Bekanntwerden dieser Siegesbotschaft erschienen an den Häusern die kaum eingezogenen Fahnen wieder, und die Glocken der Stadtkirche stimmten ihr helles Siegesgeläut an. Am Abend führte der Jung-Deutschland-Bund einen Zapfen-Streich aus.

Noch war der Jubel über die Siege ber deutschen Waffen im Westen nicht verhallt, als neue noch größere Siegeskunde vom Osten eintraf: Unsere Truppen unter Führung des Generalobersten von Hindenburg schlugen in der Gegend von Gilgenburg-Tannenberg-Ortelsburg die russische Narewarmee (5. Armeekorps und 3 Kavallerie-Divisionen).
Den Siegern fielen 70 000 Gefangene, darunter 300 Offiziere, sowie zahlreiche Geschütze in die Hände.
Wieder ließen die Glocken der Stadtkirche ihren Siegesjubel erschallen, und die Straßen hüllten sich in Flaggenschmuck.
Leider erfuhr die Siegesfreude eine Trübung durch die Nachricht, daß westlich von Helgoland die Kreuzer „Ariadne“, „Köln“ und „Mainz“, sowie das Torpedoboot „V. 187“ von überlegenen englischen Seestreitkräften vernichtet wurden.
Aber auch die Engländer erlitten schwere Verluste.

Die gewaltigen Ereignisse drängten naturgemäß die sonst übliche Feier des Sedantages zurück.
Diese beschränkte sich auf Schulfeiern, und am Abend wurde in der Stadtkirche eine Dankes- und Siegesfeier abgehalten.

Mit andauernder Begeisterung folgten die Daheimgebliebenen dem siegreichen Vordringen unserer Heere im Westen, die sich der Hauptstadt Frankreichs bis auf 50 km näherten, sodaß es die französische Regierung für geraten hielt, sich nach Bordeaux zu begeben, und die Einwohner sich anschickten, aus Paris zu fliehen.

Am 5. September trafen in unserer Stadt die ersten verwundeten Kriegsgefangenen ein.
Neben einigen Belgiern waren es in der Hauptzahl Franzosen, darunter auch mehrere Zuaven.
Der Zug mit den rund 300 Verwundeten, der über Magdeburg geleitet wurde, lief kurz nach 8 Uhr abends auf dem hiesigen Bahnhofe ein, wo er auf das Gleis der Hafenbahn übersetzte und nach dem Hafen befördert wurde, wo die Ausladung geschah.
Die Schwerverwundeten, von denen einer kurz vor dem Einlaufen des Zuges starb, kamen in das Garnisonlazarett, während die übrigen in den Hilfslazaretten im „Kaisergarten“ und „Balzers Saal“ Aufnahme fanden. Nur eine kleine Zahl konnte den Weg dahin zu Fuß zurücklegen; die meisten wurden durch Mitglieder der Freiwilligen Sanitätskolonne und freiwillige Krankenträger aus der Bürgerschaft auf Tragbahren, Krankenwagen, Omnibussen und Kraftwagen befördert. Sämtliche Transporte begleiteten Landwehrmänner mit aufgepflanztem Seitengewehr.
Die Nachricht von der Ankunft der Kriegsgefangenen hatte eine große Zahl der Einwohner in Bewegung gesetzt, die den Weg von der Ausladestelle bis zum Garnisonlazarett auf beiden Seiten dicht besetzt hielten, und denen so die Leiden des Krieges in anschaulicher Weise vor Augen geführt wurden.
Es verdient im Gegensatz zum Verhalten unserer Feinde hervor gehoben zu werden, daß unsere Bevölkerung eine durchaus ernste und würdige Haltung bewahrte. Nur halblaut tauschte man seine Bemerkungen und Meinungen aus.
Recht ungünstig wurde die nach deutschen Begriffen unzweckmäßige Uniform der Franzosen beurteilt – das rote weithin sichtbare Käppi, die roten Hosen und der bis an die Knöchel reichende lange dunkelblaue Waffenrock, der zurück geknöpft werden kann und dann zugleich die Stelle des Mantels vertritt.
Erst gegen 12 Uhr nachts war der lange Zug seiner traurigen Last entladen.
Am folgenden Morgen, gegen 4 Uhr, traf abermals ein Eisenbahnzug mit 250 verwundeten französischen Kriegsgefangenen hier ein, die in gleicher Weise nach den sorgfältig eingerichteten und reichlich ausgestatteten Hilfslazaretten überführt wurden.
Es waren dazu in der Stadt eingerichtet:
– „Schweizergarten“,
– „Kaisergarten“,
– „Ackermanns Garten“,
– „Loge zum treuen Verein“,
– „Bürgergarten“,
– „Balzers Saal“,
– „Schrebergartenschänke“,
– „Freudenbergs Saal“,
– „Reichspost“ (Muth) und
– „Schützenhaus“.
Dazu kamen in Kleinwittenberg „Elbhafen“ und „Kronprinz“.
Mithin waren sämtliche Säle in der Stadt belegt.
(Der Hannemannsche kleine Saal in der Collegienstraße war zum Stadtquartier für die Stickstoffwerke eingerichtet.) Theatervorstellungen usw. konnten nur in dem außerhalb der Stadt gelegenen „Goldenen Stern“ abgehalten werden.
Für Versammlungen, Familienabende und sonstige religiöse und vaterländische Veranstaltungen wurde die Stadtkirche, der Festsaal des Melanchthongymnasiums und die Turnhalle der Mittelschule bereitgestellt.

Am 8. September wurde der erste französische Kriegsgefangene, der auf dem Transport seinen Wunden erlegen war, auf dem alten Friedhof rechts der Dresdener Straße beerdigt.
Dem schlichten schmucklosen Sarge vorauf schritt der hiesige katholische Geistliche mit den beiden Chorknaben.
Hinter dem Sarge, der von deutschen Soldaten getragen wurde, folgte eine Abteilung des Ersatzreserve-Bataillons unter Leitung eines Feldwebels.
Unsere Bevölkerung begegnete dem Leichenzuge, ebenso wie allen späteren Beerdigungen von Kriegsgefangenen, mit ehrfurchtsvollem Schweigen.
Um so nichtswürdiger war es, daß die deutsch-feindliche „Neue Züricher Zeitung“ die auf die angeblichen Aussagen englischer Offiziere sich stützende unwahre Beschuldigung erhob, die Einwohner Wittenbergs hätten die Leichenzüge von Kriegsgefangenen verhöhnt.
Diese Verunglimpfung unserer Bürgerschaft erfuhr in der Stadtverordnetensizung die verdiente Zurückweisung.

Am 7. September fiel die französische Festung Maubeuge, wobei 40 000 Gefangene, darunter 4 Generale den Siegern in die Hände fielen. Die Siegesnachricht, die hier am Nachmittag des 8. September eintraf, wurde in üblicher Weise durch Siegesgeläut, Flaggenschmuck und Zapfenstreich des Jung-Deutschland-Bundes begrüßt. Am folgenden Tage fiel der Unterricht in den Schulen aus.

Bis Mitte September 1914 waren in Deutschland rund 300 000 unverwundete Kriegsgefangene untergebracht.
Bald bekam auch Wittenberg die ersten dieser Gäste zu sehen.
Für ihre Unterbringung war draußen im Westen der Stadt, in der Nähe der Christuskirche, auf dem Gelände, das begrenzt wird von der Dessauer Straße und der Dessauer Eisenbahn, ein Barackenlager errichtet. Dieses bedeckte ohne Lazarett und Wirtschaftsgebäude eine Fläche von 12,1 ha.
Seine größte Belegung betrug (im Dezember 1914) rund 16 000 Mann, die sich auf 55 Baracken von je 52 x 12 Meter verteilten.
Sämtliche Baracken waren mit Dielung versehen, die zum Schutz gegen Feuchtigkeit und Kälte 20 cm über dem Erdboden lag.
Jede Halbbaracke wurde während der kalten Jahreszeit durch einen großen eisernen Mantelofen geheizt.
Breite Zwischenräume trennten die einzelnen Baulichkeiten von einander und bildeten so gerade Straßen, die den Verkehr nach allen Teilen des Lagers vermittelten.
Das ganze Lager war mit einem hohen doppelten Zaun von Stacheldraht umgeben. An den Eingängen standen deutsche Landsturmleute, die eine scharfe Kontrolle ausübten.
Ohne Ausweis durfte niemand das Lager betreten.
Als erste trafen französische Kriegsgefangene ein, denen bald auch Russen folgten, die aber von ihren Bundesbrüdern ob ihres Kulturzustandes nicht eben freundlich begrüßt wurden.
Etwas später folgten Engländer und Belgier und Anfang November 1917 noch 7 000 Italiener.
Die Gefangenen, vor allem die Russen, trafen meist in verlaustem und schmutzigen Zustande im Lager ein, wo sie bald nach der Ankunft einer gründlichen Reinigung des Körpers und der Kleider unterzogen wurden.
In der Zeit vom 1. November 1914 bis 1. August 1915 wurden hierzu 1 681 kg Seife verabfolgt und für das Lazarett überdies noch 830 kg. Für jeden Mann war eine Matratze vorhanden, außerdem erhielt jeder von vornherein zwei wollene Decken.
Die Bekleidung war die von den Gefangenen mitgebrachte.
Wenn im Anfang, besonders bei den Engländern, einige Kleidungsstücke fehlten, so war dies eine Folge ihrer Spielwut, die sie verleitete, ihre Kleider zu verkaufen und den Erlös als Einsatz zu benutzen.
Die Russen waren jedenfalls im Gelderwerb praktischer. Sie verfertigten mit bewundernswerter Geschiecklichkeit und mit den einfachsten Hilfsmitteln Fingerringe, Modelle von Flugmaschinen, Spielwaren und andere Sachen, die sie gegen bescheidenen Lohn durch die gefälligen Landsturmmannschaften vertrieben.
Überhaupt bewiesen sich die russischen Kriegsgefangenen viel williger, auch bei Übernahme von Arbeiten, als die französischen Vogesenjäger und vor allem die Engländer, die vielfach mit Gewalt zur Unterordnung gezwungen werden mußten.
Da jene wohl die Lagerwachen, die anfangs noch ihre Zivillleider mit einer Armbinde trugen, für Zivilpersonen ansahen und der Meinung waren, Wittenberg sei von Soldaten entblößt, so sollte ihnen ein anschaulicher Begriff von unserer noch im Lande befindlichen Truppenmacht gegeben werden.

Am 13. Oktober marschierte daher die hier befindliche Infanterie – ein kriegsstarkes Regiment – und eine starke Artillerieabteilung an den im Lager in Reih und Glied aufgestellten Gefangenen vorüber, die angesichts dieser zahlreichen, strammen Krieger ein recht erstauntes Gesicht zeigten.

Die Verpflegung durfte den Verhältnissen entsprechend, namentlich in den ersten beiden Kriegsjahren, als gut und ausreichend gelten. Ja, in der Bevölkerung war die Meinung vorherrschend, daß diese gegenüber jener der Einwohner „zu üppig“ sei.
Es erhielt jeder Gefangene für den Tag;
– 180 gr. Fleisch oder 125 gr. Speck,
– 125 gr. Hülsenfrüchte oder 100 gr. Reis,
– Grieß, Graupen, Grütze, oder 180 gr. frisches Gemüse
oder 1000 gr. Kartoffeln,
– daneben 500 gr. Brot,
– Kaffee usw.

Mit der durch unsere Feinde veranlassten Lebensmittelknappheit mussten natürlich auch die Kriegsgefangenen eine Kürzung und Beschränkung ihrer Bezüge erfahren.
Die Lagerkommandantur war jedenfalls ehrlich bemüht, zu tun und zu geben, was ihr nur immer möglich war, und es war zum mindesten unbillig, daß der amerikanische Botschafter Gerard, der als Vertreter der Interessen Englands zu einer Zeit, da Amerika noch „neutral“ war, das Gefangenenlager besuchte, an der Beköstigung allerlei Ausstellungen machte. Obgleich ihm in verbindlicher Form Abhilfe zugesagt wurde, sandte er dennoch einen sehr abfälligen Bericht über das Wittenberger Gefangenenlager an die englische Regierung, von der er in aufgebauschter Form in die feindliche Presse überging, was zu Erörterungen im Deutschen Reichstage Veranlassung gab.
Eine Folge davon war, daß der bisherige Lagerkommandant Generalmajor v. Dassel seinen Abschied nahm.

Mit dem zunehmenden Mangel an Arbeitskräften wurden die Kriegsgefangenen immer mehr zur Arbeit in der Landwirtschaft und Industrie herangezogen.
Am willigsten und geschicktesten hierzu zeigten sich die Russen und Franzosen, während Engländer und Belgier sich ablehnend verhielten. Späterhin wurde auch für die beschäftigungslose männliche Zivilbevölkerung aus den besetzten Gebieten Belgiens, die zur Arbeit nach Deutschland überführt war, im Wittenberger Gefangenenlager eine Sammelstelle errichtet.

Bei dem verwahrlosten Zustande, in welchem die Kriegsgefangenen vielfach hier ankamen, konnte es nicht ausbleiben, daß trotz der getroffenen gesundheitlichen Vorkehrungen Krankheiten im Lager ausbrachen. Vor allem war es das Fleckfieber, das zahlreiche Opfer forderte. Um ein Übergreifen der Seuche auf die Einwohner nach Möglichkeit zu verhüten, wurden die Toten auf einem in der Nähe des Gefangenenlagers geschaffenen Begräbnisplatze unter Beobachtung aller Vorsichtsmaßregeln bestattet.

Am Schluß des Jahres 1914 waren in Deutschland Kriegsgefangenen überhaupt untergebracht:
81 380 Offiziere und 577 875 Mann.

Diese Gesamtzahl setzte sich folgendermaßen zusammen:
– Russen:        3575 Offiziere (18 Generale) +     306 294 Mann.
– Franzosen: 3459 Offiziere (7 Generale)    +     215 905 Mann.
– Belgier:           612 Offiziere (3 Generale)    +         36 852 Mann.
– Engländer:    492 Offiziere                                 +          18 824 Mann.

Nach einer Zusammenstellung vom 1. Februar 1917 befanden sich an diesem Tage in deutscher Kriegsgefangenschaft;
17 474 Offiziere + 1 673 257 Mann, = 1 690 731 Mann
Insgesamt waren zu dieser Zeit in Gefangenschaft der Mittelmächte (Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und Türkei)
27 620 Offiziere + 2 846 651 Mann, = 2 874 271 Mann.
Nach der Staatsangehörigkeit verteilten sich diese folgendermaßen:

Offiziere:             Mannschaften:              Zusammen:
Russen                           14 230                    2 066 469                    2 080 699
Franzosen                       6 329                        362 278                        368 607
Engländer                       1 706                           43 535                            45 241
Italiener                           2 234                           95 783                            98 017
Belgier                                  658                            41 779                            42 437
Rumänen                         1 536                           77 497                             79 033
Serben                                   896                        153 734                          154 630
Montenegriner                    31                              5 576                                5 607

Im September 1914 wurde die 1. Kriegsanleihe (zu 5 Prozent, im Kurs von 97,50 M.) aufgelegt.
Im Kreise Wittenberg wurden dazu gezeichnet 3 980 200 M.
Die städtische Sparkasse beteiligte sich daran mit 1 Million Mark (einschließlich des Guthabens der Sparer), die Kreis Sparkasse mit ¾ Million Mark. Im Deutschen Reiche wurden insgesamt 4 491,8 Millionen Mark gezeichnet.

Noch größer war die Beteiligung an den folgenden Kriegsanleihen, deren Ergebnisse hier folgen:
– II. Kriegsanleihe (März 1915):
Wittenberg 7 784 050 M.; im Reiche:   9 106,5 Mill. M.
– III. Kriegsanleihe( Dez. 1915):
Wittenberg: 10 523 500 M.: im Reiche: 12 160 Mill. M.
– IV. Kriegsanleihe (April 1916):
Wittenberg: 8689 400 M.; im Reiche:      10 768 Mill. Μ.
– V. Kriegsanleihe (Oktober 1916):
Wittenberg: 9349 000 M.; im Reiche:      10 699 Mill. M.
– VI. Kriegsanleihe (April 1917):
Wittenberg: 12 210 900 M.; im Reiche:    13 122 Mill. M.
– VII. Kriegsanleihe (Oktober 1917):
Wittenberg: 12159900 M.; im Reiche:      12500 Mill. M.
– VIII. Kriegsanleihe (April 1918):
Wittenberg:11 645 400 M., Kr. Wittenb.: 13 269 400 M.
im Reiche: 145 00 Mill. M.

Insgesamt ergaben sämtliche 8 Kriegsanleihen die Summe von 87 Milliarden 347,3 Millionen Mark.

Für die letzten Anleihen wurde namentlich auch in Wittenberg eine rege und umfassende Werbetätigkeit entfaltet.
Fast in jeder Nummer der beiden Ortszeitungen erschienen Werbeanzeigen, Werbeaufsätze, Gedichte usw.
An den Anschlagsäulen, in und am Rathause, in den Schaufenstern wurden große Werbeplakate angebracht.
In den einzelnen Ortschaften veranstaltete man aufklärende Vorträge mit Lichtbildern.
An die Schüler verteilte man besondere Bilderbogen, Gedichte, ein „Lied vom feldgrauen Gelde“, Mahnworte unserer Heerführer, vor allem Hindenburgs, wurden überall verbreitet, und selbst der Kinematograph wurde in den Dienst der Werbetätigkeit gestellt. Der letzte Sonntag vor Schluß der 6. und 7. Kriegsanleihe war als „Nationaltag für die Kriegsanleihe“ in besonderer Weise der Werbearbeit gewidmet.
Die Zeichnungsstellen blieben auch an diesem Tage von 11-1 Uhr mittags geöffnet, und von 12 bis 1 Uhr ließen die Glocken von den Türmen ihren mahnenden Ruf erschallen.
Auch die Schülerinnen und Schüler der Wittenberger Schulen beteiligten sich an der Zeichnung der Kriegsanleihen in umfassender Weise mit Beträgen von 5 M. an. So brachten die Kinder der Volksschulen allein zur 4. Kriegsanleihe den Betrag von 106 560 M. zusammen. Dieser verteilt sich auf 1 313 Zeichnungen, und zwar 796 Zeichnungen unter 100 M. im Betrage von 17 980 M. und 517 Zeichnungen über 100 M. im Betrage von 88 580 M.

Als Belohnung wurde den Schülern ein schulfreier Tag gegeben, und jede der gewonnenen großen „Finanzschlachten“ wurde durch Fahnenschmuck begrüßt.
Hätte man freilich das Schicksal dieser angeblich sichersten Kapitalanlage“ gewusst, dann wäre wohl die Begeisterung weniger groß gewesen.

Am 22. September rückte das in Wittenberg und seinen Vororten Kleinwittenberg, Pratau und Eutzsch einquartierte Reserve-Artillerieregiment zum Bahnhofe, um zunächst nach Posen befördert zu werden.
Mannschaften, Pferde, Wagen usw. waren reich mit Eichenlaub und Blumen geschmückt.
Noch größer war die Anteilnahme unserer Bürgersschaft am Ausmarsch des Ersatzbataillons vom 20. Infanterieregiment, das am 3. Oktober unter Vorantritt der Kühnschen Kapelle nach Frankreich auszog.
Unter den 150 Kriegsfreiwilligen des Bataillons befanden sich zahlreiche Wittenberger Bürgerssöhne, bisherige Gymnasiasten, Studenten aus Wittenberg und Umgegend.
Eine große Zahl von Verwandten und Freunden begleitete die blumengeschmückten jungen Krieger zum Bahnhofe, und viele heiße Abschiedstränen der Zurückbleibenden flossen. Aber die Ausziehenden ließen sich in ihrer Begeisterung nicht anfechten; mit frohen Marschliedern sangen sie sich das Abschiedsweh vom Herzen, und noch von fernher vernahm man den Kehrreim des beliebtesten Soldatenliedes:
„In der Heimat, in der Heimat, da gibt’s ein Wiedersehn!“
Leider hat sich diese Hoffnung bei vielen von ihnen nicht erfüllt; gar mancher hat sein Leben dem Vaterlande zum Opfer gebracht. Besonders ergreifend ist das Schicksal der Familie von König im nahen Zörnigall, von der fünf Söhne auf dem Felde der Ehre blieben.

Das Kommen und Gehen der Truppenmassen hielt auch in den folgenden Monaten an. So rückte am 20. Oktober der neue Jahrgang der Rekruten in einer Stärke von rund 1 500 Mann in begeisterter Stimmung und unter dem Gesange von Vaterlandsliedern hier ein. Da die Kasernen noch von Reserve und Landsturm besetzt waren, so erhielten Hausbesitzer wie Mieter von neuem starke Einquartierung.

Währenddessen verfolgten die Einwohner mit steigender Bewunderung den Siegeslauf unserer unvergleichlichen Heere im Westen wie im Osten.
Antwerpen, das letzte feste Bollwerk Belgiens, fiel am 9. Oktober in deutsche Hände; in der letzten Hälfte des November zerschmetterte Mackensen die Russenheere in den Kämpfen bei Woclawek, Kutno, Lodz, Lowicz und Lomsk.
Die neue russische Offensive in Polen wurde durch Hindenburgs Feldherrnkunst für die Riesenheere des Zarenreichs zu einer vernichtenden Niederlage, die den Deutschen 136 600 Gefangene, 100 Geschütze, 300 Maschinengewehre ua. als Siegesbeute in die Hände lieferte.
Mit Stolzer Freude sahen wir auf das todverachtende Heldentum unserer Flotte. Bei Coronel (Chile) lieferten am 1. November unsere wenigen Auslandskreuzer unter dem Befehle des Grafen von Spee den Engländern ein siegreiches Gefecht, das die Mär von der „unbesiegbaren englischen Flotte“ gründlich zerstörte.
Jubelnde Begeisterung auf unserer Seite, knirschende Wut bei unseren Feinden lösten die verwegenen Taten des Kleinen Kreuzers „Emden“ aus, der in kühner Kaperfahrt nahezu 60 feindliche Schiffe versenkte, bis er nach einer beispiellosen Heldenlaufbahn am 9. November bei den Cocosinseln (Keeling Island) dem weit überlegenen Feinde nach tapferer Gegenwehr erlag.
Der zur Zerstörung der feindlichen Kabelstation ausgesetzte Landungszug schlug sich bekanntlich mit größter Kühnheit auf dem gebrechlichen Schoner „Ayesha“ nach einem niederländischen Hafen durch und erreichte von dort glücklich das Gebiet der befreundeten Türkei.
Wenige Tage vorher, am 7. November, musste sich das deutsche Bollwerk des Ostens, Tsingtau, nach heldenhaftem Widerstande gegen einen vielfach stärkeren Feind den Japanern ergeben.
Einen Monat später erfüllte sich auch das unabwendbare Schicksal des unter dem Kommando des Grafen von Spee stehenden Geschwaders.
Nachdem die englischen, französischen, russischen und japanischen Kriegsschiffe im Stillen Ozean ein wahres Kesseltreiben gegen dieses veranstaltet, wurde es bei den Falklandinseln von einem weit überlegenen englischen Geschwader nach einem todesmutigen Kampfe vernichtet. Sein wackerer Führer nebst seinen beiden Söhnen sanken mit ihm ins Wellengrab.
Gleiche Bewunderung zollten wir den Taten von „U 9“, das unter seinem auserlesenen Kommandanten Otto Weddigen an einem Tage drei englische Panzerkreuzer versenkte.
Fahnenschmuck und Siegesgeläut grüßte immer wieder die einlaufenden Siegesnachrichten, und der Jung-Deutschland-Bund ließ sich’s nicht nehmen, seiner Freude wiederholt durch Zapfenstreich seines Trommler- und Pfeiferkorps Ausdruck zu verleihen.

So kam das Weihnachtsfest heran das erste Kriegsweihnachten. Niemand ahnte wohl, daß ihm noch drei weitere Kriegsweihnachten folgen würden.
Der Gedanke an die Millionen deutscher Väter und Söhne, die im fernen Lande im schweren Kampfe standen, die Trauer um die Tausende, die schon in fremder Erde ruhten, der Anblick der zahlreichen Verwundeten und Krüppel dämpfte die Weihnachtsfreude und umflorte die Kerzen des Weihnachtsbaumes. Diese ernste Stimmung sprach auch aus den zahlreichen Weihnachtsfeiern, bei denen werktätige Liebe sich der Bedrängnis und Armut annahm, die ja in der Kriegszeit doppelt schmerzlich empfunden wird. Auch in unseren Hilfslazaretten wurden erhebende Christfeiern abgehalten, für welche die Stätten des Leides weihnachtlich geschmückt waren.
Während der beiden Festtage erfreute der Frauenchor des Straubeschen Gesangvereins die wunden Krieger durch den Vortrag von Liedern.

Den gleichen ernsten Grundton trug die Feier von Kaisers Geburtstag. Der gewohnte bunte Schmuck der Kasernen fehlte. Auch die Festausschmückung der Schaufenster unterblieb bis auf geringe Ausnahmen. Selbstverständlich kamen auch die militärischen Feiern in Wegfall, ebenso die üblichen Festmahle und die Vereins-Festfeiern. Die festlichen Veranstaltungen beschränkten sich im wesentlichen auf die Schulfeiern, Festgottesdienste, Festappelle der einzelnen Truppenteile und auf einen Kriegs-Familienabend in der Turnhalle des Mittelschulgebäudes, bei dem die Schülerinnen und Schüler der sämtlichen hiesigen Schulen sowie Angehörige der Garnison mitwirkten.
Die Begrüßungs-und Schluss Ansprache hielt der Landrat von Trotha, die Festrede Mittelschulrektor Bodesohn.

Daß trotz des Ernstes der Zeit unsern braven Feldgrauen selbst im Schützengraben der Humor nicht ausging, beweist folgende Anzeige im „Wittenberger Tageblatt“:

Jene junge Dame, die in Nr. 86 des „Wittenberger Tageblattes“ einen Kavalier als Ehegatten sucht, wird gebeten,
sich heute Abend in der Nähe des Schützengrabens in
Feindesland um 8 Uhr einzufinden.

                                 3 Unteroffiziere des Infanterieregiments Nr. 20.

1915 Die Nahrungsnot

Seit Ausbruch des Krieges sperrte England uns die Zufuhr zur See ab, in der Absicht, das deutsche Volk auszuhungern.
Und dieser Plan bot bei längerer Kriegsdauer auf Grund der Erfahrungstatsachen und statistischen Berechnungen theoretisch alle Aussichten auf Erfolg.
Reichte doch bisher die in Deutschland geerntete Menge an Brotgetreide, die im Durchschnitt der Jahre 1912/13 nicht weniger als 330 Millionen Zentner betrug, nicht hin, um die Bevölkerung zu ernähren, sondern es mussten weitere 20 bis 30 Million Millionen Zentner fremdes Brotgetreide, vor allem Weizen, eingeführt werden.
Der teuflische Plan Englands war also völlig ernst gemeint, und dieses hat ihn während der Dauer des Krieges nicht fallen gelassen. Aber die deutsche Organisationskunst und Intelligenz hat diesen zuschanden gemacht.
Freilich legten die Abwehrmaßregeln, zu denen die Behörde greifen musste, dem einzelnen manche Entbehrung, manchen Verzicht auf liebgewordene Gewohnheiten auf.
So hatte das Verbot der Nachtarbeit in Bäckereien zur Folge, daß vom 15. Januar 1915 ab das Weißbrot vom Frühstückstisch verschwand.
Gewiss wird den meisten der Abschied von den frischen Brötchen und Semmeln recht schwer geworden sein, und man kann den folgenden Stoßseufzer wohl verstehen:

Ein Brötchen, lecker, knusprig, braun,
Wie ein Gemälde anzuschaun!
Doch still, doch still, wozu die Qual! –
Es war einmal!

Auch das frische Brot gehörte bald nur noch der Erinnerung an, da die Behörde verfügte, daß die Bäckereien das Brot erst 24 Stunden nach dem Backen verkaufen durften. Ein Kuchen-Backverbot machte auch all diesen leckeren Dingen ein Ende – wenigstens in der Öffentlichkeit, denn in dem verschwiegenen heimischen Küchenofen übten die Hausfrauen, die diesen Genuss nicht entbehren zu können glaubten, die Kunst des Kuchenbackens mit mehr oder minderem Erfolg weiter aus, wobei einzelne oft eine staunenswerte Erfindungsgabe an den Tag legten.
Im Herbst 1916 wurde das Verbot, Kuchen aus Hefeteig zu backen, auf kurze Zeit seitens des Kreis Ausschusses aufgehoben, um den reichen Pflaumensegen auch in Form des Pflaumenkuchens zu verwerten.
Eine wiederholte Bestandsaufnahme aller Getreide- und Mehlvorräte, die erstmalig am 1. Februar 1915 stattfand, bot die notwendige Übersicht und die Handhabe, einer Verschwendung dieser vorzubeugen.

Mit der Rationierung allein war es freilich nicht getan; mit der Mengenfestsetzung musste eine ganze Reihe von Vorschriften, welche die technische Eigenart der Vermahlung und Brotherstellung betrafen, Hand in Hand gehen.
Zunächst mussten die zur Brotbereitung notwendigen Grundstoffe möglichst restlos erfasst und möglichst sparsam verwendet werden. Während im Frieden der Grad der Ausmahlung des Brotgetreides dem Ermessen des Müllers überlassen blieb, wurde jetzt seitens der Behörde ein ziemlich hohes Maß der Ausmahlung vorgeschrieben. Bereits im Oktober 1914 musste Roggen zu 72 Prozent und Weizen zu 75 Prozent ausgemahlen werden.
Anfang 1915 wurde die unterste Grenze beim Roggen auf 82 Prozent und beim Weizen auf 80 Prozent erhöht, ja, im März 1917 erwies es sich als notwendig, diese bis auf 94 Prozent heraufzusetzen.
Auf diesem Wege wurde dem Getreide weit mehr Mehl als bisher abgewonnen und dadurch die Brotmenge vermehrt. Selbstverständlich wurde das Brot hierdurch grober, aber die daran geknüpften Befürchtungen, es würde unverdaulich sein und schädlich wirken, erwiesen sich – wenigstens für den gesunden Menschen – als irrig. Außerdem wurden für die Verwendung strenge Mischungsvorschriften erlassen.
Weizenmehl durfte nicht mehr rein verwendet sondern bei allen  Backwaren mit Roggenmehl vermischt werden.
Für das letztere selbst galt in der Regel das Verhältnis von 80 Prozent Roggenmehl und 20 Prozent Weizenmehl.
Um die Getreidevorräte zu schonen und und die namentlich in den ersten Kriegsjahren reichlich vorhandenen Kartoffelvorräte für den menschlichen Genuss dienstbar zu machen, wurden Streckungsvorschriften durch Anwendung von Ersatzmitteln erlassen. Es entstand das Kriegsbrot, „K-Brot“ oder auch „K.K. Brot“ genannt. Es erhielt einen Zusatz an Kartoffeln in Gestalt von Kartoffelwalzmehl, Stärkemehl, Kartoffelflocken oder gequetschten bzw. geriebenen Kartoffeln, der nicht über 10 Prozent hinausging und bei letzterem nicht 30 Prozent überschreiten durfte.
In den feindlichen Ländern wurde daher das Wort vom „deutschen Kartoffelbrotgeist“ geprägt, was diese aber nicht hinderte, diese verständigen Maßnahmen nachzuahmen.
An Stelle der bisherigen verschiedenen Brotformen wurde ein Einheitsbrot im Gewicht von 4 kg eingeführt.
Infolge der geringen Ernte des Jahres 1916 musste dieses Gewicht von Mitte April 1917 ab bis zum Einbringen der neuen Ernte auf 3 kg herabgesetzt werden. Als Ersatz für diesen Brotausfall wurde für jede Person wöchentlich ½Pfund Fleisch mehr gewährt (also 1 Pfund statt des bisherigen halben Pfundes) und zwar zu billigerem Preise,
der z. B.
– für Rindfleisch 30 bis 50 Pf.,
– für Kalbfleisch 10 bis 20 Pf.,
– für Hammelfleisch 50 bis 55 Bf. und
– für Schweinefleisch 10 bis 20 Pf. betrug.
Das Reich leistete hierzu einen beträchtlichen Zuschuss.
Für den Bezug wurde eine besondere Kommunal Fleischkarte eingeführt. Die Fleisch-Selbstversorger (Hausschlachtungen) blieben von dieser Vergünstigung ausgeschlossen, was vielfache Unzufriedenheit hervorrief.
Mit der Erhöhung der Brotmenge auf 4 kg kam diese Fleischzulage in Wegfall.
Für Schwerarbeiter wurde fortgesetzt eine Brotzulage von 1 Pfund wöchentlich gewährt. Zur Regelung des Brotverbrauchs gab die Behörde Brotkarten aus.
Jede einzelne Person durfte auf ihre Brotkarte wöchentlich eine Höchstmenge von 2 kg Brot beziehen, wobei 1 kg Brot gleich 700 g (später 630 g) Mehl gerechnet wurde.
Wie bereits bemerkt, musste infolge der geringen Ernte des Jahres 1916 diese Brotmenge von Mitte April bis August 1917 vorübergehend auf 3 Pfund herabgesetzt werden.
Eine gleiche Herabsetzung erfolgte vom 13. Juni 1918 ab bis 18. August 1918 und zwar auf 3½ Pfund.
In Wittenberg hatte die Brotkarte zunächst die Form eines Brotbuchs, das vom 15. März 1915 ab zur Einführung gelangte und den Vorzug der größeren Bequemlichkeit hatte.
Da aber in zahlreichen Fällen in diesem Fälschungen vorgenommen wurden, um sich in den Genuss einer größeren Brotmenge zu sehen, (vom 25. Februar bis 5. Juni 1916 bestrafte das hiesige Schöffengericht nicht weniger als 119 Personen wegen dieses Vergehens, das als Urkundenfälschung abgeurteilt wurde, mit insgesamt 673 Tagen Gefängnis) so wurden vom 13. August 1916 ab auch hier die Brotbücher durch Brotkarten ersetzt.
Natürlich konnten trotz aller Vorkehrungen und Strafandrohungen nicht alle Unregelmäßigkeiten aus der Welt geschafft werden. Solche wurden namentlich in einer Reihe von Mühlenbetrieben festgestellt, sodass das preußische Landgetreideamt in Berlin sich genötigt sah, Ende April 1917 im Kreise Wittenberg allein 48 Mühlen dieserhalb für das laufende Wirtschaftsjahr zu schließen.

Da trotz aller ergangenen Verbote immer noch heimlich Getreide zu Futterzwecken verbraucht wurde, so erließ das stellvertretende Generalkommando unter dem 25. Mai 1918 eine Bekanntmachung, welche die Benutzung von Schrotmühlen zum Zerkleinern von Getreide, Hülsenfrüchten und Mais für Speise- und Futterzwecke untersagte und gleichzeitig den Handel mit diesen und deren Herstellung verbot.

Der zunehmende Futtermangel erstreckte sich selbst bis auf die Pferde an der Front, von denen viele an Entkräftung starben.
Die schlechte Haferernte des Jahres 1917 vergrößerte die Not.
Da auch das Wiesenheu nicht ausreichte, dieser abzuhelfen, so wurde Laub Heu als Ersatz gesammelt.
Mit dieser Aufgabe wurden vor allem die Schulen betraut, die deswegen an mehreren Tagen Ende Juni und Anfang Juli den Unterricht aussetzten.
Unter Führung der Lehrer zogen die Schüler der Schulen aus Wittenberg und Umgebung nach der Probstei und dem Fleischerwerder, um hier Laub zu sammeln, das in der Malzfabrik von Kindscher in Wittenberg getrocknet und gepresst wurde.
Für einen Zentner frisches Laub Heu wurde den Sammlern 4 M., für getrocknetes Laub Heu 18 M. gezahlt.

Sehr bald ergab sich die Notwendigkeit, außer dem Brot auch andere wichtige Nahrungsmittel, vor allem Fleisch, Butter, Fett, Milch, Kartoffeln und Zucker zu „rationieren“.

 

Während im ersten Kriegsjahre ein fühlbarer Mangel an Fleisch noch nicht in Erscheinung trat, da man nach der ausgegebenen Losung: „der größte Feind des Menschen ist das Schwein“ die Bestände über die Gebühr durch Ab-schlachten verringerte, um Kartoffeln und Getreide zu sparen, machte sich dieser Mangel vom zweiten Kriegsjahre ab in steigendem Maße geltend. Um diesem abzuhelfen, beschaffte der Magistrat vom August 1915 ab bis zur Einführung der Fleischkarte verschiedentlich Fleischkonserven, die in den Verkaufsstellen gegen Vorlegen des Brotbuches in einer Höchstmenge vor 2 Dosen für die Person und Woche
(1 Dose ½ kg) zu folgenden Preisen abgegeben wurden:
– ½ kg-Dose Schweinefleisch in Brühe    – 1,40 M.
– 1 kg Dose Leberwurst                                    – 2,20 M.
– ½ kg Dose Blutwurst                                       – 1,05 M.
– 1 kg Dose Sülze                                                   – 2,35 M.

Gleichzeitig wurden Höchstpreise für alle Fleischwaren festgesetzt und Fleischereien und Lebensmittelhandlungen angewiesen, ein von der Polizeiverwaltung beglaubigtes Höchstpreisverzeichnis in den Schaufenstern sichtbar anzubringen.
Nach einer Verordnung des Bundesrates wurden vom 1. November 1915 ab zwei „fleischlose Tage“ in der Woche eingeführt.
Am Dienstag und Freitag durften Fleisch, Fleischwaren und Fleischspeisen an die Verbraucher gewerbsmäßig nicht verabfolgt werden. Außerdem wurde Gast-und Speisewirtschaften jeder Art verboten, am Montag und Donnerstag Fleisch, Wild, Geflügel, Fisch und sonstige Speisen, die mit Fett oder Speck gebraten, gebacken oder geschmort sind, zu verabreichen.
Da es vor allem an Schweinefleisch mangelte, so wurde im Februar 1916 verfügt, daß nicht mehr als ein Drittel eines jeden zum Verkauf geschlachteten Schweines zu Wurst verarbeitet werden durfte.
Von welcher „Güte“ die Wurst fortan war, kann man sich – leicht vorstellen.

Zur Verhütung von Wucherpreisen ordnete eine Bundesratsverordnung vom 14. Februar 1916 für Schweine Stall-Höchstpreise an. Diese betrugen im Kreise Wittenberg für je 100 Pfund Lebendgewicht
– 80 -100 kg = 102 M.
– 80 –   90 kg  =   92 M.
– 70 –   80 kg  =   82 M.
– 60 –   70 kg =    77 M.
– 60 u. darunter 72 M.

Sauen und Eber:
– über 150 kg  = 112 M.,
– über 120 kg  = 107 M.,
– unter 120 kg =   87 M.

Die Züchter kehrten sich freilich nicht an die Verordnung und forderten Preise, welche die gesetzlichen Höchstpreise um 20 M., 30 M. und mehr auf den Zentner Lebendgewicht überstiegen, die ihnen bei der vorhandenen Notlage in der Form von „Schwanzgeld“ auch gezahlt wurden.
Für Hausschlachtungen wurden vom Jahre 1916 ab eine Reihe erschwerender Bestimmungen erlassen.
Zum Ankauf eines Schlachtschweines musste die Genehmigung des Kreis Ausschusses und zu dessen Schlachtung die des Kommunalverbandes eingeholt werden. Diese wurde an die Bedingung geknüpft, daß das Tier mindestens 6 Wochen im eigenen Stalle gemästet worden war.
Für das Jahr 1917 wurden diese Bedingungen noch verschärft.
Die eigene Mästung musste mindestens 3 Monate dauern, und es durfte kein Schwein über 120 Pfund angekauft werden.
Den Selbstschlachtern wurde für die Person und Woche ein Pfund Fleisch angerechnet und dementsprechend die Fleischkarte entzogen. Auch wurde ihnen zur Pflicht gemacht, von dem geschlachteten Tiere je nach dessen Gewicht einige Pfund Wurst, Speck oder Schinken gegen Bezahlung als „Hindenburgspende“ für die Arbeiter der Rüstungsindustrie abzugeben.
Vom Herbst 1916 bis zum 2. Februar 1917 wurden hierfür in der Provinz Sachsen insgesamt 1860 Zentner Fleischwaren abgeliefert, eine Menge, die freilich nicht ausreichte, den Bedarf zu decken.

Es braucht wohl kaum bemerkt zu werden, daß diese Bestimmungen wie so manche andere in der schier unübersehbaren Reihe von „Kriegsverordnungen“ vielfach übertreten wurden.

Das „Pensionsschwein“, das man sich von anderen mästen ließ, wurde zum geflügelten Wort, und heimliche Schlachtungen, sowie das Schlachten von zwei Schweinen statt des erlaubten einen, falsche Angaben des Schlachtgewichts usw. gehörten nicht zu den Seltenheiten.

Während die Behörde so auf der einen Seile die Hausschlachtung von Mastschweinen erschwerte und namentlich im dritten Kriegsjahre für die städtische Bevölkerung fast unmöglich machte, befürwortete sie andererseits das Abschlachten der Ferkel bis zum Gewicht von 30 Pfund. Die Folge davon war eine weitere erhebliche Verringerung dieses Viehbestandes, sodass im Jahre 1918 das Schweinefleisch und die Wurst noch mehr zur Seltenheit wurden.

Es darf nicht verschwiegen werden, daß durch diese einengenden Maßregeln, von denen oft eine die andere jagte, die Bevölkerung, in erster Linie die landwirtschaftliche, in steigendem Maße verärgert wurde. Eine Behebung des Fleischmangels wurde damit nicht erreicht, auch nicht durch die Einführung von „fleischlosen Wochen“ und den gutgemeinten Erlass des Kultusministers an die Schulen, das Fleisch der Hamster, Sperlinge und Krähen zu benutzen.

An den Verkaufstagen drängten sich die Frauen in großer Menge oft stundenlang vor den Fleischerläden, wobei es nicht selten zu unliebsamen Auftritten zwischen ihnen und den den Verkehr regelnden Polizisten kam.
Um diesem unerträglichen Zustande ein Ende zu machen, ordnete der Magistrat die Einführung der Kundenlisten an. Jeder Einwohner musste sich bei einem bestimmten Fleischer eintragen lassen, von dem er dann die ihm wöchentlich zustehende Menge (½ Pfund) Fleisch oder Fleischwaren erhielt.
Eine weitere Verbesserung bildete die von der Reichsbehörde eingeführte Fleischkarte, wenn damit natürlich auch keine Erhöhung der Fleischration herbeigeführt werden konnte.
Wurde diese doch sogar zeitweise noch herabgesetzt;
im Kreise Wittenberg zB.
– in der Woche vom 22. bis 28. Oktober 1916 für den Kopf auf 150 g,
– für das platte Land auf 100 g.

Daß unter diesen Umständen der Schleichhandel mit Fleisch- und Fleischwaren üppig ins Kraut schoss, ist nicht zu verwundern, eben sowenig die Wucherpreise, die für solche Waren gefordert und gezahlt wurden, so für
– 1 Pfund Speck 10 bis 15 M., für
– 1 Pfund Schlackwurst 12 M.
Dementsprechend zahlte man für „markenfreies“ Fleisch, wie Geflügel und Wild, fabelhafte Preise für
– 1 Pfund Gänsefleisch bis 8 M.,
– für eine Gänsebrust 22 M.,
– für eine fette Gans bis 100 M.

Und die Käufer waren nicht etwa nur die „reichen Leute“, sondern mehr noch die Arbeiter, von denen namentlich die in der Rüstungsindustrie beschäftigten bis dahin ungekannte Löhne von täglich 6 bis 8 M. bezogen und sich daher derartige Ausgaben leisten konnten.
In sehr übler Lage befanden sich demgegenüber alle auf festes Einkommen angewiesenen Personen, vor allem die Beamten.
Die letzteren gewährten Kriegsteuerungszulagen und „Kinderzulagen“ reichten bei weitem nicht aus, um die vielfach um das Doppelte und Dreifache gestiegene Preiserhöhung aller Lebensbedürfnisse auch nur einigermaßen auszugleichen.

Ein besonders betrübliches Kapitel in der Kriegsernährung bildete der Mangel an Butter und Fett, der bereits im ersten Kriegsjahre einsetzte und seitdem beständig zunahm.
Die Folge davon war, daß bis zur „Rationierung“ der Butter eine förmliche Jagd nach dieser stattfand.
An den Markttagen gingen die Käufer den Verkäufern bis vor die Stadt oder bis zu den Bahnsteigen entgegen und zahlten dort willig jeden geforderten Preis.
Die Dörfer im weiten Umkreise waren beständig überlaufen. Unter denen, die dort Eier und Butter „hamsterten“, zeigten sich zahlreiche Militärpersonen, welche dann ihre Beute nachhause schickten und so den Einwohnern des Kreises entzogen, bis eine Verordnung die Ausfuhr aus dem Kreise untersagte, ohne diese natürlich gänzlich verhindern zu können.
Vor den Buttergeschäften der Stadt aber standen zu den Verkaufszeiten Frauen und Kinder zu Hunderten oft stundenlang im lebensgefährlichen Gedränge „Polonäse“, und es ist ein billiger Scherz, wenn ein Unbeteiligter bei diesem Anblick dichtete:

Manch altes Mütterchen, das viele Jährchen
Auf einem Tanzplatz nicht mehr ward gesehn,
Sieht man jetzt – mutet’s nicht an wie ein Märchen?
Tagtäglich prompt zur – Polonäse gehn.

Der Mangel wurde noch dadurch vermehrt, daß die Margarine, die sich als Butterersatz im Haushalte eingebürgert hatte, infolge der fehlenden Zufuhr an Rohstoffen immer seltener wurde.
Unter diesen Umständen kann es nicht wundernehmen, daß für Butter unter der Hand wahre Phantasiepreise von 6 bis 10 Mark das Pfund gezahlt wurden, während die gesetzlichen Höchstpreise sich zwischen 2,60 M. und 3,10 M. bewegten.

Um eine gerechtere Verteilung zu erreichen, wurden die Molkereien angewiesen, die erzeugte Butter an eine Zentralstelle abzuliefern, von der aus dann die einzelnen Orte beliefert wurden.
Eine reichlichere Bemessung war damit auch nicht erreicht. Während die zugewiesene „Menge“ im Juli 1916 für Kopf und Woche 90 g betrug, sank sie seitdem andauernd und betrug in der letzten Augustwoche des genannten Jahres sogar nur noch 20g!, nachdem in den vorhergehenden beiden Wochen überhaupt keine Butter zur Verteilung gekommen war.
Die Nachwelt wird sich kaum ein zutreffendes Bild machen können von der dadurch herbeigeführten Notlage und ihrer verbitternden Wirkung auf die Bevölkerung.
Und dieser Unwille wurde noch gesteigert durch die Nachrichten über Versäumnisse amtlicher Stellen bei der Verteilung sowie über künstliche Zurückhaltung der Bauernbutter seitens vieler Landwirte.
Man soll Einzelerscheinungen nicht verallgemeinern, aber jedenfalls diente es nicht dem Frieden zwischen Stadt und Land, die doch aufeinander angewiesen sind, wenn ein Landwirt und Molkereibesitzer in der Nähe Wittenbergs einem besorgten Familienvater, der ihn in der Zeit, da die Butter ausblieb, um ein wenig Butter für seine Kinder bat, die Antwort gab:

„Eßt doch Schwarzbrot;
das ist gesund und enthält alle Nährstoffe.“

Da die „Butterpolonäsen“ mehr und mehr zu einem öffentlichen Ärgernis wurden, so verbot der Magistrat das Aufstellen vor den Läden. Eine durchgreifende Änderung – wenigstens hinsichtlich der Gleichmäßigkeit der Verteilung – wurde erst mit der Speisefettkarte erreicht, die gleichzeitig mit der Fleischkarte am 1. Oktober 1916 zur Einführung gelangte.
Die auf den Einzelnen entfallende Menge blieb freilich auch dann noch sehr gering und erhob sich selten über 40 g für die Woche. Daran änderte es auch nichts, daß der Magistrat im Mai 1917 zur besseren Erfassung der Bauernbutter verfügte, für jede Kuh, deren Milch nicht an eine Molkerei abgeliefert würde, müsse wöchentlich mindestens 1¼ Pfund Butter an die 25 für den Kreis bestellten Händler zur Ablieferung kommen, die diese den im Kreise (in Wittenberg, Zahna, Kemberg, Schmiedeberg, Pretzsch und Elster) errichteten Sammelstellen zuführen sollten.

Eine Reihe weiterer Bestimmungen erstrebte eine Vermehrung der Buttererzeugung.
Vom 11. August 1915 ab war jede Herstellung von Schlagsahne und die Abgabe von saurer oder süßer Sahne, insbesondere auch die Zugabe von Sahne zu Speisen und Getränken in Gastwirtschaften, Konditoreien usw. verboten.
Vom 15. November 1916 ab durfte Vollmilch nur an folgende Personen abgegeben werden:
– a) an stillende Frauen 1 Liter täglich,
– b) an schwangere Frauen in den letzten drei Monaten vor der Entbindung ¾ Liter täglich,
c) an Kinder im 1. und 2. Lebensjahre, sofern sie nicht gestillt werden, 1 Liter täglich,
– d) an Kinder im 3. und 4. Lebensjahre ¾Liter täglich,
– e) an Kinder im 5. und 6. Lebensjahre ½ Liter täglich,
– f) an Kranke bis zu ½ Liter täglich.
Zu diesem Zwecke wurden besondere Milchkarten ausgegeben.

Vom 1. Oktober 1917 ab durfte auf Anordnung des Kreis Ausschusses von außerhalb keine Vollmilch mehr in den Stadtbezirk eingeführt werden.
Die städtische Bevölkerung musste sich durch die im Stadtbezirk wohnenden Kuhhalter mit Milch versorgen und in deren Kundenliste eintragen lassen. Damit waren die Milchhändler ausgeschaltet und ihr recht einträgliches Gewerbe lahmgelegt.

Selbstverständlich nahm auch die Milch an der allgemeinen Preisbewegung teil.
Während der gesetzliche Höchstpreis zu Beginn des Krieges 20 Pf. für das Liter betrug, belief er sich im Oktober 1917 bereits auf 38 Pf.

Um das heimliche Buttern zu verhindern, griff das Landratsamt zu einem Radikalmittel, indem es Anfang Januar 1918 anordnete, die Buttermaschinen zu verschließen oder durch Herausnehmen wichtiger Teile unbrauchbar zu machen.
Ganz wurde der beabsichtigte Zweck jedenfalls nicht erreicht. Findige Landwirtsfrauen, denen die zugemessene Buttermenge von 100  gr. auf den Kopf und Woche nicht genügte, schafften sich kleine Handbuttermaschinen an und butterten so heimlich weiter.

Gleiche unerfreuliche Erscheinungen wie bei der Butterzuteilung zeigten sich im Eierhandel.
Trotz der ausgegebenen Eierkarten war es der städtischen Bevölkerung nur selten vergönnt, bei den eingerichteten Verkaufsstellen ein Ei zu erhalten.
Glücklich derjenige, der Beziehungen zum flachen Lande besaß, die fleißig gepflegt wurden. Und es muss zum Ruhme unserer ländlichen Bevölkerung gesagt werden, daß sie sich in den meisten Fällen der Not der Stadt annahm, selbst auf die Gefahr hin, darüber mit den erlassenen Verordnungen in Widerspruch zu geraten und Strafe zu gewärtigen.
Verboten diese doch, die Eier an andere als die dazu bestimmten Auskäufer der Eiersammelstelle abzugeben.
Viel Ärgernis erregte bei den Hühnerhaltern die im September 1917 erlassene Anordnung, daß von jedem Huhn vom 15. September 1917 ab bis zum 15. März des folgenden Jahres 6 Eier an die Sammelstellen abzuliefern seien.
Ein solches Verlangen wäre wohl am Beginn der Legezeit, nicht aber am Ende derselben am Platze gewesen.
Von den 33 522 Stück Eiern, welche den Hühnerhaltern im Stadtgemeindebezirk Wittenberg seitens der Kreiseierstelle auferlegt wurden, waren bis zum 17. Februar 1918 erst 6 900 Stück abgeliefert, sodass der Magistrat durch die Ortszeitungen den Säumigen die Veröffentlichung ihrer Namen androhte.
Durch Verordnung des Kreis Ausschusses vom 8. März 1918 wurde bestimmt, daß im Jahre 1918 für jedes Huhn mit freiem Auslauf (Land) 30, für jedes Huhn ohne freien Auslauf (Stadt) mindestens 10 Eier an die Eiersammelstelle des Kreises in Straach abzuliefern seien.
Recht erheblich war die Preissteigerung der Eier während der Kriegsdauer.
Während man vor dem Kriege für ein Stück allgemein 5 Pf. zahlte, stieg der Preis im zweiten Kriegsjahre auf 20 Pf. und im dritten Kriegsjahre auf 31 Pf..  Unter der Hand wurden sogar noch höhere Preise – bis 50 Pf.! gezahlt.

Nach dem allgemeinen Urteil erschien es unglaubhaft, daß Deutschland bei seiner großen Zuckererzeugung, die ihm sogar eine erhebliche Ausfuhr gestattete, welche 1913 110 000 t betrug, jemals genötigt sein könnte, den Zuckerverbrauch seiner Bewohner gesetzlich einzuschränken. Und doch erwies sich dies vom zweiten Kriegsjahre ab als notwendig. Die Hauptursache lag in der Verringerung der Zuckerrüben-Anbaufläche zugunsten der Körnerfrüchte und Kartoffeln.
Nach der Verordnung des Bundesrats vom 15. April 1916 wurde auf den Kopf der Bevölkerung fortan monatlich nur 1 kg Verbrauchszucker verabreicht und zu diesem Zwecke besondere Zuckermarken ausgegeben.
Im September wurde diese Menge auf 1 Pfund und am 1. Februar 1917 sogar auf 600 Gramm monatlich herabgesetzt (Kinder unter 6 Jahren erhielten 750 Gramm), während sie am 1. November auf 750 Gramm erhöht wurde (Kinder unter 6 Jahren bekamen 2 Zusatzmarken von je 125 Gramm).
Um die Landwirte zum vermehrten Anbau von Zuckerrüben anzuregen, wurden gleichzeitig die Zuckerpreise wie folgt erhöht:
– 1 Pfund Kristallzucker 40 Pf. (bisher 32 Pf.),
– Raffinade 42 Pf.,
– Würfelzucker 45 Pf.
Für die Einmache Zeit wurde den Einwohnern eine beschränkte Menge Einmachzucker überwiesen. Um die hierzu erforderlichen Ausweise zu erlangen, waren diese freilich gezwungen, in langer Reihe stundenlang vor dem Rathause zu warten.
In Friedenszeiten, wo uns andere, höherwertige Nahrungsmittel in reicher Fülle zur Verfügung standen, besaß die Kartoffel als Volksnahrungsmittel auch nicht annähernd die Bedeutung wie im Kriege, wo uns jene Nahrungsmittel fehlten.
Betrug im Frieden der tägliche Bedarf an Speisekartoffeln auf den Kopf durchschnittlich etwa 200 Gramm, so stieg er im Kriege plötzlich auf 500  Gramm und mehr.

Nur ein Drittel der Kartoffelerzeugung, die im Wirtschaftsjahr 1917 die Höhe von 34½ Millionen Tonnen betrug, wurde vordem für die menschliche Nahrung nutzbar gemacht, während zwei Drittel als Viehfutter und zur Brennerei Verwendung fanden.
Der Krieg warf diese Verhältnisse vollständig um.
Der Kartoffel fiel die wichtige Aufgabe zu, das fehlende Brotgetreide zu ersetzen.
Zu diesem Zwecke wurden die geernteten Kartoffeln einer scharfen Kontrolle unterstellt und zur Verfütterung nur die für die menschliche Ernährung untauglichen Knollen freigegeben.
Die Folge hiervon war eine erhebliche Verminderung der Viehbestände, vor allem der Schweine.
Insbesondere machte die ungünstige Ernte des Jahres 1916 ein scharfes Erfassen der Kartoffelbestände notwendig.
Nicht immer freilich stand die „Kartoffelnot“ der städtischen Bevölkerung im ursächlichen Zusammenhang mit der Kartoffelernte.
Bereits im September 1915 wird lebhaft darüber Klage geführt, daß die Gemüsegärtner der Vorstädte die Kartoffeln vom Markte fernhielten, weil ihnen der vom Magistrat festgesetzte Höchstpreis von 45 Pf. für die Metze (5 Liter) nicht genügte – ein Vorgang, der die Stadtverordnetenversammlung mehrfach beschäftigte und selbst von der Kanzel der Stadtkirche herab Verurteilung fand.
Um der ärgsten Not zu steuern, richtete der Magistrat für die minder bemittelte Bevölkerung einen Kartoffelverkauf
(4 M., später 3,85 M. der Zentner) ein.
Noch empfindlicher wurde der Mangel im Frühjahr 1916.
An den Verkaufstagen waren die Verkaufsstellen von Hunderten umlagert, die dort stundenlang ausharrten, um nur einen halben Zentner Kartoffeln zu erhalten (der Zentner kostete 5,60 M.)
Viele mußten trotzdem leer abziehen, da die angefahrene Menge den Bedarf bei weitem nicht deckte.
Die Klagen, daß die Landwirte die Kartoffeln künstlich zurückhielten, um einen höheren Preis zu erzwingen, wollten nicht verstummen. Um einer Wiederkehr dieser unerquicklichen Zustände vorzubeugen, wurden Ende September 1916 sämtliche in diesem Jahre geernteten Kartoffeln beschlagnahmt.
Gleichzeitig kam die Kartoffelkarte zur Einführung.
Darnach wurde jeder Person täglich 1½ Pfund Kartoffeln, vom 14. Oktober ab 1 Pfund und dann vom 1. Januar bis 20. Juli 1917 gar nur ¾ Pfund zugewiesen.
Jeder, der hierzu imstande war, hatte seinen Bedarf bis zum 15. August 1917 zu decken und erhielt hierzu einen Kartoffel-Bezugsschein ausgestellt.
Für alle übrigen Einwohner mußte die Gemeinde den Bedarf bereitstellen.
Da die im November vorgenommene Bestandsaufnahme das ungünstige Ergebnis der Kartoffelernte des Jahres 1916 erwies, so wurde durch eine Verordnung des Landratsamts vom 10. November ab die Eindeckung nur bis zum 15. April 1917 zugestanden.
Die Frühkartoffeln des Jahres 1917 wurden im Juli für den Kommunalverband beschlagnahmt und dem Erzeuger für Kopf und Woche nur 5 Pfund belassen.
Für die Versorgung der Bevölkerung vom 1. Oktober 1917 bis 15. August 1918 wurden ähnliche Bestimmungen wie im Jahre 1916 erlassen und den Verbrauchern für Kopf und Woche 7 Pfund zugeteilt.
Der gesetzliche Höchstpreis, der im Vorjahre 5,50 M. betrug, wurde auf 6 M. erhöht (im Kleinhandel 7,50 M.)

Wittenberg war von jeher durch seine Gemüsezucht berühmt, die so bedeutend ist, das alljährlich große Mengen nach den benachbarten Großstädten ausgeführt werden.
Die durch den Krieg geschaffenen eigenartigen Verhältnisse brachten es mit sich, daß auch hierin, namentlich im Sommer 1917, empfindlicher Mangel eintrat.
Um Wucherpreisen vorzubeugen, ordnete der Magistrat an, daß von Mitte August 1915 ab an den Markttagen die vom städtischen Marktmeister ermittelten Gemüsepreise an der Anschlagtafel am Rathause bekanntgegeben wurden.
Überschreitungen dieser Preise wurden bestraft.
Weiterhin wurden vom Magistrat ebenso wie vom Kreisausschuß für die einzelnen Gemüsearten Höchstpreise festgesetzt.
Mit großer Befriedigung begrüßten die Verbraucher die Polizeiverordnung, nach welcher vom 16. November 1915 ab Kartoffeln, Obst und das meiste Gemüse nicht mehr wie bisher nach Maß (Liter, Metze, Scheffel) sondern nach Gewicht verkauft werden durften.
Die Festsetzung von Höchstpreisen hatte die gewohnte Folge, daß das Gemüse vom Markte verschwand und zu Phantasiepreisen an auswärtige Händler verkauft wurde.
Nach Aussage eines Gemüsegärtners in öffentlicher Stadtverordnetensitzung boten Großstadthändler Ende Juli 1917 für einen Zentner Mohrrüben mit Kraut 25 M., für einen Zentner Frühkartoffeln 30 M.
Da die Reichs-Gemüsestelle sich zu dem Wunsche des Magistrats nach einem Ausfuhrverbot ablehnend verhielt, so mußte dieser sich darauf beschränken, den Gemüsezüchtern anzudrohen, ihnen den Verkaufsstand auf dem Wochenmarkte zu entziehen, falls dieser wöchentlich nicht wenigstens einmal mit Gemüse beschickt würde. Außerdem richtete dieser in den Zeitungen einen Aufruf an die Gemüsegärtner, in dem er sie mit ernsten Worten ermahnte, ihrer Pflichten gegenüber der Bürgerschaft eingedenk zu sein.
Um für das Jahr 1918 bei der Belieferung der Einwohner mit Gemüse nicht lediglich von den vorstädtischen Gemüsebauern abzuhängen, schlossen die städtischen Behörden einen Vertrag mit dem Rittergutsbesizer Gutknecht in Wachsdorf auf Anbau von 80 Morgen Dauerweißkohl.
Recht unerfreuliche Verhältnisse zeigte auch der Obstmarkt, zumal da die Behörde im Herbst 1916 und 1917 Äpfel, Pflaumen und Birnen in weitgehendster Weise für die Marmeladenerzeugung beschlagnahmte.
Wurden doch nach einer Mitteilung der Reichs-Obststelle für das Jahr 1917/18 nicht weniger als 8 100 000 Zentner Brotaufstrich aus Obst benötigt, davon 5 300 000 Zentner Marmelade für die Heeresverwaltung allein 2 700 000 Zentner.
Hierzu verarbeiteten die Marmeladenfabriken 7 Millionen Zentner Obst.
Es braucht wohl kaum darauf hingewiesen zu werden, daß die Obstpreise eine kaum glaubhafte Höhe erreichten. Wurden doch für den Zentner Äpfel 50 bis 60 M. gezahlt.
Bereits bei den Obstverpachtungen wurden Preise erzielt, wie sie bisher unerhört waren. So brachte z.B. die den Dabruner Hüfnern gehörige Obstnutzung im Pappelheger 1917 die Summe von 9 010 M. gegen 2 000 M. im Vorjahre.
Leider vermochte die Stadtverwaltung auch inbezug auf die Obstversorgung den Bedürfnissen der Einwohner nicht zu genügen. Nur einmal – im September 1917 – beschaffte diese einige Eisenbahnwagen voll Obst, die auf dem Bickelschen Anschlußgleis zum Preis von 35 Pf. für 1 Pfund Äpfel und 30 Pf. für 1 Pfund Pflaumen oder Birnen in Mengen von 10 Pfund zum Verkauf gelangten.
Der Andrang war natürlich ungeheuer groß, und der Vorrat reichte bei weitem nicht aus, den Bedarf zu decken.
Da unser Volk für die Dauer des Krieges mit den im Lande erzeugten Lebensmitteln auskommen mußte, so war von vornherein die größte Sparsamkeit darin geboten.
Zur Aufklärung der Bevölkerung fanden von Mitte Februar 1915 ab an zahlreichen Orten Vorträge statt, wozu Redner in einem in Berlin vom 3. bis 6. Februar vom Ministerium des Innern veranstalteten Lehrkursus ausgebildet wurden.
Die große Trockenheit des Sommers 1915 und die schlechte Kartoffelernte von 1916 verschärften die Lebensmittelknappheit ganz erheblich, die im Frühjahr 1917 einen sehr bedenklichen Charakter annahm.
Führten doch die notwendig gewordenen weiteren Beschränkungen der rationierten Lebensmittel an mehreren Orten sogar zu Unruhen. Gewissenlose Leute, welche die Notlage ausnutzten und Wucherpreise forderten, gab es dazu leider immer und überall, sodaß hinreichend Zündstoff gelagert war.
Dazu kam, was hier auch nicht verschwiegen werden darf, daß man in manchen Geschäften den Käufer mit einer Unfreundlichkeit und Schnoddrigkeit behandelte, die kaum zu übertreffen war, und sich gebärdete, als erweise man ihm eine unverdiente Gnade, wenn man ihm etwas verkaufte.
Auch von den zahlreichen Anordnungen der Behörde war so manche dazu angetan, Mißstimmung zu erzeugen.
Während zB. im Herbst 1916 die Stadt Wittenberg empfindlichen Mangel an Kartoffeln litt, wurde gefordert, daß der Kreis Wittenberg an die westlichen Industriebezirke Essen, Mörs und Bochum 580 000 Zentner Kartoffeln liefern solle. Durch das entschiedene Auftreten des Landrats von Trebra wurde diese Forderung auf 10 000 Zentner ermäßigt.
Oder ein anderes: Zur besseren Versorgung der Einwohner mit Lebensmitteln vereinigten sich im Herbst 1916 Wittenberger, Kleinwittenberger und Piesteritzer Kaufleute zu einer Einkaufsgenossenschaft, welcher die Stadt Wittenberg mit einer Einlage von 10 000 M. beitrat.
Im Oktober des genannten Jahres gelang es dieser,
in Holland für 43 000 M. Waren (Heringe, Räucherfische, Käse, Marmelade usw.) anzukaufen. Diese wurden jedoch von der unter Mitwirkung der Regierung in Berlin begründeten Zentral-Einkaufsgesellschaft ohne weiteres beschlagnahmt, und es kostete der Stadt die größte Mühe, wenigstens einen Bruchteil der Waren und das eingezahlte Geld zurückzuerhalten.

Seit dem 21. Oktober war in Wittenberg eine Preisprüfungsstelle eingerichtet worden, der sich auch die Vororte Kleinwittenberg, Piesteritz und Reinsdorf anschlossen.
Ihre Hauplaufgabe bestand darin, durch Festsetzung von Höchstpreisen dem Wucher entgegenzuwirken. Nach Lage der Dinge wurde freilich dieser Zweck nur unvollkommen erreicht. Es war eine allgemeine Erfahrung, daß man recht viele Dinge zu den festgesetzten Höchstpreisen nicht erhielt, sondern viel tiefer in den Beutel greifen mußte. Und da man mit den von der Behörde zugewiesenen Nahrungsmitteln in den seltensten Fällen auskommen konnte, so sah man sich gezwungen, über die Höchstpreise hinaus zu bezahlen oder zu darben.
Erst am 9. September 1926 wurde die Preisprüfungsstelle aufgehoben.

Es soll gewiß nicht bestritten werden, daß der Krieg die edelsten Eigenschaften im Menschen wachzurufen vermag, aber ebenso wahr ist es, daß dieser, namentlich bei längerer Dauer, bei den Daheimgebliebenen schädigend auf Charakter und Sitte einwirkt. Welche häßlichen Formen nahmen oft Neid und Miggunst an! Wiederholt konnte man es erleben, daß ein Hausbewohner den anderen zur Anzeige brachte, weil dieser sich auf nicht einwandfreiem Wege in den Besitz von Nahrungsmitteln gesetzt hatte. Und dabei konnte man die an den Fingern herzählen, die nicht in der einen oder der anderen Weise gegen behördliche Verordnungen fehlten.
Personen in einflußreicher Stellung waren immer wieder der Nachrede der „Lebensmittel – Hamsterei“ ausgesetzt.

Betrug, Diebstahle und Einbrüche mehrten sich mit der Dauer des Krieges in erschreckender Weise. Nicht immer war die nackte Not die Ursache, sondern in zahlreichen Fällen bildete der durch die Zeit erzeugte Geldhunger die Triebfeder der verbrecherischen Handlungen.

Am besten versorgt waren jene Kaufleute, die Waren, welche von der Landwirtschaft oder von Lebensmittelhandlungen gebraucht wurden, mit diesen gegen Nahrungsmittel eintauschen konnten. Diese Tauschgeschäfte nahmen einen recht beträchtlichen Umfang an und erinnerten lebhaft an die Urzeit des reinen Tauschhandels. Nicht selten erhielten sie einen, wenn auch ungewollten humoristischen Beigeschmack.
So veröffentlichte das „Wittenberger Tageblatt“ in Nr. 7 vom 9. Januar 1918 folgende Anzeige:

Tausch!
Tadellose Damenpelzhandschuhe, Größe 6 bis 7,
tausche ich gegen den Wert entsprechender Menge Marmelade ein.
Angebote unter A.N.7 an die Geschäfts stelle d. Bl. erbeten.

Wirklich bedauernswert waren die vielgeplagten Hausfrauen, die fortgesetzt unterwegs sein mußten, um Lebensmittel, die irgendwo zu haben waren, einzuholen und sich glücklich schätzten, wenn sie nicht stundenlang darnach stehen oder zuletzt doch noch mit leeren Händen abziehen mußten.
Um einige Pfund Brotaufstrich – Rübensaft oder Rübenmus – zu erhalten, fuhren Wittenberger Hausfrauen sogar bis nach Altjeßnitz, Delitzsch, Roitzsch in die dortigen Fabriken.
Es war kein bloßer Scherz, wenn gesagt wurde, die Hausfrauen seien auch „D.U.“ (dauernd unterwegs!)

Unentwegt tagaus, tagein
Hat die Hausfrau früh und spät
Lebensmittelschererei’n,
Und sie sucht und geht und steht.
Geht zum Bäcker hin nach Brot,
Eilt nach Fleisch in schlankem Trab,
Hat um Fische ihre Not,
Jagt sich nach Kartoffeln ab.
Keine Schlaffheit zeigt ihr Fuß
Für des Magens Wohlergeh’n.
Graupen, Grütze, Butter, Mus –
Alles muß sie sich – erstehn.
Hört sie einmal irgendwie
Irgendwo gibt’s Käse heut,
Strafft sich ihre Energie,
kennt sie keine Müdigkeit.
Ohne Rast und ohne Ruh‘
Geht sie, sei’s auch nur nach Keks: –
Auch die Hausfrau ist „D.U.“,
Da sie – „dauernd unterwegs!“

„In der Not frißt der Teufel Fliegen“, sagt ein bekanntes derbes Sprichwort.
In Erinnerung hieran wurden während der Kriegsjahre Nahrungsmittel angeboten und gekauft, von denen man sich vordem jedenfalls mit Grauen abgewendet hätte.
Da gab es
– Muschelfleisch das Pfund zu 2 M.,
– Robbenfleisch das Pfund zu 2 M.,
– Klippfisch das Pfund zu 3 M.,
– Pfahlmuschel in Gelee die Pfund-Dose zu 2 M.,
– Sülze aus Fischgallerte die Pfund-Dose zu 2 M.,
– geräuchertes Walfleisch das Pfund zu 3,50 M.,
– Fischklöße in Bouillon, die Pfund-Dose zu 2,65 M.,
– Grüzwurst, die aus Grütze und Rindsblut zusammengesetzt war, das Pfund zu 2 M.,
– Wurst aus Kaninchenfleisch das Pfund zu 8 M.,
– daneben allerlei „Brotaufstrich‘ von zweifelhaftem Aussehen und noch zweifelhafterer Beschaffenheit zu hohen Preisen usw.

Die unterbundene Zufuhr, das Fehlen von Rohstoffen und Arbeitskräften erzeugte schließlich einen Mangel an allen Bedürfnissen des täglichen Lebens, wie ihn auch die ausschweifendste Phantasie vordem sich nicht hätte träumen lassen.
Sehr zeitig und empfindlich machte sich der Mangel an Seife fühlbar. Wurde doch für ein Stück Toilettenseife von 100 gr, für das man im Frieden 30 Pf. zahlte, im dritten Kriegsjahre 8 M. und mehr gefordert. Als Ersatz wurde Tonseife (,“K.A. Seife“) von schlechtem Geruch und geringer Wirkung hergestellt, die zudem nur, ebenso wie verschiedene andere Waschmittel, gegen die von der Behörde ausgegebenen Seifenkarte abgegeben wurde.
(50 g Feinseifen und 250 g Seifenpulver im Monat der Jahre 1915, 1916 und 1917, im Jahre 1918 nur die Hälfte)

Der Ledermangel verursachte eine empfindlich. Knappheit der Schuhwaren, namentlich nachdem im November 1915 seitens des Generalkommandos die Beschlagnahme des Leders verfügt war. Vom 27. Dezember 1916 ab durften Schuhe nur noch gegen den von der Ortsbehörde ausgestellten Bezugsschein, der die Notwendigkeit des Anschaffens bescheinigte, verkauft werden. Infolgedessen suchten sich viele noch vorher einzudecken, sodaß ein wahrer Ansturm auf die Schuhwarengeschäfte einsetzte, der deren Bestände erheblich lichtete.
Hand in Hand damit ging das Steigen der Preise. Für ein Paar Herrenschnürschuhe, die im Frieden 16 M. kosteten, zahlte man im dritten Kriegsjahre 40 M. und darüber, für ein Paar Stiefelsohlen, welche der Schuhmacher vor dem Kriege für 2,75 M. liefert, mußte man 10 M. entrichten.
Gegen die Abnutzung der Sohlen suchten sich die meisten durch Anbringen von „Sohlenschonern“ – Metallplättchen, Zwecken, Lederstückchen usw. – zu schützen.
Im Sommer 1917 forderte der Magistrat und nach ihm der Kreisausschuß die Bevölkerung auf, durch Barfußgehen während der warmen Jahreszeit den Lederverbrauch weiter einzuschränken – eine Mahnung, die wohl von der Schuljugend, weniger aber von den Erwachsenen befolgt wurde.
Die Lederknappheit stieg soweit, daß vom Dezember 1917 ab für die Zivilbevölkerung statt der Ledersohlen Holzsohlen und Sohlen aus geteertem Filze verwendet werden mußten.

Der Mangel an Gummi führte zur Beschlagnahme der Gummivorräte für den Heeresbedarf. Zu diesem Zwecke mußten bis zum 12. August 1916 alle Radbereifungen (Mantel und Schlauch) an Fahrrädern und Kraftwagen gegen Entschädigung abgeliefert werden. Nur Fahrräder, die im Berufe gebraucht wurden, blieben auf Antrag davon befreit.
Zur Ersparung von Benzin war schon früher der Verkehr mit privaten Kraftwagen verboten.
Von Zeit zu Zeit fanden allgemeine Sammlungen von Altgummi durch die Schüler statt, um aus diesem brauchbare Radbereifungen herzustellen. Aus Ersazstoffen wurde Kunstgummi erzeugt, der sich aber als wenig haltbar erwies.
Die für Säuglinge notwendigen Gummisauger durften nur noch durch die Apotheken verkauft werden und wurden von diesen nur gegen Vorlegen des Geburtszeugnisses und gegen Zurückgabe des unbrauchbar gewordenen Saugers zum Preise von 5 Mark abgegeben.

Sehr unangenehm wurde die Knappheit an Petroleum für die Haushaltungen ohne Gas- oder elektrische Beleuchtung.
Dieses wurde vom 15. Oktober 1915 ab nur noch an Heimarbeiter und landwirtschaftliche Betriebe gegen eine von der Ortsbehörde ausgegebene Petroleummarke in kleinen Mengen (zu 32 Pf. das Liter) abgegeben. Die auf die Petroleumquellen im eroberten Rumänien gesetzten Hoffnungen erfüllten sich nicht, da diese in erster Linie den Heeresbedarf decken mußten.

Der Mangel an Wolle und Baumwolle verursachte naturgemäß bald einen empfindlichen Mangel an Kleidung.
Bereits im Dezember 1915 wurden alle Web-, Trikot- und Strickgarne vom Kriegsministerium beschlagnahmt.
Die Preise für Wolle erreichten eine schwindelnde Höhe.
Im dritten Kriegsjahre zahlte man für das Pfund Strickwolle 50 M. und mehr.
Ein Herrenanzug war kaum unter 400 M. zu haben.
Alle wollenen und baumwollenen Stoffe wurden nur gegen Bezugsschein abgegeben.
In der Damenkleidung kamen infolgedessen die bezugsscheinfreien Stoffe, vor allem Seide, zu reichlicher Verwendung, die daher auch außerordentlich im Preise stieg. Seidene Blusen zu 80 M. und mehr waren keine Seltenheit.
Schließlich fertigte man Kleidung wie Leibwäsche sogar aus Papier an. Allgemeine Aufnahme fand diese Kleidung allerdings aus ersichtlichen Gründen nicht.
Zur Versorgung der minderbemittelten Bevölkerung wurde von der Stadt Wittenberg eine Sammelstelle für gebrauchte Kleidung, Wäsche und Schuhe errichtet, die am 3. Oktober 1917 mit dem Verkauf begann.
Wer künftig einen Bezugsschein auf Kleidungsstücke oder Schuhe haben wollte, mußte zuvor bei dieser Sammelstelle entsprechende getragene Kleider oder Schuhe abgeben. Andernfalls mußte er ein genaues Verzeichnis seines Kleider- bzw. Schuhbestandes zur Prüfung für die Notwendigkeit der Neubeschaffung einreichen.

Um vor allem den Bedarf an Oberkleidung für die Arbeiter in kriegswichtigen Betrieben zu decken, wurde im Mai 1918 von der Reichsbekleidungsstelle eine allgemeine Sammlung von getragener Oberkleidung für Männer im ganzen Reiche angeordnet. Demzufolge erließ der Kreisausschuß des Kreises Wittenberg unter dem 29. Mai 1918 eine Bekanntmachung, in der alle besser gestellten Einwohner des Kreises aufgefordert wurden, getragene Männer Anzüge gegen Entschädigung an die Sammelstellen in den Städten Wittenberg, Kemberg, Pretzsch, Schmiedeberg und Zahna abzuliefern. Dem Kreise Wittenberg wurden 1 000, der Stadt Wittenberg 500 Anzüge zur Ablieferung aufgegeben.

Vom 1. Juli 1918 ab wurde seitens der Reichsbekleidungsstelle allen Gastwirtschaften usw, ohne Ausnahme das Auflegen von Tischwäsche verboten. Gleichzeitig richtete die Reichsstelle an die beteiligten Kreise die Aufforderung, alle entbehrliche Wäsche an sie zu verkaufen und drohte mit Enteignung, falls dieser Verkauf nicht freiwillig in ausreichendem Maße erfolgen sollte. Die Drohung von zwangsweiser Enteignung von Kleidung und Wäsche rief einen Sturm der Entrüstung hervor, der sich bis in die Parlamente fortsetzte.
In einer Zeitung gab einer seinen Gefühlen in folgendem Verse Ausdruck:

Letzte Hose, die mich schmückte,
Ach, auch dich, die mich entzückte,
Trägt ein andrer nun nach Haus.

Die zunehmende Papierknappheit zwang die Zeitungen, ihren Umfang zu vermindern. Zur Ersparnis von Papier wurden seit Januar 1918 ab die in der Privatindustrie hergestellten Postkarten, ebenso die von den Behörden herausgegebenen Frachtbriefe, Lebensmittelkarten ua. im Format verkleinert.
Zur Bekämpfung des Mangels wurden wiederholt Papiersammlungen durch die Schulen vorgenommen. Die Papierpreise stiegen fortgesetzt und erreichten im dritten Kriegsjahre das Vierfache des früheren Betrages.
Infolge des Papiermangels saben sich die Wittenberger Fleischer genötigt, ihre Kundschaft öffentlich zu bitten, beim Einkauf Einwickelpapier bzw. Geschirr mitzubringen.

Der Mangel an Malz führte zur Knappheit und fortgesetzten Verdünnung des Bieres. Es wurde ein so genanntes „Einheitsbier“ hergestellt, das wenig Gehalt und Geschmack zeigte und trotzdem mit 30 Pf. das Glas (0,35 l) bezahlt wurde.

Der bereits kurz nach Kriegsausbruch fühlbare Mangel gemünztem Geld veranlaßte die Regierung, Darlehenskassenscheine im Werte bis herab zu einer Mark herauszugeben.
Im Herbst 1915 gelangten zum erstenmal eiserne Fünfpfennigstücke und Zehnpfennigstücke an Stelle der Nickelmünzen zur Ausgabe, denen später noch Pfennigstücke aus Aluminium folgten.
Für das Gesangenenlager wurden besondere Geldscheine bis herab zu einem Pfennig hergestellt, welche die Unterschrift des Lagerkommandanten trugen.
Da der Mangel an Kleingeld beständig zunahm, so ließ die Stadtverwaltung nach dem Beispiele anderer Städte Ersatzmünzen prägen und zwar 40 000 Fünfpfennigstücke, 40 000 Zehnpfennigstücke und 20 000 Fünfzigpfennigstücke.
Dieses Wittenberger „Kriegsgeld“ war achteckig, aus Zink gefertigt und trug auf der Vorderseite die Wertbezeichnung mit der Überschrift „Kleingeld-Ersatzmarke“, während die Rückseite das Stadtwappen mit der Überschrift „Stadt Wittenberg“ zeigte.

Da das Reich zur Deckung seines Notenumlaufs wie zu Zahlungen an das neutrale Ausland notwendig Gold gebrauchte, so fanden fortgesetzt Sammlungen von Goldmünzen statt, an denen sich ganz besonders wieder die Schüler beteiligten, die dafür besondere Gedenkblätter erhielten.
Bei der Stadtsparkasse Wittenberg gingen zB. in der Zeit vom 1. Januar bis 31. Dezember 1915 Goldmünzen im Betrage von 109.000 M. ein, die gegen Papiergeld umgetauscht wurden.
Da der Zufluß von Goldstücken naturgemäß mit der Zeit abnahm, das Reich aber fortgesetzt des Goldes bedurfte, so wurde die Bevölkerung aufgerufen, die goldenen Schmucksachen zu opfern.
In der städtischen Sparkasse wurde eine Goldankaufsstelle eingerichtet, bei der bis zum 19. Februar 1918 von 1 300 Personen 21 kg Goldschmuck im Werte von 27 000 M. zur Ablieferung kamen. Die Ablieferer erhielten außer Bezahlung des Goldwertes eine eiserne Plakette, die auf der Vorderseite eine Frauengestalt mit der Umschrift „In eiserner Zeit“ – 1916″ und auf der Rückseite die Inschrift zeigt: „Gold gab ich zur Wehr, Eisen nahm ich zur Ehr.“
Für goldene Uhrketten wurden neben dem Goldwert eiserne Uhrketten gegeben. Um einen neuen Anreiz zur Ablieferung zu schaffen, stellte man von dem Gemälde des Professors Artur Kamz „Volksopfer 1813“ künstlerische Nachbildungen her, die durch Los (1 je 100) verteilt wurden.
Die erste dieser Preisverteilungen fand in feierlicher Weise am 16. September 1917 im Stadtverordneten-Sitzungssaale statt.
Es konnten hierbei 11 Einlieferer von Goldschmucksachen mit dem bezeichneten Preise bedacht werden.
Zur weiteren Anregung wurde vom 17. bis 23. Februar 1917 eine „Goldwoche“ eingerichtet, während der jeder zwanzigste Einlieferer von Goldschmuck oder Juwelen als Preis das obengenannte Bild erhielt.
Dem gleichen Zweck diente auch der am 19. Februar im „Kaisergarten“ (jetzt „Schloßgarten“) veranstaltete Vaterländische Familienabend der Goldankaufsstelle.

Zu den bisher geschilderten Nöten gesellte sich sich noch eine weitere, die neben dem Mangel an Lebensmitteln zu den umfassendsten und härtesten gehörte – die Kohlennot.
Die reichen Kohlenschätze des deutschen Bodens konnten wegen Arbeitermangel und Transportschwierigkeiten der Bevölkerung nicht in ausreichendem Maße zugeführt werden. Außerdem mußten an das neutrale Ausland – Dänemark, Schweden, Holland, Schweiz – erhebliche Kohlenlieferungen als Tauschobjekt gegen Lebensmittel ua. geschehen.

Anfang Oktober 1916 sah sich der Wittenberger Magistrat zum ersten Male infolge der Kohlenknappheit veranlaßt, die Bürgerschaft zur Sparsamkeit im Verbrauch von Leuchtgas zu ermahnen. Gleichzeitig wurde die Straßenbeleuchtung erheblich eingeschränkt und endlich gänzlich eingestellt. Die Straßen der Stadt blieben daher mit einbrechender Dunkelheit in unheimlich wirkende Finsternis gehüllt, die dadurch vervollständigt wurde, daß die Beleuchtung der Schaufenster untersagt war.
Ein Versuch des Magistrats, wenigstens an den gefährlichsten Verkehrspunkten einige Straßenlaternen zu brennen, scheiterte am Einspruch des Garnisonkommandos. In sämtlichen Haushaltungen, Geschäftszimmern und Werkstätten durfte nur bis 10 Uhr abends Gaslicht gebrannt werden.
Der Gebrauch von Heiz und Kochgas wurde gänzlich untersagt und diese Anschlüsse durch Plombierung verschlossen.
Erst vom 3. April 1917 ab gestattete man die Wiederbenutzung des Kochgases.
Der Kohlenersparnis halber mußten Gastwirtschaften, Kino usw. um 10 Uhr abends geschlossen werden.
Der Ladenschluß der Geschäfte mußte um 7 Uhr erfolgen.
Die ungewöhnlich strenge Kälte, die Anfang Februar 1917 bis auf -25° C. stieg, vermehrte die Kohlennot.
Die Schulen wurden daher vom 5. bis 17. Februar geschlossen und nach Wiedereröffnung des Unterrichts die meisten im Gebäude der Mädchenbürgerschule vereinigt. Im März nahm der Magistrat eine Rationierung des Kohlenbezugs vor.
Jede Haushaltung erhielt wöchentlich nur 2 Zentner Kohlen, Bäder und Gastwirte 12 Zentner.
Um den Leuchtgasverbrauch einzuschränken, hatte die Stadtverordnetenversammlung im Januar beschlossen, daß jedes Kubikmeter, welches über die Hälfte des Verbrauchs im Monat Oktober 1916 hinausging, mit einem Preiszuschlag von 50 Pf. belegt wurde. Dieser Beschluß wurde im Mai wieder aufgehoben, dafür aber bald darauf der Gaspreis von 17 Pf. auf 20 Pf. für das Kubikmeter Heiz- und Leuchtgas erhöht.
Im Dezember erfolgte eine weitere Erhöhung auf 28 Pf. für Leucht- und Heizgas und auf 26 Pf. für Gas zu gewerblichen Zwecken.
Dem entsprechend wurde auch der Preis für elektrischen Strom zu Lichtzwecken von 40 Pf. auf 50 Pf. die Kilowattstunde erhöht.

Der andauernde Kohlenmangel veranlaßte die Herausgabe besonderer Kohlenkarten, die am 3. Juni in Kraft traten.
Darnach erhielt jede Haushaltung wöchentlich 2 Zentner Braunkohlen oder Brikett oder insgesamt 30 Zentner für den Sommer. Für den Winterbedarf wurden Zusatzmarken gegeben, auf welche Wohnungen mit 2 oder 3 heizbaren Zimmern bis 20 Zentner, Wohnungen mit 4 oder 5 heizbaren Zimmern weitere 15 Zentner und Wohnungen mit 6 oder mehr heizbaren Zimmern noch weitere 15 Zentner auf Antrag zugesagt wurden.

Im Auftrage des Reichskommissars für Elektrizität und Gas erließen die hiesigen Vertrauensmänner Ortsvorschriften, nach denen ein Höchstverbrauch an beiden Beleuchtungen nach Größe der Wohnung und dem Monat abgestuft festgesetzt wurde.
In Wohnungen mit 2 bis 3 Zimmern zB. durften im Monat Dezember nicht mehr als 50 cbm Leuchtgas verbraucht werden.
Der Verbrauch an elektrischem Strom durfte nur bis 80 Prozent des Verbrauchs im November 1916 betragen.
Zur Ersparung von Licht mußten vom 27. November ab sämtliche Geschäftsläden am Dienstag, Donnerstag und Freitag um 5 Uhr nachmittags, am Montag, Mittwoch und Sonnabend um 7½ Uhr schließen und nicht vor vormittags 8½ Uhr geöffnet werden.
Vom 9. Februar 1918 ab durfte die Öffnung um 7½ Uhr vormittags und der Schluß an den drei erstgenannten Tagen um 6 Uhr nachmittags geschehen.
Sogar bis auf die Regelung der Zimmertemperatur erstreckie sich die „Fürsorge“ der Behörde.
In Gastwirtschaften, Läden, Schulen usw. sollte die Höchsttemperatur 16°C. nicht überschreiten.

Daß bei der Kohlenknappheit die Kohlenpreise ganz erheblich stiegen, kann nicht wundernehmen. Für Braunkohlenbrikett, die früher 70 Pf. der Zentner kosteten, mußte man im Dezember 1917 bereits 1,70 M. und für böhmische Braunkohlen statt 75 Pf. 2,30 M. zahlen. Dazu traten noch die verteuerten Anfuhrkosten, die von 5 Pf. der Zentner auf 25 Pf. stiegen.

Das neue Jahr 1918 brachte noch eine Reihe weiterer einschneidender Maßnahmen, um Ersparnis an Kohlen zu erzielen. So wurden die Weihnachtsferien der Schulen verlängert – in Wittenberg um 14 Tage – und der Personenverkehr auf der Eisenbahn fuhr eine weitere erhebliche Einschränkung.
Bei den ungenügend geheizten Wagen und den vielfachen Zugverspätungen war das Reisen mit der Eisenbahn ohnehin kein Vergnügen.
Zum Glück stellte sich der vierte Kriegswinter verhältnismäßig mild, die Not wäre sonst noch schlimmer geworden.

Je größer der Mangel an den einzelnen Dingen wurde, desto erfindungsreicher war die Industrie in der Erzeugung von Ersatz.
Es gab zuletzt nur noch weniges, für das man nicht einen „Ersatz“ gefunden hätte.
Die Ersatzmittel Auskunftsstelle in Berlin teilte im November 1917 mit, daß bis dahin bei ihr allein über 10 000 verschiedene Ersatzmittel angemeldet wurden, darunter allein 7 000 Ersatz- Nahrungsmittel.
Da gab es
– Ei-Ersatz,
– Fleischersatz,
– Butterersatz,
– Speiseölersatz,
– Kakaoersatz,
– Kaffeeeersatz,
– Teeersart,
– Ersatzbier,
– Punschersatz,
– Likörersatz,
– Rumersatz,
– Ersatzpfeffer,
– Ersatztabak ua.

In den weitaus meisten Fällen war es geraten, der Zusammensetzung dieser Ersatzmittel nicht nach zuforschen, da sonst ein nicht geringer Mut dazu gehörte, sie zu genießen.
Ein Beispiel für viele:
Mit Hopfen, der doch eigentlich ins Bier gehört, fing die obrigkeitlich genehmigte Tabakstreckung an, um dann zu der vom Bundesrat gestatteten Herstellung von Tabakerzeugnissen aus Buchenlaub und Zichorienblättern überzugehen.
Zichorie gehörte ja vordem eigentlich in den Kaffee, und unser schöner Buchenwald, „aufgebaut so hoch da droben“, hat es sich gewiß nicht träumen lassen, daß er einmal zur Karikatur einer Sumatraplantage herabsinken würde – und wir auch nicht, sonst hätten wir ihn nicht gefühlvoll besungen, sondern ihn hätte höchstens des Sängers Fluch getroffen.
Weniger bedenklich waren in dieser Hinsicht Bindfadenersatz und Ersatz-Schnürsenkel, die wie so manches andere auch dem Papier ihr Entstehen verdankten.
Lederersatz und Gummіersatz spielten bei dem Mangel an „Friedensware“ eine große Rolle, ebenso wie Ersatzseise und Ersatzwolle.
Sehr beklagenswert war es, daß die Benennung „Kriegsware“ nicht nur zum Freibrief für Minderwertigkeit und Leichtfertigkeit in der Herstellung, sondern auch für Wucher und Betrug wurde.
Wohl schritten Behörden und Gerichte gegen letztere ein und verhängten über die Sünder oft beträchtliche Geldstrafen.
Aber ehe der Arm der Gerechtigkeit diese erreichte, waren von ihnen bereits meist so hohe Gewinne erzielt, daß sie die verhängte Strafe kaum als Aderlaß empfanden, den sie kaltlächelnd hinnahmen.

Um die Bedürfnisse des Heeres auch für die Kriegsführung sicherzustellen, ordnete die Heeresverwalung eine ausgedehnte Beschlagnahme der verschiedensten Dinge an.
Diese erstreckte sich ua. auf sämtliche Gegenstände aus Kupfer, Messing, Reinnickel (auch in den bürgerlichen Haushalten), auf Gummi, alle Web-, Trikot-, Wirk- und Strickgarne, Hasen, Kaninchen und Katzenfelle, Nußbaumholz, eine große Anzahlzahl von Chemikalien, Mauersteine und Dachziegel aller Art.
Dem großen Bedarf an Metallen fielen sogar die Prospektpfeifen von Zinn an Orgeln und die Kirchenglocken, die keinen historischen Wert nachweisen konnten, sowie Denkmäler ohne Kunstwert zum Opfer.
Von den Wittenberger Glocken wurde die im südlichen Turme der Stadtkirche hängende sogenannte Türmerglocke, die bis dahin zum Anschlagen bei Bränden benutzt wurde, eingezogen.
Die Glocke, die ein Gewicht von 22 Zentnern und einen Durchmesser von 1,20 m besaß, war im Jahre 1549 von Matthias Maaß gegossen und trug die Inschrift:
„Der Tod kommt dir alle Stunden näher.“
Anfang September 1918 teilte die große und mittlere Glocke der Schloßkirche das gleiche Schicksal. An manchen Orten nahm die Gemeinde feierlichbewegten Abschied von ihrer Glocke und widmete ihr ein Scheidelied, wie das nachstehende, das in der Kirche zu Mühlsdorf (Fürstentum Reuß) gesungen wurde:

Du hast so oft geklungen, wenn uns ein Liebstes schied,
Nun sing mit mit Engelszungen dir selbst ein letztes Lied,
Das Scheidelied vom Sterben für Volk und Vaterland!
Sing’s und zerbrich in Scherben, zerschmilz im Opferbrand!

Nur du bleib uns zu eigen, Herr Gott voll Kraft und Ruh.
Wenn deine Boten schweigen, so rede du, nur du!
Gib, daß wir unverdrossen in Stürmen feste stehn,
Und laß, was du beschlossen, mit großer Macht geschehn.

Im August 1918 wurde die Kupferbedachung von unseren beiden Stadtkirchtürmen herabgenommen, um für Kriegszwecke verwandt zu werden. Statt dessen erhielten die Türme Schieferbedachung.

Durch Verordnung des stellvertretenden Generalkommandos vom 15. März 1918 wurde das ausgekämmte Menschenhaar beschlagnahmt, das zur Herstellung von Treibriemen ua. Verwendung fand.
Für 1 kg wurden 20 M. bezahlt.

1916

In welcher schier unglaublichen Weise die Preise für alle Lebensbedürfnisse während des Krieges stiegen, das zeigt das nachstehende Preisverzeichnis aus dem dritten Kriegsjahre, dem zum Vergleich die Friedenspreise (vom Juli 1914) in Klammern beigesetzt sind.
H. – bedeutet den von den Behörden festgesetzten Höchstpreis.

Durch Polizeiverordnung wurde bestimmt, daß vom 28. Dezember 1915 ab der gewerbsmäßige Einkauf von Butter, Fett, Eiern, Fleisch und Fleischwaren, Fischen, Wild und Geflügel an den Markttagen auf dem Marktplatze erst von 10 Uhr vormittags ab erfolgen durfte. Der Handel mit diesen Lebensmitteln durfte an den Markttagen außerhalb des Marktplatzes erst von 1 Uhr mittags ab geschehen.

Auf Anordnung des Kriegsministeriums vom 31. De zember 1915 wurden alle Web-, Trikot-, Wirk- und Strickgarne in Fabriken und Verkaufsstellen beschlagnahmt.

Am 3. Januar 1916 fand auf Anordnung des Bundesrats in allen Verkaufsstellen und Vorratsräumen eine Vorratserhebung von Kaffee, Tee und Kakao statt.

Da die waffenfähigen Männer bis zum 45. Lebensjahre zum Heeresdienst einberufen wurden, so machte sich bald überall im steigenden Maße Mangel an Arbeitskräften geltend. Die entstandenen Lücken suchten soweit als nur möglich die Frauen auszufüllen.
Im Oktober 1917 waren allein im Eisenbahndienst 94 000 Frauen beschäftigt.
Auch in der städischen Verwaltung, im Reichswerk Piesteritz (Stickstoffwerk), in der Artillerie Munitionsanstalt und den Reinsdorfer Sprengstoffwerken war eine große Zahl weiblicher Arbeitskräfte eingestellt, in den letzteren viele Arbeiterinnen aus dem Vogtlande und den von den Deutschen besetzten belgischen Gebieten.

Durch den Zuzug auswärtiger Arbeitskräfte wuchs die Bevölkerungsziffer von Wittenberg und den Vororten Kleinwittenberg, Piesteriz und Reinsdorf ganz erheblich.
Im Oktober 1913 zählte Wittenberg
– 23 074 Einwohner (einschließlich Militär),
– im Oktober 1915  27 168 Einwohner (einschließlich 5632 Militärpersonen),
– am 1. Dezember 1916 21 567 Zivileinwohner,
– am 5. Dezember 1917 aber 34 716 Einwohner (einschließlich Militär).

Nach der Volkszählung vom 1. Dezember 1910 besaß
– Kleinwittenberg 1 896 Einwohner und
am 5. Dezember 1917 2414 Einwohner;
– Piesteriz zählte am 1. Dezember 1910 2466 und
am 5. Dezember 1917 = 7353 Einwohner.
Dieser Zuwachs ist im wesentlichen auf die Erweiterung der Rüstungsindustrie zu rechnen.
Dafür spricht auch das folgende Beispiel:
Am 1. Januar 1916 zählte die Allgemeine Ortskrankenkasse I, welche die Orte Wittenberg, Kleinwittenberg, Piesteritz und Reinsdorf umfaßt,
– 14 135 Mitglieder (9 620 männliche und 4515 weibliche).
– Am 31. Dezember 1916 aber waren dieseauf
20 401 angewachsen (10 940 männliche und 9 461 weibliche).
Die Sprengstoffwerke beschäftigten Ende März 1918 an Arbeitern und Beamten 9 310,
– die Stickstoffwerke 5215 und
– die Munitionsanstalt 1085 Personen.
Für diese Rüstungsarbeiter wurde im Herbst 1916 am Elbtor eine Haltestelle der Eisenbahn eingerichtet.

Für diese Arbeitermassen waren nicht genügend Wohnräume vorhanden, sodaß das Schlafstellen-Unwesen recht unerfreuliche Erscheinungen bot.
Apollensdorf hatte auf 86 Wohnhäuser 200 Schlafgänger;
Piesteritz deren 2 000.
Wohl waren in den westlichen Vororten verschiedene Baugesellschaften bemüht, Wohnhäuser zu errichten
(Siedlungsgesellschaft, „Sachsenland“, Berlin-Anhaltische Bodenbaugesellschaft, Boswau und Knauer ua.)
Auch wurden in Wittenberg mehrere Arbeiterinnen- und Arbeiterheime eingerichtet, ohne daß damit der Wohnungsnot wesentlich abgehoifen werden konnte. Trotz Mahnungen des Magistrats wiederholten sich bei jedem Vierteljahrswechsel die Klagen der Mieter über Mietesteigerung und Wohnungskündigung seitens der Hauswirte.
Die unerquicklichen Zustände führten zur Gründung eines Mietervereins, der wiederholt in scharfen Gegensatz zu dem Hausbesitzerverein trat.
Zur Schlichtung von Streitigkeiten zwischen Hauswirten und Mietern richtete die städtische Behörde ein aus Mietern und Vermietern zusammengesetztes Mieteinigungsamt ein, zu dem später noch ein Wohnungsamt zur Regelung der Wohnbeschaffung trat.
Zur Förderung der Bautätigkeit trat die Stadt der neubegründeten Gartenstadt-Baugenossenschaft durch Übernahme von 10 Bauanteilen von je 300 Mark sowie der Siedlungsgesellschaft „Sachsenland“ mit einer Summe von 20 000 M. bei.
Ferner stellte sie 30 000 M. aus Überschüssen der Sparkasse bereit, aus denen Bau-Beihilfen bis zum Betrage von je 1 000 M. gewährt wurden, und endlich bewilligte sie eine größere Summe zum Ausbau der Dobschütz-Baracke zu Wohnungen.
Zu dem gleichen Zwecke wurde ein aus 6 Mitgliedern der Stadtverordnetenversammlung gebildeter Wohnungsausschuß eingesetzt.

Kriegswohlfahrtspflege

Der Krieg mit seinen mannigfachen Bedürfnissen und Nöten rief auch in Wittenberg eine ausgedehnte Liebestätigkeit auf den Plan, in deren Dienst mit und neben der städtischen und kirchlichen Verwaltung mehrere Vereinigungen und Einzelpersonen traten.

In der außerordentlichen Stadtverordnetensitzung vom 11. August 1914 wurde ein „Kriegsfond“ in Höhe von 10 000 M. für außergewöhnliche durch den Krieg bedingte Ausgaben gebildet, der späterhin zum zweiten und dritten Male um die gleiche Summe ergänzt wurde.
Die zur Fahne einberufenen städtischen Angestellten und Arbeiter erhielten ihre bisherigen Gehalts bezw. Lohnbezüge weitergezahlt. Minderbemittelten Kriegsteilnehmern aus der Einwohnerschaft wurden Steuernachlässe bewilligt.

Zu Liebesgaben für die Truppen der Garnison stellte die Stadtverordnetenversammlung nach dem Antrage des Magistrats wiederholt größere Summen bereit;
– so am 6. Oktober 1914 eine solche von 7 500 M.,
– am 23. November 1915,
– am 3. Oktober 1916 und
– am 25. September 1917 je 10 000 M.
Insgesamt wurden seitens der Stadtverwaltung 50 000 M. für diesen Zweck verwendet.

Die Unterstützung der Familien der Kriegsteilnehmer fiel dem Kreise zu, der zu den Reichssätzen 33⅓ Prozent Zuschlag gewährte. Die Auszahlung erfolgte in Wittenberg durch die Stadthauptkasse, die bis zum 31. März 1919 insgesamt 2 581 392 M. an Familienunterstützungen in 2 307 Fällen auszahlte.

Zur Unterstützung der bedürftigen Angehörigen Wittenberger Krieger richtete die evangelische und katholische Kirchengemeinde die Sammelstellen ein, bei denen bis zum 27. Januar 1916 außer Kleidungstückeen usw. 21 716 M. eingingen.

Eine sehr ausgebreitete Liebestätigkeit entfaltete die unter Leitung von Superintendent Orthmann stehende Evangelische Frauenhilfe. Sie verausgabte für Kriegswohlfahrtspflege bis zum 31. März 1918:

1. für Unterstützung von Kriegerfamilien                          – 12 408,66 M
2. für das Säuglingsheim                                                                – 10 117,73 M
3. für Kinderfürsorge (Horte und Kleinkinderschule)  –    7 336,93 M
4. für Bahnhofsmission                                                                   –    1 222,35 M
5. für Verschiedenes                                                                         –     8575,57 M
6. für Weihnachtsspenden                                                            – 15 526,00 M
zusammen:  55 187,24 M

In der von der Evangelischen Frauenhilfe in der Herberge zur Heimat eingerichteten Volksküche wurden vom 1. April 1917 bis 30. April 1918 insgesamt 161 823 Liter warmes Essen ausgegeben und zwar bis Mitte November 1917 täglich 700 Portionen, von da ab täglich durchschnittlich 300 Portionen.
Für 1 Liter Essen wurden anfangs 20 Pf., später 25 Bf. erhoben.
Die Ausgaben für die Volksküche betrugen in der genannten Zeit
52 383,40 M.
Außerdem wurden dort täglich 80 Kinder auf Kosten des Magistrats gespeist.

Eine nicht minder umfangreiche Liebestätigkeit trieb der Vaterländische Frauenverein, zunächst unter Leitung von Frau Landrat von Trotha und nach deren Wegzug unter Leitung von Frau Landrat von Trebra.
Bis zum 31. März 1918 sandte dieser rund 21 000 Pakete mit Liebesgaben an die Front (darunter rund 18 500 Weihnachtspakete).
An Kriegerwitwen und Bedürftige im Kreise Wittenberg gab er
2 500 M. bare Unterstützungen.
Für die Pflege der Verwundeten in den hiesigen Lazaretten stellte er 39 Hilfsschwestern.
Bis zum 1. November 1915 leistete der Verein die Verpflegung in den Lazaretten mit 762 492 Verpflegungstagen bei einem Kostenaufwand von 1 790 681 M.
(Vom 1. November 1915 ab übernahm der Zweigverein vom „Roten Kreuz“ diese Arbeit.)

Aus der vielseitigen Tätigkeit des hiesigen Zweigvereins vom „Roten Kreuz“ unter Leitung des Lehrers Zimmer seien folgende Zahlen aus den ersten zwei Kriegsjahren genannt:
– 1. Für Ausbildung und Ausstattung von Personal        9 200 M.
– 2. Für Einrichtung von Erfrischungsstationen                 1500 M.
– 3. In der Etappe                                                                                  6000 M.
– 4. Für Liebesgaben                                                                       31 000 M.
– 5. Für deutsche Kriegsgefangene                                           8 200 M.
– 6. Für deutsche sonstige Zwecke                                            5 600 M.
zusammen 61 500 M.

Von den übrigen Vereinen war es in erster Linie die hiesige Ortsgruppe des Deutschen Flottenvereins, die sich in den Dienst der Kriegs-Liebestätigkeit stellte und unter der Leitung ihres Vorsitzenden, des Lehrers Erfurth, eine Sammelstelle von Liebesgaben für die Kaiserliche Kriegsmarine einrichtete.
Vom 1. bis 3. Oktober 1916 veranstaltete der Verein im Kreise Wittenberg einen Marine-Opfertag (Straßen- und Haussammlung), der einen Ertrag von insgesamt 7 398 M. 97 Pf. brachte.
Stadt Wittenberg: 3 046 M. 77 Pf., die übrigen Orte des Kreises zu sammen: -4352 M. 20 Pf.
In der Provinz Sachsen ergab der Marine-Opfertag –
307 425 M. 64 Pf., und
im Deutschen Reiche 6 Millionen 418 M. 61 Pf.

Der Lehrerverein „Wittenberg und Umgegend“ gab aus seinen Vereinsmitteln 200 M. zur „Kriegshilfe“ des Deutschen Lehrervereins (Unterstützung der aus Ostpreußen und Elsaß-Lothringen vertriebenen und geschädigten Lehrer, Lehrerinnen, Lehrerwitwen und Lehrertöchter) und veranstaltete unter seinen städtischen Mitgliedern noch eine besondere Sammlung zu dem gleichen Zwecke, die den Betrag von 1 195 M. ergab.
(Insgesamt wurden von der deutschen Lehrerschaft hierfür 217 940 M. aufgebracht.)
Außerdem erhob der Lehrerverein „Wittenberg und Umgegend“ von jedem seiner Mitglieder einen besonderen Jahresbeitrag von 20 M. zur Unterstützung der Hinterbliebenen seiner im Felde gefallenen Mitglieder.
Vom Jahre 1917 ab übernahm der Lehrerverband der Provinz Sachsen durch Errichtung eines „Kriegerdankes“ die Fürsorge für die Hinterbliebenen der gefallenen Vereinsmitglieder sowie der dem Verbande angehörenden durch den Krieg amtsuntauglich gewordenen Standesgenossen.
An die Stelle der einzelnen Provinz- bzw. Landesverbände trat später der Deutsche Lehrerverein mit einem gemeinsamen „Kriegerdank“.

Zu den verschiedenen öffentlichen Sammlungen für Zwecke der Kriegswohlfahrt trugen Stadt und Kreis Wittenberg in erfreulichem Maße bei.
Es ergaben die Sammlungen:
– 1. Für die Provinz Ostpreußen                                                      16 610,- M.
– 2. Für Verband und Erfrischungsstellen im Osten                   670,- M.
– 3. Für die Kaiser-Wilhelm-Spende deutscher Frauen    4 361,80 M.
– 4. Für die Nationalstiftung für die Hinterbliebenen
der im Kriege Gefallenen                                                                       8 804,- M.
– 5. Für den Verein „Ostpreußenbeihilfe“                                         550,- M.
– 6. Für die Volksspende für die deutschen Kriegs- u.     17 745,53 M.
Zivilgefangenen (Aus der Stadt Wittenberg allein              9 071,40 M.
– 7. U-Boots-Opfertag                                                                        15 218,06 M.
(Aus der Stadt Wittenberg                                                                 6 906,83 M.
– 8. Marine-Opfertag                                                                              7 398,97 M.  (Aus der Stadt Wittenberg allein                                                    3 046,77 M.   – 9. Für Soldaten u. Marineheime (am28.Januar1917)   11 198,75 M.
(Aus der Stadt Wittenberg allein                                                        2 502, – M.
– 10. Spende für Säuglingsschutz aus Stadt Wittenberg    2 330,34 M.
– 11. Für Soldatenheime an der Front am 27. Januar 1918
aus Stadt Wittenberg                                                                                  602,58 M.
– 12. Ludendorff-Spende für Kriegsbeschädigte
aus Stadt Wittenberg                                                                           29 562,27 M.

Auch von mehreren Firmen, Einzelpersonen und Vereinen wurden größere und kleinere Summen für Zwecke der Kriegswohlfahrt gespendet.
So gab die Kakao- und Schokoladenfabrik „Kant“ 10 000 M. für Kriegswohlfahrtszwecke,
die Firma Bourzutzschky Söhne  20 000 M. zur Unterstützung würdiger und bedürftiger Einwohner, Professor Dr. Schwarze
10 000 M. zur Unterstützung kinderreicher würdiger und bedürftiger Familien, namentlich solcher von Kriegsteilnehmern, die Seifenpulverfabrik zum gleichen Zwecke 6 500 M.

Am 8. November 1914 veranstaltete die „Berliner Liedertafel“
(100 Sänger) in der Stadtkirche ein Konzert, dessen Ertrag (1000 M.) zu Liebesgaben für die Truppen der Wittenberger Garnison bestimmt wurde.

Der hiesige „Straubesche Gesangverein“ gab mehrere Konzerte zum Besten von bedürftigen Angehörigen von Kriegern.

Zur Unterstützung von Kriegshinterbliebenen stiftete die Maschinenfabrik Wetzig 25 000 M.

  *   *  *

Während Deutschland infolge der Absperrung vom Weltverkehr einer belagerten Festung glich, in welcher der Mangel sich in steigendem Maße fühlbar machte, schritten unsere unvergleichlichen Heere von Sieg zu Sieg.
In der neuntägigen Winterschlacht in Masuren vom 7. bis 15. Februar 1915 vernichtete Hindenburgs überlegene Feldherrnkunst die 10. rusische Armee und nahm ihr über 100.000 Gefangene, darunter 7 Generale, über 150 Geschütze und unübersehbares Kriegsgerät ab.
Glockengeläut und wehende Fahnen verkündeten am 12. und 17. Februar das gewaltige Ereignis.

Zu gleicher Zeit verursachten die Erfolge unserer U-Boote unserem Hauptfeinde England wachsendes Unbehagen.
Da alle gegen die „U-Bootpest“ angewandten Mittel sich als unwirksam erwiesen, so griff die britische Admiralität zu einer sonderbaren Maßregel:
durch einen Geheimbefehl wurde den englischen Handelsschiffen anbefohlen, die englische Flagge, alle Reedereiabzeichen usw. zu entfernen und unter neutraler Flagge zu fahren.
So weit also war es mit dem „meerbeherrschenden Britanien“ gekommen, daß es auf dem Meere nicht mehr die eigene Flagge zu zeigen wagte.
In selbstverständlicher Gegenwehr erklärte die deutsche Admiralität vom 18. Februar ab die Nordsee im Kanal und an den Küsten Englands als Kriegsgebiet und ließ sich darin nicht durch das Drohen Amerikas beirren, das unter Bruch seiner Neutralität Deutschlands Feinden von Kriegsbeginn an Waffen und Munition lieferte.

Am 11. März verkündeten die Siegesglocken den gescheiterten Durchbruchsversuch der Franzosen in der Champagne, der diesen mehr als 45 000 Gefangene kostete, und in den letzten Apriltagen überschritten unsere Truppen in unaufhaltsamem Siegesmarsch den Yserkanal nördlich von Ypern, wobei sie 5 000 Gefangene machten: Engländer, Franzosen, Senegalneger, Turkos, Indier, Kanadier, Algerier – eine wahre Musterkarte von Völkern.
Das hiesige Gefangenenlager erhielt davon auch eine kleine Auswahl.

Bismards 100 jähriger Geburtstag (1. April) wurde am 31. März durch eine Vorfeier im Turnsaale des Mittelschulgebäudes festlich begangen.
Bürgermeister Dr. Schirmer begrüßte die Versammlung. Die Festrede hielt Superintendent Orihmann.
Dazwischen sangen die Schülerinnen des Lyzeums und der Frauenchor des Straubeschen Gesangvereins mehrere Lieder, und Schüler der verschiedenen Schulen trugen entsprechende Gedichte vor.

Anfang April brach im Gefangenenlager das Fleckfieber aus. Infolgedessen wurde dieses gegen das Publikum streng abgesperrt, und über Wittenberg die „Militärsperre“ verhängt, dh. die hier befindlichen Militärpersonen erhielten keinen Urlaub nach außen und umgekehrt Militärpersonen von außen keinen Urlaub nach hier.

Große Erregung herrschte seit dem Mittag des 3. Mai in unserer Stadt. Ohne daß man Genaueres anzugeben wußte, erhielt sich hartnäckig das Gerücht von einem großen Siege im Osten, bis um 5 Uhr nachmittags die Sonderblätter melden konnten, daß die verbündeten deutschen und österreichischen Truppen unter Führung des Generalobersten von Mackensen nach erbitterten Kämpfen die ganze russische Front in Westgalizien durchstoßen und eingedrückt hatten.
Die dabei errungene Kriegsbeute erhöhte sich bis zum 18. Mai auf 174 000 Gefangene, 128 Geschütze, 362 Maschinengewehre usw. Die sich zu neuem Widerstand sammelnden Russen wurden von Mackensen abermals in einer blutigen Schlacht am 24. Mai aufs Haupt geschlagen, wobei dem Sieger 153 Offiziere, 21 000 Mann als Gefangene, 39 Geschütze und 40 Maschinengewehre als Beute zufielen.
In Verfolgung dieser Siege wurden die von den Russen besetzten Städte Przemysl (2. Juni) und Lemberg (21. Juni) zurückerobert.
Alle diese herrlichen Siege wurden durch Glockengeläut, Hissen der Fahnen und Schulausfall gefeiert.

Schon seit Wochen verfolgte unsere Bevölkerung mit ganz Deutschland das von Habgier geleitete Verhalten des Bundesgenossen Italien, das immer mehr dem Kriege zutrieb, mit steigender Besorgnis.
Am Pfingstabend, den 22. Mai, erklärte Italien an Österreich-Ungarn den Krieg.
Die formelle Kriegserklärung an Deutschland erfolgte erst am 27. August gleichzeitig mit der Kriegserklärung Rumäniens an Österreich-Ungarn.
Das treulose Volk der Italiener durfte keinen Augenblick darüber im Zweifel sein, daß Deutschland Schulter an Schulter mit seinem Verbündeten diesen schmachvollen Treubruch rächen werde.
Der Stimmung, die diese Kriegserklärung, die hier am Pfingstsonntag durch Sonderblätter bekanntgegeben wurde, hervorrief, gibt das nachstehende Gedicht treffenden Ausdruck:

An Italien

Wir haben geschwiegen neun Monate lang
In stummer Verachtung, in staunendem Weh.
Nicht ein Laut durch die große Stille drang.
Wie Gewitterkrampf war’s auf dunkelnder See.
Nun fegte ein Wind die Schranken fort –
Und immer noch schweigen wir Tag um Tag.
Wir wissen: es kennt die Erde kein Wort,
Das euch ins Herz zu treffen vermag.
Die Welt ist tot, und die Sprache leer.
In den Wolken verhüllt sein Antlitz Gott.
Da gellt es aus weiter Ferne her,
Aus der tiefsten Tiefe: Ishariot!

Am 1. August 1915 lag das größte und gewaltigste Jahr der Weltgeschichte hinter uns.
Zur Feier dieses Gedenktages fand in der dichtgefüllten Stadtkirche ein Dank- und Betgottesdienst statt, bei dem Superintendent Orthmann im Anschluß an den 66. Psalm die Predigt hielt.
Mittags 12 Uhr gab die Kapelle des 1. Ersatzbataillons vom Infanterieregiment Nr. 20 auf dem Marktplatze ein Platzkonzert
– das erste seit Kriegsausbruch.

Warschau und Iwangorod!
Die Nachricht von der Einnahme dieser wichtigen Plätze, die am Nachmittag des 5. August eintraf, weckte auch in Wittenberg ein freudiges Echo. Gleich nachdem das Siegesgeläut der Stadtkirche erklungen war, hüllten sich die Straßen in Fahnenschmuck.
Am Abend trugen die vereinigten Männergesangvereine auf dem Marktplatze vaterländische Lieder vor.
Das Pfadfinderkorps (Jung- Deutschland- Bund) veranstaltete einen Umzug.

Eine bange Nacht voll Sorgen und Aufregung brachte der 11. August.
Kurz vor 9 Uhr abends ließ ein gewaltiger Donnerschlag die Häuser der Stadt erbeben. Türen und Fenster sprangen auf, an vielen Stellen zersprangen die Scheiben, und das Glas, namentlich der Schaufensterscheiben, fiel klirrend auf die Straße.
Den erschreckt aus ihren Wohnungen eilenden Bewohnern bot sich ein grausig schönes Schauspiel:
Am nordwestlichen Himmel schossen schwefelgelbe Flammengarben empor, untermischt mit schwarzen, wallenden Wolken, die sich in der Höhe immer weiter ausbreiteten.
In den mit Anspannung aller Kräfte arbeitenden Westfälisch- Anhaltischen Sprengstoffwerken bei Reinsdorf (gegründet 1891) hatte sich durch Überkochen die Pikrinsäure entzündet, und das Feuer sprang auf die benachbarten Räume über, in denen explosive Stoffe lagerten.
Der ersten Explosion folgten noch mehrere schwächere, die immer neue Flammenbündel emporschleuderten.
Die Signalhörner riefen das Militär zu den Kasernen.
Von da rückten die Mannschaften im Eilschritt ab, teils zur Absperrung und Hilfe an der Brandstätte, teils zur Verstärkung der Wachen in dem unruhig gewordenen Gefangenenlager.
Über die Entstehung des Brandes waren die abenteuerlichsten Gerüchte im Umlauf.
Fliegerbomben, Verrat und Attentate von Kriegsgefangenen spielten dabei eine hervorragende Rolle.
Die Erregung wuchs, als aus Piesteritz, Kleinwittenberg und Reinsdorf eine große Zahl von Flüchtenden eintraf.
Diese Leute – meist den Arbeiterkreisen angehörig – hatten eilig und kopflos ihre Kinder auf den Arm genommen oder in Kinderwagen und Handwagen gepackt, wenige Habseligkeiten in ein Bündel gestopft und waren dann, oft nur notdürftig bekleidet, geflohen. Allerdings waren auch in den genannten Orten die Wirkungen der Explosion noch schlimmer als in der Stadt selbst.
Vielfach wurden die Fenster samt ihren Rahmen herausgeschleudert und die Dächer beschädigt, Eisenteile wirbelten durch die Luft, und noch in Wittenberg rieselte der durch die Explosion hochgerissene Mörtel und Sand zu Boden. Selbst in weiter entfernten Orten, wie Pratau, Apollensdorf ua. wurden die Fenster eingedrückt. Erschütterung und Feuerschein machten sich weithin bemerkbar.
Die Aufregung in unserer Stadt erreichte ihren Höhepunkt, als das Gerücht verbreitet wurde, der „Ölberg“, das ist der Aufbewahrungsort für die Sprengöle, sei in Gefahr.
Wenn dieser, so hieß es, vom Feuer ergriffen werde, so sei Wittenberg verloren. Auf diese Mär hin verließen sogar hiesige Einwohner die Stadt, um im Freien zu übernachten.
Erst gegen Morgen erlosch die Feuersbrunst, und die erschreckten Gemüter beruhigten sich.

Da über den Umfang des Unglücks von den maßgebenden Stellen strenges Stillschweigen beobachtet und den beiden Ortszeitungen jede Mitteilung darüber untersagt wurde, so war den wildesten Gerüchten Raum gegeben.
Nach zuverlässiger Nachricht von eingeweihter Seite betrug die Zahl der Toten 56.
Unter dem ersten Eindruck des Unglüks legten zahlreiche Arbeter die Arbeit nieder, kehrten aber bald wieder zu dieser zurück, und da nur ein Teil des älteren Werkes in Mitleidenschaft gezogen war, so erlitt der Betrieb keine wesentliche Störung.

Eine zweite ähnliche Katastrophe ereignete sich am 10. November ber 1917 abends gegen 11 Uhr.
Auch diesmal wurde über Ursache und Umfang derselben strengstes Stillschweigen bewahrt und den Zeitungen außer einer nichtssagenden kurzen Notiz jede Mitteilung darüber untersagt. Nach der von unterrichteter Stelle gegebenen Auskunft be trug die Zahl der Toten 15 und die der Schwerverwundeten 30 bis 40.
Der Sachschaden an zertrümmerten Fensterscheiben und beschädigten Dächern war freilich in Wittenberg und den der Unglücksstelle benachbarten Orten noch umfangreicher und schwerer als bei der ersten Explosion.

In die durch jenes erste Ereignis hervorgerufene nachhaltige Erregung hinein, fiel am 18. August die Nachricht vom Fall der russischen Festung Kowno, die am 17. August von deutschen und österreichischen Truppen erstürmt wurde.
Es war die 16. Festung, die während des Weltkrieges in die Hand Deutschlands fiel, und die Zahl der feindlichen Gefangenen überschritt nunmehr die zweite Million.

Gleich nach Bekanntwerden der durch Sonderblätter verbreiteten Siegesnachricht stimmten die Kirchenglocken ihr Siegesgeläut an, und die Straßen hüllten sich in bunten Flaggenschmuck.
Am Abend von 8½ Uhr ab fand auf dem Marktplaze unter großer Beteiligung eine allgemeine Siegesfeier statt, bei welcher die Kapelle des Ersatzbataillons und die vereinigten Männergesangvereine „Polyhymnia“ und „Männergesangverein“ mitwirkten.
Die Ansprache hielt Bürgermeister Dr. Schirmer.
Während der Feier lösten die vor dem Schloßtore aufgestellten Geschütze einen Siegessalut von 10 Schüssen.
Bereits zwei Tage später, am 20. August, konnte die Eroberung der Festung Nowo-Georgiewsk durch eine ähnlich gestaltete Siegesfeier begangen werden.
Unter dem Eindruck dieser gewaltigen Erfolge fand die Nachricht, daß Italien – von England dazu gezwungen – der Türkei unter fadenscheinigem Grunde den Krieg erklärt, kaum Beachtung.
Umso größer war am 26. August der Jubel über den Fall des letzten russischen Bollwerks in Polen, der Festung Brest – Litowsk, der wieder durch eine Siegesfeier auf dem Marktplatze begangen wurde, bei welcher Lyzealdirektor Dr. Hertel die Ansprache hielt. Fielen doch im Monat August 1915 den Deutschen und ihren Verbündeten auf dem östlichen Kriegsschauplaze allein in die Hände über 2 000 Offiziere, 269 839 Mann, über 2 200 Geschütze und mehr als 560 Maschinengewehre.
Durch den Fall der Festung Luck am 1. September, der Festung Grodnow am 4. September und der Festung Wilna am 19. September wurde die Kriegsbeute erheblich vermehrt.
Dieser letztere Sieg wurde vom Männerturnverein und dem Kaufmännischen Turnverein am 20. September durch eine besondere Feier begangen.

Tage voll schwerer Sorge brachte die letzte Septemberwoche.
Acht Tage lang stürmten im Westen Engländer und Franzosen mit großer Übermacht und unter ungeheurem Geschoßhagel gegen die deutschen Linien, um diese zu durchbrechen.
Aber trotz der blutigen Riesenopfer, trotz der Anwendung von Gasgranaten und Stinkbomben und aller erlaubten und unerlaubten Mittel der Kriegsführung gelang es ihnen nicht, den festen Wall der todesmutigen deutschen Männer zu erschüttern, wenn freilich auch die Riesenschlacht diesen schwere Verluste zufügte.

Anfang Oktober kam auch auf dem Balkan der Stein ins Rollen. Bulgarien lehnte das Verlangen Rußlands, die Beziehungen zu den Mittelmächten abzubrechen, ab. Darauf verließen die Gesandten des Vierverbandes Bulgariens Hauptstadt Sofia.
Gleich darauf landeten englische und französische Truppen in der griechischen Hafenstadt Saloniki. König Konstantin protestierte zwar gegen diese Verletzung der Neutralität und entließ den den vierverbandsfreundlichen, kriegslüsternen Ministerpräsidenten Venizelos, aber der Vierverband beantwortete diesen Protest durch einen neuen Völkerrechtsbruch:
der französische General Saraille ließ die in Saloniki befindlichen Konsulate Deutschlands und seiner Verbündeten samt deren Personal verhaften und auf ein französisches Kriegsschiff bringen. Ein erneuter Protest der griechischen Regierung blieb gleichfalls wirkungslos. Im Gegenteil suchte die Entente das wehrlose Land durch vermehrten Druck, Abschneiden der Lebensmittelzufuhr usw. auf ihre Seite zu zwingen – ein Verlangen, dem König Konstantin entschieden Widerstand entgegensetzte.
Um den fortgesetzten Drangsalierungen zu entgehen, begab sich im September 1916 das vierte griechische Armeekorps unter deutschen Schutz und wurde nach Görlitz überführt.
Den Machenschaften der Entente gelang es schließlich, Venizelos wieder an die Spitze der griechischen Regierung zu bringen, der die Beziehungen zu den Mittelmächten abbrach.
Daraufhin verzichtete der charakterfeste König Konstantin im Juli 1917 auf den Thron zugunsten seines zweiten Sohnes und begab sich mit seiner Familie nach der Schweiz.

Bereits im Oktober 1915 rückten deutsche und österreichische Truppen in Serbien ein.
Auch unser Infanterieregiment Nr. 20 wurde von der Westfront dahin befördert und nahm an den Kämpfen ruhmvollen Anteil. Schon am 9. Oktober konnten die Sonderblätter die Einnahme der serbischen Hauptstadt Belgrad durch die Verbündeten melden, denen sich die Bulgaren anschlossen.
Bereits nach zwei Monaten war der Feldzug gegen die Serben beendet, nachdem die Hälfte ihrer Truppen gefangen und ihnen große Beute an Geschützen, Gewehren und anderem Kriegsmaterial abgenommen worden war.
Die traurigen Reste der serbischen Armee fluteten in wilder Unordnung teils über Montenegro nach Albanien, teils über die griechische Grenze.
Ein zur Hilfe geschicktes englisch-französisches Korps wurde gleichfalls vernichtend geschlagen und rettete sich, verfolgt von den tapferen Bulgaren, nach Saloniki.
Der Klang der Siegesglocken und Fahnenschmuck feierte auch in unserer Stadt am 1. Dezember die siegreiche Beendigung des serbischen Feldzuges.

Mittlerweile versuchten die Engländer unter französischer Mithilfe durch die Dardanellen gegen Konstantinopel vorzustoßen.
Der Versuch scheiterte kläglich an der Tapferkeit der Türken, die durch deutsche Marinesoldaten unterstützt wurden.
Nachdem diese den Feind Mitte Dezember 1915 bereits von einem großen Teile der Halbinsel Gallipoli vertrieben hatten, mußten die Engländer Anfang Januar 1916 nach Verlust ihres letzten Stützpunktes Seddul Bahr auf Gallipoli das mißglückte Dardanellenunternehmen aufgeben, daß ihnen über 5 Milliarden und mehrere ihrer besten Schiffe gekostet hatte.
Wenige Tage später erfüllte sich auch das Schicksal des vom Größenwahn besessenen Montenegro, nachdem dessen Hauptstadt Cettinje von österreichischen Truppen erobert worden war.

Ein bedauerlicher Unglücksfall ereignete sich am 26. Januar 1916 auf dem Teucheler Exerzierplatze.
Beim Sprengen von unbrauchbaren feindlichen Granaten wurden 11 Angestellte der hiesigen Munitionsanstalt verwundet, von denen 4 ihren Verletzungen erlagen.

Während im Osten unsere Truppen siegreich vorwärtsdrangen, wurden auch im Westen, namentlich gegen die Festung Verdun, große Erfolge errungen.
Am 26. Februar erstürmte das 24. Infanterieregiment das Panzerfort Donamont.
Glockengeläut und Fahnenschmuck feierte diese Siege, an denen auch unser Infanterieregiment Nr. 20 wieder ruhmvollen Anteil hatte, das in diesen Kämpfen leider schwere Verluste erlitt.

Nach dem Vorbild anderer Städte wurde auch in Wittenberg ein Kriegswahrzeichen genagelt.
Es besteht in einem Eisernen Kreuz als Füllung der Tür, welche den Eingang zum Stadtverordnetensitzungssaale nach dem Umbau des Rathauses bilden sollte. Die Tür trägt die Inschrift:

In eiserner Zeit dem Heere geweiht
Von Bürgern und Rat der Lutherstadt

und außerdem die Jahreszablen 1914 und 191(?).
Der Entwurf stammt von Professor Zeller, der auch die damaligen Pläne für den Rathausumbau anfertigte, der jedoch wegen Ungunst der Zeit bis zum Jahre 1926 verschoben werden mußte.
Zur Nagelung wurden 700 silberne Nägel (zu je 3 M.) und 3 000 eiserne Nägel (zu je 1 M.) vorgesehen.
Der Ertrag der Nagelung, der auf 5 000 M. geschätzt wurde, sollte ungekürzt der Nationalstiftung für die Hinterbliebenen der im Kriege Gefallenen zufließen.
Die Feier der Nagelung fand gleichzeitig mit der Feier der Übergabe des bisher städtischen Melanchthongymnasiums an den Staat am 31. März, nachmittags 4 Uhr, in dem Festsaale des Melanchthongymnasiums statt.
Nach dem Gesange des Altniederländischen Dankgebets richtete Bürgermeister Dr. Schirmer an die zahlreiche Versammlung eine Ansprache, in welcher er die Bedeutung beider Ereignisse eingehend würdigte.
Hierauf schlugen die Vertreter der Behörden und die geladenen Ehrengäste unter Weihesprüchen ihre Nägel ein, worauf Gymnasialdirektor Siebert der Stadt Wittenberg für das dem Gymnasium unter ihrer Verwaltung bewiesene Wohlwollen herzlich dankte. Unter dem Gesang von Schülern und Schülerinnen der sämtlichen hiesigen Schulen wurde dann die Nagelung fortgesezt. Infolge der ungeeigneten Unterbringung der Tür im Melanchthongymnasiums ging die Nagelung später nur sehr langsam vorwärts und wurde schließlich bei der Ungunst der Zeit gänzlich eingestellt.

Welche Kunstfertigkeit und welchen Geschmack in der Anfertigung von allerlei Gebrauchs- und Kunstgegenständen die in den Reservelazaretten befindlichen Verwundeten besaßen, davon legte die im „Jugendheim“ unter Leitung des Chefarztes der Reservelazarette, Oberstabsarzt Dr. Simons, veranstaltete Lazarettausstellung ein sprechendes Zeugnis ab.
Sie wurde am 31. März durch den Landrat von Trotha eröffnet und erfreute sich fortgesetzt eines zahlreichen Besuchs und reger Kauflust.

Zur besseren Ausnutzung des Tageslichts wurde am 1. Mai zum ersten Male die „Sommerzeit“ eingeführt.
Zu diesem Zwecke mussten am 30. April alle Uhren von 11 auf 12 Uhr nachts – also um eine Stunde – vorgerückt werden.
Bei den Landbewohnern stieß freilich diese Einrichtung auf vielfachen Widerstand, und viele blieben bei der alten Ordnung.

Am 29. April ergab sich die in Kutel Amara am Tigris eingeschlossene englische Truppenmacht – 5 Generale, 277 britische und 274 indische Offiziere nebst 13 300 Mann – den Türken.
Nach dem Eintreffen dieser Nachricht ertönten die Siegesglocken, und die Häuser schmückten sich mit Fahnen.
Am folgenden Tage fiel der Unterricht in den Schulen aus. Auf die gleiche Weise wurde der Sieg gefeiert, den unsere österreichischen Bundesgenossen unter Erzherzog Ferdinand Friedrich am 19. Mai über die verräterischen Italiener in Südtirol errangen, wobei den Siegern rund 24 000 Gefangene, darunter 482 Offiziere und 188 Geschütze in die Hände fielen.

Noch größer war der Jubel über den Sieg, den die deutsche Flotte am 31. Mai vor dem Skagerrak über die sich unbesiegbar dünkende englische Flotte errang.
Die Engländer verloren hierbei:
– 1 Großkampfschiff,
– Schlachtkreuzer,
– 4 Panzerkreuzer,
– 3 kleine Kreuzer,
– 12 Torpedoboote,
– 17 Schiffe mit 120 100 t Rauminhalt,
während die deutschen Verluste betragen:
– 1 Schlachtkreuzer,
– 1 älteres Linienschiff,
– 3 kleine Kreuzer und
– 5 Torpedoboote.

Als Friedenswerk mitten im Kriege fand am 18. Jull in Gegenwart des Oberpräsidenten von Hegel und vor einem Kreise geladener Personen die Einweihung des Erweiterungsbaues der Lutherhalle statt.

Der im dritten Kriegsjahre immer fühlbarer werdende Mangel an Lebensmitteln reifte verschiedene Maßnahmen.
So schlossen Wittenberger, Kleinwittenberger und Piesteritzer Kaufleute im Juli eine Vereinigung zum gemeinsamen Bezug von Lebensmitteln. Auf Beschluß der beiden städtischen Behörden trat die Stadt dieser mit einer Einlage von 10 000 M. bei.
Die Vereinigung dehnte später ihre Tätigkeit auf den ganzen Kreis Wittenberg aus.

Mit der mangelhaften Versorgung, namentlich der städtischen Bevölkerung, mit Nahrungsmitteln bzw. den dabei gemachten Fehlern wurde der Wechsel im Landratsamt in Verbindung gebracht. Der bisherige Landrat von Trotha wurde als Regierungsrat nach Hildesheim versetzt. An seine Stelle trat der bisherige Landrat des Kreises Rummelsburg (Pommern), von Trebra.

Die zweideutige Haltung Rumäniens hatte schon seit langem schwere Bedenken erregt. Unter Missachtung der bestehenden Verträge, getrieben von Habsucht und angestachelt durch unsere Feinde erklärte dieses am 27. August an Österreich- Ungarn den Krieg, was deutscherseits mit der Kriegserklärung an Rumänien beantwortet wurde.
Gleichzeitig brachten die Sonderblätter die Nachricht, daß nunmehr Italien auch an Deutschland offen den Krieg erklärt habe.
Nach dem Treubruche des ehemaligen Bundesgenossen wirkte diese Kriegserklärung wie eine Posse und blieb ohne Eindruck, da sie ja an dem bereits bestehenden Zustande nichts änderte.

Glockengeläut und wehende Fahnen konnten bereits am 30. September den ersten großen Sieg verkünden, den die verbündete deutsch- österreichische Armee bei Hermannstadt in Siebenbürgen gegen die Rumänen errang.
Überraschend schnell erfüllte sich das verdiente Schicksal dieses Landes.
Bereits am 6. Dezember wurde die Hauptstadt Bukarest von deutschen und österreichischen Truppen besetzt.
In unserer Stadt fand die Freude über diesen Erfolg am 7. Dezember durch Siegesgeläut, Fahnenschmuck, Sieges schießen der Artillerie und ein Platzkonzert auf dem Marktplatze Ausdruck.

In Ausführung einer Verordnung des Generalkommandos verbot die hiesige Polizeiverwaltung vom 11. März 1916 an das ziellose Auf- und Abgehen (den beliebten „Bummel“) sowie den zwecklosen Aufenthalt der Jugendlichen unter 18 Jahren auf dem Marktplatze und den namentlich aufgeführten Straßen der Stadt nach 6 Uhr nachmittags. Ebenso wurde diesen nach Eintritt der Dunkelheit ohne Begleitung der Eltern, Erzieher oder deren Vertretern der Aufenthalt in öffentlichen Lokalen, Anlagen, Plätzen usw. verboten.

Um Füllmaterial für die Lagerstätten der Soldaten zu schaffen, fand am 13. und 14. März 1916 durch die Schüler der hiesigen Schulen eine Sammlung von Druckpapier statt. Die Sammelstelle in der zur Hilfskaserne eingerichteten Knaben- Bürgerschule reichte nicht aus, die Menge des Gesammelten zu fassen, sodass der Keller des Melanchthongymnasiums zu Hilfe genommen werden musste.
In der Provinz Sachsen betrug die Menge des durch die Schüler gesammelten Druckpapiers insgesamt 727 300 kg.

Für die gewaltige Ausdehnung des Weltkriegs spricht die Tatsache, daß bis zum 9. März 1916 nicht weniger als 26 Kriegserklärungen Deutschland und seine Bundesgenossen erfolgt waren und bis zum 26. November dieses Jahres auf 32 anwuchsen.

Wittenberg war während der Dauer des Krieges ein großes Heerlager.
Fortgesetzt rückten hier die aufgebotenen Mannschaften ein, um nach schneller Ausbildung ins Feld geschickt zu werden.
Nach dem Ausrücken der aktiven Garnisontruppen wurden hier die entsprechenden Ersatzbataillone aufgestellt, zunächst drei des 20. Infanterieregiments (einschl. Reserve und Landwehr),
dazu die 2. Ersatzbatterie vom Feldartillerieregiment Nr. 74,
ferner ein 2. Ersatzbataillon des 20. Infanterieregiments,
das Landsturmbataillon IV/27 (zur Bewachung des Gefangenenlagers) und das Artillerie-Reserve Regiment Nr. 49. Zeitweilig betrug der Truppenbestand in Wittenberg 8 000 Mann.

Anfang des Jahres 1916 griff man bereits auf die 19 jährigen zurück. Am 11. März rückten rund 60 Mann der hiesigen Neunzehnjährigen zum Bahnhofe, um nach ihrer Ausbildungsgarnison befördert zu werden. Die Trommler- und Pfeiferabteilung der hiesigen Jugendkompagnie Nr. 496 gab ihnen bis zum Bahnhofe das Geleit. Am 22. März zogen 1 000 Mann hier gesammelte Mannschaften nach der Ostfront aus.
Am 24. März folgten 1 500 Mann – meist ältere Leute, und die Ersatzmannschaften des Artillerieregiments Nr. 74,
denen am 29. März die Ersatzmannschaften des Infanterieregiments Nr. 57 folgten.
Diese Truppen-Ausmärsche dauerten in den folgenden Monaten unvermindert fort.

Um mit dem Zucker zu sparen, verbot die Schulabteilung der Regierung in Merseburg den Lehrern und Eltern, den in die Schule eintretenden Kindern die übliche „Zuckertüte“ zu geben.

Die steigende Lebensmittelnot, die wiederholt die Stadtverordnetensitzungen beschäftigte, führte dort am 24. Oktober zu einer besonders erregten Aussprache.
Insbesondere wurde es verurteilt, daß der Kreis Wittenberg für die Industriebezirke Essen, Mörs und Bochum 10 000 Zentner Kartoffeln liefern musste, während die Stadt Wittenberg selbst daran Not litt.
Ursprünglich war sogar die Lieferung von 580 000 Zentnern gefordert, und erst auf die Vorstellungen des Landrats von Trebra wurde diese Forderung auf 10 000 Zentner ermäßigt.
Viel Unwillen herrschte auch darüber, daß die von der Stadt Wittenberg in Holland für 43 000 M. gekauften Lebensmittel (Heringe, Räucherfische, Käse, Marmelade) von der Zentral-Einkaufsgenossenschaft beschlagnahmt und nach dem Westen geschickt wurden.
Scharf verurteilt wurde es auch, daß trotz Kundenliste und Fleischkarte die Bewohner stundenlang in Regen und Kälte vor den Fleischerläden stehen mussten.

Die Lebensmittelnot hatte die üble Folge, daß die Diebstähle und Einbrüche sich ständig mehrten.
Begünstigt wurde dieses lichtscheue Treiben dadurch, daß vom 19. November ab die Straße Straßenbeleuchtung wegen Kohlenmangel eingestellt wurde und in sämtlichen Haushaltungen, Kontoren und Werkstätten nur bis 10 Uhr abends Gaslicht, gebrannt werden durfte. Ebenso war jegliche Beleuchtung der Schaufenster mit Gas oder Elektrizität untersagt.

Glockengeläut und Fahnenschmuck feierte am 4. Dezember den Sieg über die rumänischen Truppen bei Argesul.

Viel Kopfschütteln erregte der von den Regierungen Deutschlands und Österreich-Ungarns gefasste Beschluß, aus den Russland entrissenen polnischen Gebieten einen selbständigen Polenstaat mit erblicher Monarchie und konstitutioneller Verfassung zu machen.
Zum Danke für diese Fürsorge entpuppte sich nach Deutschlands Niederlage das befreite Polen als der schlimmste Feind seines Befreiers, der weite deutsche Gebiete uns entriss.

1917

Überaus trübe war die Lage unseres Volkes und unserer Stadt beim Eintritt in das neue Jahr 1917.
Die Feinde wiesen das von der deutschen Regierung Anfang Dezember 1916 durch Vermittlung der neutralen Regierungen gestellte Friedensangebot unter den üblichen Beschimpfungen zurück. In ihrer Antwort gaben sie unverhüllt ihre Kriegsziele bekannt, die nichts weniger bedeuteten, als eine Zerstücklung Deutschlands.
Als Gegenantwort eröffnete dieses am 1. Februar den verschärften U-Bootskrieg, was Amerika Anlass gab, am 5. Februar mit Deutschland die diplomatischen Beziehungen abzubrechen.
Durch England getrieben folgte am 26. März auch China diesem Beispiele.
Am 5. April erfolgte die formelle Kriegserklärung Amerikas.

Die Lebensmittelnot stieg aufs höchste.
Die Lebensmittel waren fast sämtlich „rationiert“, aber was man gegen Marken oder Kontrollbuch erhielt, war bei weitem nicht ausreichend, um satt zu machen. Was aber noch im freien Handel oder „unter der Hand“ zu erlangen war, dafür wurden Wucherpreise gefordert. Zu alledem war die Kartoffelernte schlecht ausgefallen, sodass man als Ersatz zu Kohlrüben greifen musste.
Der „Kohlrübenwinter“ 1917 wird noch lange in traurigem Gedächtnis stehen.
Wenn auch jetzt wieder die Angriffe auf die Gemüsegärtner und Landwirte nicht verstummen wollten, so muss man diesen doch andererseits Gerechtigkeit widerfahren lassen und darf die schwierige Lage nicht übersehen, in welcher sich diese wichtigen Berufe befanden: die Männer waren vielfach zum Kriegsdienst eingezogen, und die Frauen waren gezwungen, den Wirtschaftsbetrieb mit unzureichenden Hilfskräften – weiblichen Arbeitskräften und Kriegsgefangenen – aufrecht zu erhalten.
Das unter den so geschaffenen Verhältnissen sich Missstände herausbildeten, die in normalen Zeiten unmöglich gewesen wären, und für die man die Eigentümer selbst nicht ohne weiteres verantwortlich machen darf, liegt auf der Hand.
Jedenfalls muss anerkannt werden, daß die genannten Berufe sich redlich mühten, die so lebenswichtigen Betriebe aufrecht zu erhalten.
Auch darf nicht unerwähnt bleiben, daß die Verbraucher vielfach unerfüllbare Forderungen stellten und für die schwere Lage der Landwirte und Gemüsebauer nicht immer das nötige Verständnis zeigten.

Groß war der Mangel auch an Bekleidung.
Haltbare wollene Kleiderstoffe waren kaum noch zu haben; die „Kriegsware“ aber war trotz ihres hohen Preises in kurzer Zeit unansehnlich und abgenutzt.
Für die meisten Kleiderstoffe und Kleidungsstücke musste ein „Bezugsschein“ beigebracht werden. Nur Samt und Seide waren noch ohne diesen zu haben. Daher sah man die Frauen – auch die aus minderbemittelten Kreisen – zahlreich in Samt und Seide gehen.

Der andauernde Kohlenmangel machte sich in den Haushaltungen bitter bemerkbar. Er nötigte die Schulen zu einer Verlängerung der Weihnachtsferien und nach Wiederbeginn des Unterrichts zu einer Beschränkung desselben.
Vom 5. bis 17. Februar wurden die Schulen aus diesem Grunde abermals geschlossen und von da ab der Unterricht des Gymnasiums und des Lyzeums in das Gebäude der Mädchenbürgerschule verlegt, in dem bereits die Knabenbürgerschule untergebracht war.

Um das Maß der Leiden voll zu machen, trat Anfang Februar eine strenge Kälte ein, das Thermometer zeigte zeitweise -25° C. Der Frost drang in die nicht genügend gedeckten Kartoffel- und Rübenmieten und selbst in die Keller ein und verdarb die Früchte. An zahlreichen Bäumen sprang die Rinde bis auf das Kernholz auf.

Als Begleiter des Krieges stellte sich Anfang Februar ein unheimlicher Gast ein:
die schwarzen Pocken, die zuerst in einer Baracke des Stickstoffwerks bei den dort hausenden kriegsgefangenen Belgiern zum Ausbruch kamen. Um einer Weiterverbreitung der Seuche vorzubeugen, mussten sich die Einwohner der Stadt und der Vororte einer Schutzimpfung unterziehen.
Dank der Sicherheitsmaßnahmen beschränkten sich die Erkrankungen in unserer Stadt auf wenige Fälle.

Die Not der Zeit hatte bedauerlicher Weise auch allerhand sittliche Schäden im Gefolge. Neid und Missgunst gegen jene, die im Besitz von Lebensmitteln waren, machte sich breit.
Nicht selten kam es vor, daß Nachbarn einander zur Anzeige brachten, wenn der andere auf verbotener Weise in den Besitz von Lebensmitteln gelangt war.
Einbrüche und Diebstähle nahmen überhand.
Empörend für das deutsche Empfinden war es, daß schamlose Frauen und Mädchen sich fanden, die verbotene Beziehungen zu Kriegsgefangenen unterhielten.

Vom 16. bis 24. Januar fand im ehemaligen Refektorium des Lutherhauses eine Ausstellung von Entwürfen und Vorbildern für Kriegerehrungen in Kirchen und auf Friedhöfen statt.
Bei der Eröffnung hielt Pfarrer Brathe aus Wansleben einen Vortrag über Kriegsdenkmäler.

Am 11. März fand der vom Evangelischen Oberkirchenrat angeordnete allgemeine Kriegsbettag statt.
In der dichtgefüllten Stadtpfarrkirche predigte Superintendent Orthmann über den Text Römer 8 V. 35:
„Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes?“

Die am 15. Februar erfolgte Bestandsaufnahme an Brotgetreide hatte ergeben, daß gegenüber der Ernteschätzung 1 200 000 Tonnen fehlten. Wir würden daher nur noch bis zum 15. Mai Brot und bis Ende April Kartoffeln gehabt haben.
Der Fehlbetrag wurde damit erklärt, daß große Vorräte an Getreide und Kartoffeln verheimlicht worden seien.
Die Regierung ließ daher bekannt machen, verheimlichte Vorräte bis zum 15. April unter Zusicherung von Straflosigkeit anzugeben. Nach dieser Zeit sollten durch ortsfremde Kommissionen in den Gehöften unter militärischer Begleitung Nachforschungen abgehalten werden. Unangemeldete Vorräte wurden ohne Entschädigung weggenommen und die Eigentümer bestraft.

Der Lebensmittelmangel führte in verschiedenen Großstädten zu Unruhen, die sich fortlaufend wiederholten.
In Berlin trat ein Teil der Rüstungsarbeiter in einen mehrtägigen Streik ein.

In der Stadtverordnetensitzung vom 17. April wurden für den Kriegsfond (für Unterstützungen usw.) zum dritten Male 10 000 M. bewilligt.

In der gleichen Sitzung wurde beschlossen, dem Regierungspräsidenten von Gersdorff wegen seiner Verdienste um die Erweiterung und Ausgestaltung der Lutherhalle das Ehrenbürgerrecht der Stadt Wittenberg zu verleihen.

Am 21. Juni wurde in Halle die hundertjährige Jubelfeier der Vereinigung der Wittenberger Universität mit der Halleschen Hochschule festlich begangen. Bei diesem Anlass wurden Superintendent Orthmann und der Direktor unseres Predigerseminars Jordan zu Ehrendoktoren ernannt.

Mit dem 1. Juli begann die neueingerichtete Kurrende ihre Tätigkeit. Sie bestand aus 20 Knaben, die unter Leitung des Lehrers Noack allsonntäglich im Sommer vor und im Winter nach dem Hauptgottesdienste auf Plätzen und in den Höfen geistliche Lieder sangen.
Dem Leiter wurde eine monatliche Entschädigung von 60 M. und jedem Knaben eine solche von 3 M. gezahlt.
Für die Einrichtung stiftete Kaufmann Friedrich 1 000 M., die Kirchenkasse gab einen fortlaufenden Beitrag, der zunächst 1 500 M. betrug und 1918 auf 1 750 M. erhöht wurde.
Leider ging die Kurrende nach wenigen Jahren infolge der Ungunst der Zeit wieder ein.

Da die letzte Bestandsaufnahme über die Schuhwaren ein erschreckend niedriges Ergebnis zeitigte, so ermahnte der Magistrat in einer Bekanntmachung vom 7. Juli die Bevölkerung eindringlich, während der warmen Jahreszeit barfuß oder barfuß in Holzsandalen zu gehen, um so Ersparnisse zu erzielen.

Im Osten hatten die Russen erneut mit großer Macht angegriffen, wurden aber von den deutschen und verbündeten Truppen zurückgeschlagen, die Czernowitz zurückgewannen.
Aus diesem Anlass läuteten am 3. August wieder die Siegesglocken und es wurde Siegessalut geschossen.
Die von Franzosen und Engländern in Flandern zur Entlastung der Russen am 31. Juli begonnene gewaltige Offensive brach nach vier Tagen durch die Tapferkeit der deutschen Truppen zusammen.

Am 14. August bewilligte die Stadtverordnetenversammlung rückwirkend vom 1. April den städtischen Beamten und Angestellten eine Kriegsteuerungszulage von 10 Prozent des Gehaltes und eine Kinder-Zulage, die für jedes Kind bis zum 18. Lebensjahre monatlich 10 M. betrug.

In der gleichen Sitzung wurden 100 000 M. für die notwendig gewordene Erweiterung des Wasserwerks bewilligt.

Dem Bürgermeister Dr. Schirmer wurde wegen seiner Verdienste um die Stadt Wittenberg der Titel Oberbürgermeister verliehen.
Die Ernennungsurkunde wurde ihm am 23. August in der hierzu anberaumten Stadtverordnetensitzung vom Regierungspräsidenten D. von Gersdorff feierlich überreicht.

Der 70. Geburtstag unseres Volkshelden des Generalfeldmarschalls von Hindenburg am 2. Oktober wurde von den Schulen und zahlreichen Vereinen festlich begangen.
Am Abend des 2. Oktober veranstaltete das Garnison Kommando in der Reitbahn der neuen Artilleriekaserne, die durch sinnigen Schmuck in einen Festraum umgewandelt worden war, eine öffentliche Festversammlung.
Im ersten Festvortrag feierte der Garnisongeistliche Pfarrer Herrmann „Hindenburg als Mensch“ und im zweiten Festvortrag Leutnant Schinlauer „Hindenburg als Soldat“.
An der Ehrengabe der Städte der Provinz Sachsen für den Generalfeldmarschall von Hindenburg beteiligte sich die Stadt Wittenberg mit 2 000 M .

Am 22. Oktober beging der hiesige Kriegerverein die Feier seines 50 jährigen Bestehens unter der Beteiligung von hiesigen und auswärtigen befreundeten Vereinen durch einen Festgottesdienst in der Schlosskirche und einer Festfeier im Saale des „Goldenen Stern“.

Das vierte Reformationsjubiläum

Reformationsjubiläum im Weltkriege!

Nie wird Wittenberg diesen festlichen und doch so ernsten, wehmütigen 31. Oktober 1917 vergessen. Ohne den Krieg hätte sich dieser Tag ganz gewiss zu einer glanzvollen Feier des gesamten evangelischen Deutschlands, ja der gesamten evangelischen Welt in den Mauern der Lutherstadt gestaltet. So aber verschlang die ereignisschwere Gegenwart die große geheiligte Vergangenheit. Alles, was protestantische Herzen von diesem Tage erhofft, worauf sich das evangelische Deutschland und vor allem die Stadt Wittenberg seit Jahren gefreut hatten, mußte in dieser schweren Notzeit unterbleiben.
Hunderttausende von deutschen Männern draußen im Felde, die Heimat in schwerstem Mangel und in rastloser Kriegsarbeit;
in die Gedenktage hinein donnerten die Kanonen der 12. Isonzoschlacht, und an die Front im Westen krachte unaufhörlich der mordende Eisenhagel – wo sollte da die Stimmung herkommen für eine große nationale Reformationsjubelfeier in Wittenberg!

So konnte das 4. Reformationsjubiläum in der Geburtsstadt der Reformation nur im schlichten Rahmen einer lokalen Feier begangen werden. Trotz alledem aber war diese überaus würdig und eindrucksvoll und ist nicht ohne reichen Segen geblieben.

Weite Kreise der Bürgerschaft taten sich zusammen, um in monatelanger Arbeit die Feier vorzubereiten.
Diese Vorbereitung sollte innerlicher und äußerlicher Art sein. Zu diesem Zwecke wurde ein Ausschuß gebildet, der es sich zur Aufgabe stellte, eine fortlaufende Reihe volkstümlicher aber auf wissentschaftlicher Grundlage beruhender öffentlicher Vorträge durch namhafte auswärtige Redner zu veranstalten.
Diese, Vorträge waren:
– am 6. Juni: „Wie wurde Luther zum Reformator?“ Prof. D. Loofs –  Halle
– am 19. Juni: „Luthers Geist in Bachscher Musik.“ Pfarrer Werner – Dessau
– am 3. September: „Luthers Persönlichkeit.“ Superintendent D. Buchwald – Rochlitz
– am 24 September: „Luthers Einfluß auf die Volksbildung.“ Professor D. Rein -Jena
– am 11. bis 13. Oktober: „Luther und die bildende Kunst seiner Zeit.“ (Lichtbildervortrag) Professor D. Schubring – Berlin
– am 14. November: „Was kann Luther heute dem deutschen Volke sein?“ Professor Dr. Eucken -Jena.

Die Vorträge fanden in der dichtgefüllten Stadtpfarrkirche statt, mit Ausnahme des Lichtbildervortrages, der an drei Abenden nacheinander in dem jedesmal vollbesetzten Festsaale des Melanchthongymnasiums gehalten wurde.

Der inneren Vorbereitung dienten auch die Veranstaltungen, die von größeren evangelischen Verbänden im Laufe des Jahres in Wittenberg veranstaltet wurden. Ihre Zahl wäre noch größer gewesen, wenn nicht die infolge des Krieges bestehenden Verpflegungs- und Unterkunftsschwierigkeiten unüberwindliche Hindernisse bereitet hätten.

Am 26. Juni hielt der Hauptverein der Gustav.-Adolf-Stiftung für die Provinz Sachsen hier seine 73. Hauptversammlung ab, zu der 52 Vertreter der Zweigvereine aus allen Teilen der Provinz erschienen waren. Im Festgottesdienste der Stadtpfarrkirche predigte Professor D. Hilbert – Rostock über
„Die Größe der Gottesgabe der Reformation und die Aufgabe des Gustav-Adolf-Dienstes,“ während in der Avendversammlung Stadtpfarrer Orendi aus Broos bei Hermannstadt (Siebenbürgen) über „Siebenbürgische Kriegserlebnisse und -nöte“ sprach.
Als Festgabe konnten dem Verein 6 590 M. überreicht werden.

Am 2. September traf der Berliner Verband evangelischer Jungfrauenvereine in einer Stärke von 1 700 Mitgliedern hier ein.
Im Festgottesdienst in der Stadtpfarrkirche hielt der Leiter des Verbandes, Pfarrer Thiele – Berlin, die Predigt.

Am Abend dieses Tages veranstaltete der hiesige Zweigverein des Evangelischen Bundes in der Stadtpfarrkirche eine Sedan- und Tannenbergfeier, in welcher Pfarrer Ungnad – Berlin den Festvortrag hielt über das Thema:
– 1517
– 1870
– 1917 – drei Akte des deutschen Reformationsdramas.“

Am 14. September hielt der Deutsche Pfarrertag in Wittenberg eine Festtagung ab, mit der zugleich die Feier seines 25 jährigen Bestehens verbunden war.

Die genannten Veranstaltungen übertrafen an Größe und Bedeutung eine andere, die zugleich eine Vorfeier des Reformationsjubiläums bildete:
die vom Zentralvorstand des Evangelischen Bundes am 9. Oktober veranstaltete Reformationsfeier, mit der zugleich das Jahresfest des Hauptvereins der Provinz Sachsen verbunden war.
Neben den Mitgliedern des Zentralvorstandes waren hierzu die Vertreter sämtlicher Hauptvereine erschienen, so daß bei dieser Feier alle deutschen Stämme und Gaue vertreten waren.

Die öffentliche Feier begann mit einem Festzuge, der sich um 4 Uhr nachmittags unter dem Vorantritt einer Militärkapelle von der Stadtpfarrkirche aus nach dem Marktplatze begab, wo er vor den Denkmälern der Reformatoren Aufstellung nahm.
Nach einer markigen Ansprache des Bundesdirektors D. Everling –  Berlin legte dieser im Namen des Gesamtbundes und hierauf 40 Abgeordnete der Hauptvereine unter Weihesprüchen an den Denkmalsstufen Kränze nieder.
Unter dem Geläute aller Glocken begab sich der Festzug sodann zur Schloßkirche.
In dem unter Mitwirkung des Reformationskirchenchors liturgisch reich ausgestalteten Festgottesdienste predigte Generalsuperintendent D. Stolte – Magdeburg im Anschluß an
Röm. 8, 15 über den furchtlosen Geist der Kinder Gottes.
Am Schluß des Gottesdienstes wurden an den Gräbern Luthers und Melanchthons Kränze niedergelegt.
In der am Abend in der Stadtpfarrkirche stattfindenden Festversammlung hielt Geh. Konsistorialrat D. Scholz – Berlin den Hauptvortrag über „Die Bedeutung der Reformation für die Vertiefung unseres religiösen Lebens.“

Je näher der eigentliche Festtag kam, desto mehr trat neben diese innerliche Vorbereitung auch die äußere.
Bereits am 8. Januar hatte der Gemeindekirchenrat einen Ausschu zur Vorbereitung des Jubelfestes gewählt, der im Juni durch die Vertreter des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung erweitert wurde, und dem später noch mehrere andere Personen beitraten.

Anfang Oktober hatte der Festausschuß die Vorbereitungen der Reformations-Jubelfeier beendet und das endgültige Programm derselben aufgestellt, das nun zugleich mit dem Einladungsschreiben an die in Betracht kommenden Behörden und Personen gesandt wurde.

Auf die gleichzeitig ausgesprochene Bitte hin erklärten sich sämtliche hiesige Behörden, Banken und die meisten Geschäftsinhaber bereit, während des ganzen Festtages ihre Dienstzimmer und Geschäftsräume zu schließen, so daß dem 31. Oktober auch nach außen hin der Charakter eines allgemeinen Festtages gegeben wurde.

Aber nicht nur mit Worten wollte die Lutherstadt die Großtat der Reformation feiern, sondern auch durch die Tat ihre Anteilnahme bekunden.
Die Stadtgemeinde Wittenberg gab zu der Reformationsjubelspende einen Beitrag von 20 000 M. und die kirchlichen Körperschaften einen solchen von 5 000 M. mit der Bestimmung, diese dem Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß zum Zweck des Wiederaufbaues der durch den Krieg geschädigten deutschen evangelischen Kirchengemeinden, insbesondere in den Schutzgebieten und dem Auslande, zu übergeben.
Außerdem wurden von der Kirchengemeinde noch folgende Spenden bewilligt:
– 300 M. für den Gustav Adolf Verein,
– 300 M. für den Evangelischen Bund,
– 300 M. für die Lutherhalle,
– 100 M. für die Pfarrtöchterstiftung.
Außerdem wurde beschlossen, den im Felde stehenden Gemeindegliedern Grüße und Schriften zum Reformationsfeste zu übersenden und an die Kinder im Kindergottesdienste sowie an die Konfirmanden und an die Kinder in den Landschulen Lutherbüchlein auf Kosten der Kirchengemeinde zu verteilen.
Nachträglich errichteten die kirchlichen Körperschaften noch eine Reformationsstiftung in Höhe von 10 000 M. für Zwecke der Kirchengemeinde.

Für die musikalische Ausgestaltung der Jubelfeier wurde der Straubesche Gesangverein zu einem selbständigen Kirchenchor von 91 Mitgliedern erweitert, der unter der Leitung des Kgl. Musikdirektors Straube monatelang für die Festgesänge eifrig übte. Daneben wurde – wie bereits berichtet die Kurrende wieder errichtet.

Für die Feier wurde ein mit künstlerischem Buchschmuck reich ausgestattetes Festbuch hergestellt, das den Gang der Feier, Wortlaut und Weise der Festgesänge enthielt.

So war seitens der Lutherstadt Wittenberg alles getan, was in ihren Kräften stand, um die 4. Reformationsjubelfeier auch im schlichten Rahmen einer örtlichen Gemeindefeier doch würdig der großen, schöpferischen Tat Luthers zu begehen.

Die Jubiläumswoche wurde durch einen „Vorbereitungsgottesdienst“ am Sonntag, den 28. Oktober, in der Stadtpfarrkirche eingeleitet, bei welchem Pfarrer Knolle im Anschluß an Röm. 10, 4 über „Luthers Kampf und Sieg“ predigte.
Am Abend fand in der festlich geschmückten Turnhalle des Mittelschulgebäudes eine Vorfeier für die evangelische männliche Jugend statt.
Die erste Festansprache hielt Pfarrer Lic. Dr. Dibelius – Berlin über „Evangelische Jugend und evangelische Freiheit,“
die zweite Festansprache der Provinzialjugendpfleger Pfarrer Klaer – Magdeburg über „Evangelische Jugend und evangelische Pflicht.“ Die Vorträge wurden von Gedichten und Gesang umrahmt.
Den Abschluß bildete die Aufführung des Lutherfestspiels,
„Der 31. Oktober 1517 in Wittenberg“ von Elisabeth Malo, dargestellt von Mitgliedern der evangelischen Jugendvereine in Wittenberg und Friedrichstadt.

Seit Tagen waren viele fleißige Hände tätig gewesen um der Lutherstadt zu ihrem Ehrentage ein festliches Gewand zu geben. Besonders reichen Festschmuck von Tannengrün und Fahnen trugen natürlich die Erinnerungsstätten der Reformation, aber auch viele öffentlichen Gebäude und Bürgerhäuser, namentlich in der Collegien-, Schloß-, Coswiger- Straße und am Marktplatz waren reich geschmückt.
Vor der Front des Rathauses standen vier weiße mit Blattpflanzen gekrönte Obelisken, die mit sechs Fahnenmasten abwechselten, welche durch Tannengewinde miteinander verbunden waren.
Das Rathaus selbst war ebenso wie die beiden Denkmäler der Reformatoren mit Tannengrün reich geschmückt, und überall wehten die Fahnen in den deutschen, preußischen und städtischen Farben. Ähnlichen Festschmuck trugen Lutherhaus, Augusteum, Melanchthonhaus, Fridericianumkaserne und Bugenhagenhaus sowie die Portale der Stadtpfarrkirche, die Thesentür der Schloßkirche und die Pfarrhäuser an der Jüdenstraße und am Kirchplatz.
Um 4 Uhr nachmittags setzten machtvoll die Glocken der Stadtpfarrkirche und der Schloßkirche ein, die das Fest einläuteten. Als ihre feierlichen Klänge verhallt waren, erscholl vom Turm der Stadtpfarrkirche das Blasen von Lutherchorälen, das vom Bläserchor des 20. Infanterieregiments ausgeführt wurde, dessen Kapelle zur Mitwirkung bei der Jubiläumsfeier eigens aus dem Felde beurlaubt worden war.

Währenddem sammelte sich eine zahlreiche andächtige Gemeinde zur Abendmahlsfeier an den Gräbern der Reformatoren in der Schloßkirche, bei der Pfarrer Herrmann die Beichtrede über den 130. Psalm hielt.
Abends 8 Uhr öffneten sich die Pforten der Schloßkirche abermals zur Liturgischen Vorfeier.
Sie wurde von Pfarrer Knolle gehalten und brachte den Thesenanschlag in Wort und Lied zur Darstellung.

Das volle Geläut der Glocken der Schloßkirche und Stadtpfarrkirche und die Klänge der Lutherchoräle von den Türmen der letzteren leiteten am 31. Oktober früh 7 Uhr den eigentlichen Festtag stimmungsvoll ein.
Vor der Thesentür der Schloßkirche ließ die neugegründete Kurrende Lutherlieder erschallen.
Die erste gottesdienstliche Feier des Festtages war der um 8 Uhr vormittags in der Stadtpfarrkirche beginnende Kindergottesdienst, der von Pfarrer Doden geleitet wurde.

Unterdessen sammelten sich im Hofe des Lutherhauses die Scharen zum gemeinsamen Kirchgang. Ihn eröffneten die Konfirmanden, dann folgten die Pfarrer, an ihrer Spitze die Direktoren des Predigerseminars, die Vertreter der Behörden:
– des Evangelischen Oberkirchenrats zu Berlin,
. des Konsistoriums zu Magdeburg,
– der Regierung zu Merseburg,
dann die Ehrengäste, unter ihnen der Rektor und die Dekane und die übrigen Mitglieder des akademischen Senats der Universität Halle-Wittenberg, die in der mittelalterlichen Farbenpracht ihrer Talare sich wirkungsvoll abhoben.
Ihnen schlossen sich an die Mitglieber der städtischen und der kirchlichen Körperschaften und endlich in langer Reihe die sonstigen Gemeindeglieder, soweit sie um des beschränkten Raumes willen Zutritt zum Lutherhofe finden konnten.
Um 9 Uhr setzte der Bläserchor der Regimentsmusik ein und machtvoll brauste das Lutherlied
„Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“ zum blauen Herbsthimmel empor.
Von der mit Grün umgebenen Turmtreppe des Lutherhauses aus hielt ber Direktor des Predigerseminars D. Jordan die erste Festansprache. Dann setzte sich der stattliche Zug in Bewegung, dem sich die vielen, die vor dem Augusteum geharrt hatten, anschlossen.
Feierliches Geläut von den Türmen der Stadtpfarrkirche, dem sich vom Marktplatze ab das der Schloßkirche zugesellte, geleitete den Zug. Dazwischen erklangen, von der Regimentsmusik geblasen, die machtvollen Lutherchoräle.
Dichtgedrängte Volksmassen säumten die Straßen und den Marktplatz.
An der Schloßkirche angekommen, nahmen die Scharen um die geschmückte Thesentür Aufstellung.
Nach dem Gesange des Lutherliedes „Aus tiefer Not“ würdigte Ephorus D. Jordan in einer zweiten Festansprache die Bedeutung des Thesenanschlags des werdenden Reformators.

Dann ordnete sich der Zug wieder, um in der gleichen Reihenfolge wie vorher durch die Coswiger- und Jüdenstraße nach der Stadtpfarrkirche, der Predigtkirche Luthers und Mutterkirche der Reformation, zu ziehen.
In wenigen Minuten war der weite Raum dicht gefüllt. Viele Hunderte mußten sich, dichtgedrängt, mit einem Stehplatz begnügen.
Der Festgottesdienst war namentlich in musikalischer Hinsicht reich ausgestattet. Zu diesem Zwecke hatten sich Kirchenchor und Kapelle des 20. Infanterieregiments unter der Mitwirkung von Hofcellist Neumann – Berlin und Konzert.meister Stöcker – Berlin vereinigt. Den Höhepunkt der musikalischen Darbietungen bildete die vom Kirchenchor unter Leitung des Kgl. Musikdirektors Straube in Verbindung mit Orgel und Orchester vorgetragene Reformationskantate „Ein feste Burg“ von Joh. Seb. Bach.
Die Festpredigt hielt Superintendent D. Orthmann über Lucas 10, 10. Der im Wechselgesang unter Orgel- und Orchesterbegleitung und Glockengeläuten gesungene Ambrosianische Lobgesang schloß die denkwürdige Feier.

Von der Stadtpfarrkirche aus begaben sich die Festteilnehmer unter Glockengeläut nach dem Marktplatze und nahmen vor den Denkmälern der Reformatoren Aufstellung.
Nach dem von der Regimentsmusik begleiteten Gesange des Lutherchorals „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“ hielt Oberbürgermeister Dr. Schirmer vor den Stufen des Lutherdenkmals an die Versammlung eine Ansprache, in welcher der Dank und die Verehrung der Stadt Wittenberg gegen Martin Luther zum Ausdruck gelangle.
Daran schloß sich das Niederlegen von Kränzen an den Denkmälern der beiden Reformatoren.
Mit dem Gesang des Lutherliedes „Ein feste Burg ist unser Gott“ klang das Ganze aus.

Unterdessen hatten sich die Ehrengäste, die Vertreter der Behörden und der Geistlichkeit nach dem Lutherhause begeben zur Eröffnung der neuen Sammlungen im ehemaligen Refektorium.
Der Vorsitzende des, Lutherhallen Kuratoriums, Regierungspräsident D. von Gersdorff, eröffnete die Feier durch eine Begrüßungsansprache.
In seiner Festrede gab der Pfleger der Lutherhalle D. Jordan einen Überblick über deren Sammlungen.
Geh. Oberkonsistorialrat Dr. Duste – Berlin überbrachte die Grüße des Evangelischen Oberkirchenrats und der Rektor der Universität Halle-Wittenberg, Geh. Konsistorialrat D. Lütgert, die Grüße dieser Hochschule.
Aus Auslaß der Feier wurde D. Jordan der Titel eines Professors verliehen und dem Regierungspräsidenten D. von Gersdorff durch Oberbürgermeister Dr. Schirmer der von Künstlerhand ausgeführte Ehrenbürgerbrief der Stadt Wittenberg überreicht.

Nachmittags 5 Uhr begann der Festgottesdienst in der Schloßkirche, die nicht ausreichte, die Menge der Erschienenen zu fassen, sodaß viele wieder umkehren mußten, ohne Einlaß finden zu können.
Auch dieser Gottesdienst war musikalisch sehr reich ausgestattet. Den musikalischen Höhepunkt bildete die Aufführung von Joh. Seb. Bachs Reformationskantate „Gott der Herr ist Sonne und Schild“. Den gleichen Text aus Psalm 84 legte Generalsuperintendent D. Schöttler Magdeburg seiner Festrede zugrunde.

Abends 8 Uhr füllte sich die Stadtpfarrkirche noch einmal bis auf den letzten Platz zum Gemeindeabend.
Nach der Begrüßung durch Superintendent D. Orthmann hielt Geh. Konsistorialrat D. Loofs – Halle den ersten Vortrag über
„Luthers Glaubensleben als Erbteil des späteren Wittenberg.“
Im zweiten Vortrag sprach Geh. Konsistorialrat Prof. D. Eger – Halle über „Luthers Gedanken vom christlichen Gemeindeleben als Erbteil des späteren Wittenberg.“
Chor- und Gemeindegesang umrahmte den eindrucksvollen Abend.

Den Abschluß der 4. Reformationsjubelfeier in Wittenberg bildete die Nachfeier am Sonntag, den 4. November.
Im Hauptgottesdienst der Stadtpfarrkirche predigte Pfarrer Bertram über das Sonntagsevangelium Lukas 9, 57-62.
Am Abend fand in der Turnhalle des Mittelschulgebäudes eine Feier für die evangelische weibliche Jugend Wittenbergs stalt. Im Mittelpunkte stand der Vortrag der Leiterin des Neuland-Bundes Guida Diehl aus Rothenburg a. H. über
„Das Erbe der Reformation und unsere Jungmädchenwelt.“
Auch diese Feier umrahmten Chorgesänge und Gedichtvorträge.

Noch unter dem nachhaltigen Eindruck des Reformationsjubiläums beging das Wittenberger Predigerseminar am Dienstag, den 6. November die Feier seines hundertjährigen Bestehens.
Trotz der Ungunst der Zeit hatten sich mit den Vertretern der Behörden und zahlreichen Ehrengästen die früheren Mitglieder des Predigerseminars in großer Zahl eingefunden.
Um 10½ Uhr vormittags versammelten sich die Teilnehmer im Hofe des Lutherhauses zum gemeinsamen Kirchgang.
An der Spitze schritten die beiden Direktoren des Predigerseminars Superintendent D. Orthmann und Professor D. Jordan.
Ihnen folgten die Ehrengäste, unter ihnen die Vertreter des Evangelischen Oberkirchenrats, des Konsistoriums der Provinz Sachsen, der Universität Halle-Wittenberg, der Behörden des Kreises und der Stadt Wittenberg, und dann in der Reihe ihrer Jahrgänge die früheren Mitglieder des Seminars, die Geistlichen in ihrer Amtstracht.
Unter Glockengeläut bewegte sich der stattliche Zug durch die reichbeflaggte Collegienstraße und Schloßstraße zur Schloßkirche, die dichtgefüllt wurde.

Den Festgottesdienst eröffnete Gemeindegesang im Wechsel mit dem Gesang des Jubiläums-Kirchenchors unter Leitung des Kgl. Musikdirektors Straube.
Die Festpredigt hielt Geh. Oberkonsistorialrat Prof. D. Dr. Kawerau -Berlin auf Grund von 1. Kor. 3, 6 und 7.
Nach Schluß des Gottesdienstes hielten die früheren Mitglieder des Prediger-Seminars eine gemeinsame Abendmahlsfeier.
Um 1 Uhr mittags vereinte die Teilnehmer ein schlichtes Festmahl im Festsaal des Offizierkasinos, bei dem Geh. Oberkonsistorialrat Dr. Duske – Berlin das Kaiserhoch ausbrachte.
Um 3 Uhr begann im Sitzungssaale des Bugenhagenhauses der Festakt. Die Eröffnungsrede hielt Superintendent D. Orthmann, der dabei mit ehrenden Worten der im Weltkriege gefallenen 10 Mitglieder des Predigerseminars gedachte.
Dann folgte die Reihe der Begrüßungen:
– für den Evangelischen Oberkirchenrat Geh. Oberkonsistorialrat D. Dr. Kawerau – Berlin,
– für die Universität Halle-Wittenberg deren Rektor Prof. D. Lütgert – Halle,
– für das Konsistorium der Provinz Sachsen Konsistorialpräsident von Doemming – Magdeburg,
– für die theologische Fakultät der Universität Halle-Wittenberg deren Dekan Prof. D. Kattenbusch – Halle,
– für die Kreisbehörde Landrat von Trebra,
– für die Stadt Wittenberg Oberbürgermeister Dr. Schirmer,
– für den Wittenberger Gemeindekirchenrat Hofbuchhändler Wunschmann,
– für die preußischen Predigerseminare Studiendirektor Lic. Dr. Peisker – Wittenburg (Westpreußen) und
– für die ehemaligen Mitglieder des Wittenberger Predigerseminars Superintendent D. Waechtler – Halle.
Den Dank für die Begrüßungen und Glückwünsche sprach Ephorus Prof. D. Jordan aus.

An den Festakt schloß sich unmittelbar ein Festkolleg im gleichen Raume an, bei welchem Prof. D. Dr. Schian – Gießen über
„Luther und die Frage der organisierten Kirche“ referierte. Ein gemütliches Beisammensein („Rauchkolleg“) im Festsaale der Offiziers-Speiseanstalt beschloß die denkwürdige Jubelfeier. –

Das ereignisreiche Jahr 1917, das unserm Vaterlande und unserer Stadt so viel Schweres brachte, sollte nicht zu Ende gehen, ohne daß ein Lichtstrahl in das Dunkel fiel:
Rußland, durch fortgesetzte Niederlagen und Revolution dazu gezwungen, erklärte sich Ende November bereit, mit den Mittelmächten in Verhandlungen über einen Waffenstillstand und einen allgemeinen Frieden einzutreten.
Diese Verhandlungen, die am 2. Dezember begannen, führten am 15. Dezember in Brest Litowsk zur Unterzeichnung eines 28 tägigen Waffenstillstandes, dem nach mancherlei Zwischenfällen am 3. März 1918 endlich die Unterzeichnung des von Deutschland vorgelegten Friedensvertrages folgte, der am 17. März von dem Sowjetkongres ratifiziert wurde.
Ihm folgte am 5. März der Vorfrieden mit Rumänien und am 6. Mai 1918 die Unterzeichnung des endgültigen Friedensvertrages.

1918

Trübe und verworten war die Lage auch zu Beginn des ereignisschweren Jahres 1918.
Die Hoffnung, daß dem Frieden mit Rußland und Rumänien auch bald ein ehrenvoller Frieden mit den übrigen Feinden Deutschlands folgen würde, erfüllte sich nicht, diese wiesen vielmehr alle Friedensangebote schroff zurück und vermehrten ihre Anstrengungen, Deutschland niederzuzwingen.
Die innere Lage Deutschlands und seiner Bundesgenossen bestärkte sie in diesem Bestreben.
Schon seit Jahresbeginn flammten fortgesezt Streits und Unruhen auf,  „um den Frieden zu erzwingen“, die aber dem Wirtschaftsleben und besonders der Rüstungsindustrie schweren Schaden zufügten. Dazu nahm der Mangel an allen notwendigen Dingen noch mehr zu, und die Beschlagnahmungen für Heereszwecke wollten kein Ende nehmen.
So wurden ua. im Januar Mauersteine und Dachziegel aller Art und im März sogar das gesammelte rohe Menschenhaar beschlagnahmt. Anfang August fiel die Kupferbedachung unserer Stadtpfarrkirchtürme dem Kriege zum Opfer. An deren Stelle erhielten die beiden Türme Schieferbedachung, was einen Kostenaufwand von 14 000 M. verursachte, während das Dachkupfer mit 8 000 M. bezahlt wurde.
Bezeichnend für die Knappheit an Viehfutter ist es, daß bei der Verpachtung der städtischen Wiesen für einen Morgen 1 000 M. und mehr geboten wurden.
Um Futter für die Pferde zu gewinnen, wurden die Schulen angewiesen, Laubheu zu sammeln, das getrocknet, mit Melasse und Nährhefe vermischt und in Kuchen gepreßt, verfüttert wurde.
Seit Mitte Juni wanderten daher die Schulen von Wittenberg und Umgebung nach Probstei und Fleischerwerder, um dort frisches Laub zu sammeln, das in der Malzfabrik von Kindscher getrocknet wurde.
Zu diesem Zwecke wurden die Sommerferien auf 14 Tage hinausgeschoben.
Bis zu deren Beginn am 19. Juli wurden von den hiesigen Schulen gesammelt 3 979 Zentner Frischlaub und 479 Zentner getrocknetes Laub.
Für 1 Zentner Frischlaub wurden 4 M. und für 1 Zentner getrocknetes Laub 18 M. bezahlt.

Um eine anschauliche Übersicht über alles das zu geben, was als Sammelgut für Kriegszwecke von Wert ist, fand vom 1. bis 15. September im Obergeschoß des Melanchthongymnasiums eine Ausstellung von Kriegssammelgut statt, die am 1. September in Anwesenheit der Vertreter der Provinz-, Kreis-, Stadt- und militärischen Behörden eröffnet wurde.

Im Oktober trat in unserer Stadt die Grippe epidemisch auf.
In der Woche vom 13. bis 19. Oktober betrug die Zahl der Todesfälle in der Zivilbevölkerung der Stadt 32, denen nur 3 Geburten gegenüberstanden.
Um der Weiterverbreitung der Krankheit entgegenzuwirken, verbot die Polizeiverwaltung bis Ende des Monats alle Theater-, Lichtspiel- und sonstige Aufführungen sowie Versammlungen von mehr als 50 Personen.

Da es an Wäsche bzw. Leinen für die Säuglinge fehlte, so veranstaltete der Verein „Evangelische Frauenhilfe“ in unserer Stadt vom 11. bis 18. Mai eine „Weiße Windelwoche“, in der 8½Zentner Leinen gesammelt wurden.

Am 21. März begannen die gewaltigen Angriffskämpfe der deutschen Truppen an der Westfront, die anfangs glänzende Erfolge erzielten und große Beute an Gefangenen, Geschützen und sonstigem Kriegsmaterial brachten.
Dann aber stieß der deutsche Vormarsch auf starken Widerstand der Franzosen, Engländer, Amerikaner und Belgier, sodaß die deutsche Heeresleitung sich genötigt sah, die Truppen Ende Juli unter starken Verlusten über Marne, Somme, Ancre, Ois usw. zurückzuziehen.

Die erlittenen schweren Verluste machten ein Auffüllen der Truppenkörper nötig.
Nachdem die älteste Jahresklasse zum Heeresdienste eingezogen war, griff man auf die Achtzehnjährigen und Siebzehnjährigen zurück, von denen viele noch auf der Schulbank saßen.
Kein Wunder, daß bei der Lage im Lande Niedergeschlagenheit und Mutlosigkeit immer weiter um sich griff.
Die zu spät getroffenen parlamentarischen Reformen
– parlamentarische Regierung, allgemeines und gleiches Wahlrecht in Preußen – übten nicht mehr die erhoffte Wirkung aus.
Nachdem vollends unsere bisherigen Bundesgenossen Bulgarien, Österreich und die Türkei mit den Feinden Sonder- Friedensverhandlungen begonnen hatten, war es leider klar, daß für Deutschland trotz aller heldenmütigen Aufopferung der Krieg verloren war.
Es konnte sich nur noch darum handeln, einen ehrenhaften Frieden zu erlangen.

Die neue demokratische Reichsregierung mit dem Prinzen Max von Baden als Reichskanzler ersuchte am 5. Oktober daher den Präsidenten Wilson von den Vereinigten Staaten Nordamerikas, auf Grund seiner „14 Punkte“, die ua. die Räumung der besetzten Gebiete und den Verzicht auf Elsaß- Lothringen einschlossen, Friedensverhandlungen einzuleiten und einen sofortigen Waffenstillstand herbeizuführen.
Wilsons Antwort war ausweichend und verlangte erst nähere Erklärungen, Bürgschaften und Räumung sämtlicher von den Deutschen besetzten Gebiete.
Die deutsche Regierung kam diesem Verlangen nach und sagte in einer neuen Note die bedingungslose Räumung der besetzten Gebiete zu.
Die auf diesen Schritt gesetzten Hoffnungen erfüllten sich aber nicht. In einer in brüskem Tone gehaltenen Antwort stellte Wilson für den Waffenstillstand Bedingungen, die Deutschland wehrlos machten und es völlig seinen Feinden auslieferten.
Außerdem forderte er Absetzung Kaiser Wilhelms II. und Abberufung der verdienten deutschen Heerführer.
Gegen diese entehrenden Zumutungen erhoben weite Kreise des deutschen Volkes flammende Proteste.
Auch in den beiden hiesigen Zeitungen wurden solche veröffentlicht.
Trotzdem sah sich die deutsche Regierung genötigt, Wilson um genauere Angaben der Waffenstillstandsbedingungen zu bitten. Dieser wies sie zu Verhandlungen darüber an den Oberbefehlshaber der Entente-Armee, den französischen Marschall Foch.

Die Revolution

In dieser Zeit der höchsten Gefahr, wo alle Kräfte der Nation hätten zusammengehalten werden müssen, trat das Ereignis ein, was Deutschlands endgültigen Zusammenbruch herbeiführte:
die Revolution.
In knapp einer Woche wurden sämtliche alten Gewalten gestürzt und an ihre Stelle nach russischem Vorbilde Arbeiter- und Soldatenräte gesetzt.

Ihren Ausgang nahm die Revolution vom Kriegshafen Kiel.
Als die Flotte auslaufen sollte, meuterten die von Agitatoren aufgehetzten Matrosen und Heizer.
Am Sonntag, den 3. November bemächtigten sie sich der Schiffe und Dienstgebäude, holten die ruhmreiche Kriegsflagge nieder und hißten an ihrer Stelle die rote Fahne.
Von Kiel aus verbreiteten die Matrosen die Bewegung schnell über die Küstenstädte und dann weiter über das ganze Land.
In Köln sperrten die Aufrührer den an der Westfront tapfer weiterkämpfenden Truppen die Zufuhr von Lebensmitteln und Schießbedarf.
Überall wurden die Regierungen gestürzt, ohne daß sie Widerstand leisteten. In Berlin erklärte der Reichskanzler Prinz Max von Baden eigenmächtig die Thronentsagung des Kaisers und Königs, ehe sich dieser dazu entschlossen hatte.
Kaiser Wilhelm II., der sich im Großen Hauptquartiere in Spaa befand, übertrug Hindenburg die Aufgabe, das deutsche Heer in die Heimat zurückzuführen, und begab sich dann nach Holland.
In Berlin wurde die Republik ausgerufen, und der sozialdemokratische Abgeordnete Friedrich Ebert trat an die Spitze der Regierung.

In Wittenberg vollzog sich der Umschwung in der Nacht vom 8. zum 9. November schnell und ohne Blutvergießen.
Die militärischen Gewalten, Staats- und Zivilbehörden sahen sich vor eine vollendete Tatsache gestellt und fanden sich deshalb ohne nutzlosen Widerstand mit den gegebenen Verhältnissen ab.

Nach einer um Mitternacht vom Soldatenrat nach dem Tauentzienplatze einberufenen Versammlung ergoß sich eine nach Hunderten zählende Menge in die Stadt, wo sie später durch die Arbeiter und Arbeiterinnen der Sprengstoffwerke, Stickstoffwerke und anderer Fabrikbetriebe, welche die Arbeit eingestellt hatten, verstärkt wurde.
Dank der von allen Seiten bewahrten Besonnenheit kamen Ausschreitungen und Vergehen gegen das Eigentum der Bürger nicht vor.
Nur die Kammern der Kasernen wurden anfangs von Soldaten geplündert.

Bereits in den frühen Morgenstunden wurden Bahnhof, Post, Rathaus, Kreishaus und andere öffentliche Gebäude sowie die größeren Fabriken militärisch besetzt.
Auf dem Rathaus, den Kasernen ua. staatlichen Gebäuden wurde die rote Flagge gehißt.
Der öffentliche Fernsprechverkehr in der Stadt sowohl als auch nach außerhalb war während des Tages gesperrt.
Wiederholt konnte man beobachten, wie sich die Soldaten gegenseitig anhielten, die Kokarden von den Mützen zu entfernen. Den Offizieren wurden Schulterstücke und Degen abgenommen, falls sie beides nicht freiwillig ablegten.
Im Laufe des Tages fanden auf dem Tauentzienplatze mehrere starkbesuchte Versammlungen statt, bei denen die gestellten und bewilligten Forderungen bekannt gegeben und zur Ruhe und Besonnenheit ermahnt wurde.
Im Rathause versammelten sich die Vertreter des Arbeiter- und Soldatenrats mit den Vertretern der Stadt- und Kreisverwaltung und den Leitern der größeren Fabrikbetriebe, um die erforderlichen Maßnahmen zu beraten.
Um jede Stockung, namentlich hinsichtlich der Ernährung der Bevölkerung zu vermeiden, erklärten sich die bisherigen Behörden bereit, die Geschäfte weiterzuführen.
Am Mittag wurden an den Anschlagsäulen und öffentlichen Gebäuden, auf rotem Papier  gedruckte Plakate befestigt mit der Mitteilung, daß die öffentliche Gewalt in die Hände des Arbeiter- und Soldatenrats übergegangen sei und zur Ruhe und Besonnenheit ermahnt und vor Plünderungen gewarnt wurde.

Da die Ruhe nicht gestört wurde, so ging das Geschäftsleben in der Stadt seinen gewohnten geordneten Gang, und nur das lebhafte Auf- und Abwandern der Arbeitermassen und die zahlreichen Militärposten zeigten, daß sich Ungewöhnliches ereignete. Ängstliche Gemüter waren trotzdem von Besorgnis ergriffen und bemüht, in Bäckereien und Lebensmittelgeschäften den gesamten Wochenbedarf auf einmal einzukaufen, sodaß in diesen Geschäften zeitweise gewaltiger Andrang herrschte.

Auch am folgenden Tage, einem Sonntag, fanden auf dem Tauentzienplatze vormittags und nachmittags starkbesuchte Versammlungen statt, nach deren Schluss die Teilnehmer unter Vorantragen von roten Fahnen Demonstrationsumzüge durch die Straßen der Stadt veranstalteten.
Am Abend kurz nach neun Uhr wurden die Garnisontruppen alarmiert, weil angeblich die Kriegsgefangenen im Gefangenenlager ausbrechen wollten.
Infolge der abgegebenen Alarmschüsse wurden die Einwohner der Stadt in begreifliche Bestürzung versetzt. Ein Teil der Truppen rückte auch nach dem Gefangenenlager ab, wo sie aber keine Ursache zum Eingreifen vorfanden.
Leider fiel dem falschen Gerücht ein blühendes Menschenleben zum Opfer. Die 34 Jahre alte Frau Hirschfeld, Mutter zweier Kinder, wurde am Ausgange der Clausstraße von einem der ausgestellten Militärposten erschossen, der diese in der Dunkelheit für einen flüchtenden russischen Kriegsgefangenen hielt.

Der in Wittenberg gebildete Arbeiter und Soldatenrat hielt seine Sitzungen zunächst im Stadtverordnetensitzungssaale des Rathauses und später in der Offiziers- Speiseanstalt ab.
Er gliederte sich in den Vollzugsausschuß, die Vollversammlung und eine Anzahl von Ausschüssen.
Mehrere Wittenberger Bürger, von Pflichtbewußtsein und vaterländischer Gesinnung getrieben, traten freiwillig in den Arbeiter- und Soldatenrat ein.
Ihrem Wirken ist es vornehmlich zu verdanken, daß in Wittenberg im Gegensatz zu anderen Orten keinerlei ungesetzliche Übergriffe geschahen, und die Ruhe und Ordnung auch in den schwierigsten Lagen niemals gestört wurde.

Der in Berlin tagende Reichsausschuß des Arbeiter- und Soldatenrates sprach in einem Aufrufe die Überzeugung aus, daß sich in der ganzen Welt eine Staatsumwälzung wie in Deutschland vorbereite, und daß das Proletariat der anderen Länder eine Vergewaltigung des deutschen Volkes verhindern werde.
Diese Hoffnung wurde aber arg getäuscht.
Als die deutschen Bevollmächtigten zum Abschluß des Waffenstillstandes bei Marschall Foche eintrafen, wurden ihnen Bedingungen von außerordentlicher, ungeahnter Härte vorgelegt, in denen nichts von Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu spüren war, wie sie der Präsident Wilson so oft verkündet hatte.
Alle Versuche, die vernichtenden Forderungen zu mildern, waren vergeblich. Nicht einmal die Rückgabe der deutschen Kriegsgefangenen und die Aufhebung der Blokade Deutschlands wurde zugestanden.
An einem weiteren Widerstand konnte aber deutscherseits nicht mehr ernstlich gedacht werden, denn Deutschland stand allein, und sein Heer war infolge des Umsturzes in Auflösung begriffen.
So sahen sich denn die deutschen Abgesandten gezwungen, am
12. November die harten Bedingungen zu unterzeichnen. Generalfeldmarschall von Hindenburg fiel die schwere Aufgabe zu, binnen der kurzbemessenen Frist von 14 Tagen die deutschen Armeen aus den besetzten feindlichen Gebieten in die Heimat zurückzuführen.
In bewundernswerter Weise führte dieser getreue Eckart seines Volkes diese Aufgabe aus.

Die ersten Truppen, welche nach Wittenberg zurückkehrten, um demobilisiert zu werden, trafen hier in der Nacht zum 1. Dezember ein.
Den Anfang machte um 11 Uhr nachts ein Flackzug mit 60 Offizieren und 170 Unteroffizieren und Mannschaften.
Ihnen folgte um 12 Uhr das Landsturmbattaillon IV/15 in Stärke von 19 Offizieren, 438 Unteroffizieren und Mannschaften, 93 Pferden und 84 Fahrzeugen.
Trotz der späten Stunde hatte sich eine zahlreiche Menge zur Begrüßung der Truppen versammelt, die den Bahnsteig und den Bahnhofsvorplatz füllte.
Nach Ankunft der Truppenzüge auf dem mit Tannengewinden und Fahnen geschmückten Bahnhofe wurden diese durch das hiesige „Rote Kreuz“ mit warmem Essen bewirtet.
Die neugegründete Garnisonkapelle unter Leitung von Obermusikmeister Grimmig spielte währenddem mehrere Musikstücke.
Zur Begrüßung hatten sich auf dem Bahnsteige Landrat von Trebra, Bürgermeister Dr. Thelemann mit Mitgliedern des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung sowie die Vertreter des Arbeiter- und Soldatenrates eingefunden.
Namens des letzteren und der Garnison Wittenberg begrüßte Feldwebel Mees Mees die Heimgekehrten, worauf Bürgermeister Dr. Thelemann ihnen den herzlichen Willkommensgruß der Stadt Wittenberg entbot.
Ein Mitglied des Frontsoldatenrates dankte für den freundlichen Empfang und brachte ein Hoch auf die Stadt Wittenberg aus.
Unter Fackelbeleuchtung und den Marschweisen der Garnisonkapelle marschierten die Krieger nach ihren Quartieren im Landsturmlager Rothemark.
Es mag freilich auf die alten Frontsoldaten einen sonderbaren Eindruck gemacht haben, als sich am folgenden Tage im Anschluß an eine auf dem Exerzierplatze an der Schloßkaserne abgehaltene Versammlung ein Demonstrationsumzug von mehreren hundert Soldaten, Arbeitern und Arbeiterinnen unter Vorantragen einer roten Fahne und der Musik der Garnisonkapelle durch die Hauptstraßen der Stadt bewegte.

Ein Freudentag in trüber Zeit war für die Bewohner unserer Stadt die Rückkehr des aktiven Infanterieregiments Nr. 20 in seine alte Garnison am Sonnabend den 14. Dezember.
Glockengeläut und Musik, wehende Fahnen, Tannengewinde und freudiges Willkommen grüßte die Heimkehrenden.
Schon seit den frühen Nachmittagsstunden füllte eine dichte Menge Marktplatz, Collegienstraße, den Bahnhofszugang und den Bahnhof selbst, die trotz der unfreundlichen Witterung und der stark verzögerten Ankunft der Truppe wacker aushielt.
Nach 4 Uhr nachmittags rückten die Schüler der hiesigen Schulen mit Fähnchen und Tannensträußchen für die Krieger zur Spalierbildung an.
Wegen der sich verzögernden Ankunft mußten sie aber nach längerem Warten leider wieder nachhause geschickt werden.

Kurz vor 10 Uhr abends fuhr endlich der erste Zug mit dem 2. Bataillon und dem Regimentsstabe in den Bahnhof ein, von den harrenden Massen mit donnernden Hurrarufen und der Garnisonkapelle mit schmetternden Klängen empfangen.
Nach einer kurzen Begrüßung durch die Vertreter der Kreis- und Stadtbehörde ordneten sich die Mannschaften auf dem Vorplatze des Bahnhofs, wo sie vom „Roten Kreuz“ mit warmem Essen bewirtet und mit Liebesgaben beschenkt wurden.
Dann erfolgte gegen 11 Uhr unter Fackellicht, dem Vorantragen der beiden ruhmreichen Bataillonsfahnen, den Klängen der Regimentsmusik und und Glockengeläut der Einzug in die Stadt, auf dem ganzen Wege von jubelnden Zurufen begrüßt und vielfach von Buntsfeuer beleuchtet.

Nach dem Eintreffen auf dem Marktplatze, dessen Häuser vielfach illuminiert hatten, nahm das Bataillon mit Front nach dem Rathause Ausstellung. Es war ein schönes Bild, das sich im Lichte der Fackeln und des Buntfeuers bot:
die sehnigen Gestalten der Krieger in straffer, ungebeugter Haltung mit den frischen, wettergebräunten Gesichtern unter dem Stahlhelm – und doch auch wieder ein Bild, das Wehmut erweckte, denn von denen, die im August 1914 siegbegeistert hinauszogen, sah man nur noch wenige in den Reihen.
Meist blickte man in fremde junge Gesichter; die anderen hatten in den langen, blutigen Kämpfen ihre Treue mit dem Tode besiegelt. Kein Wunder, daß in all dem Jubel so manche Träne floß.
Fielen doch vom aktiven Infanterieregiment Nr. 20 insgesamt 1 060 Offiziere, 4 042 Unteroffiziere und Mannschaften, vom Reserve Infanterieregiment Nr. 20 insgesamt 39 Offiziere, 2 090 Unteroffiziere und Mannschaften und vom Landwehr- Infanterieregiment Nr. 20 insgesamt 120 Offiziere, 544 Unteroffiziere und Mannschaften.

Als die Glocken schwiegen, richtete Bürgermeister Dr. Thelemann vom Balkon des Rathauses an das Bataillon eine warme Begrüßungsansprache. Er betonte darin ua.,
dass die Stadt Wittenberg mit Stolz auf ihre Zwanziger blickt; bedeutet doch die Kriegsgeschichte des Regiments eine Rette von unvergänglichen Ruhmestaten.
Was der damalige Führer des Regiments, der gefallene Oberst Schulze, vor 4 Jahren bei dessen Auszuge versprochen:
„Was gemacht werden kann, das wird gemacht“,
das hat die ganze Truppe wahrgemacht.
Militärisch unbesiegt kehrt sie zurück. Mit ehrenden, dankbaren Worten gedachte der Redner dann der Gefallenen und schloß mit einem Hoch auf das 20. Infanterieregiment.
Der Vertreter des Soldatenrates ließ seine Begrüßungsworte ausklingen in ein Hoch auf das deutsche Volk, worauf die Musik „Deutschland, Deutschland über alles“ anstimmte, was von der Menge begeistert mitgesungen wurde.
Nach weiteren Begrüßungsworten durch den Vertreter des Arbeiterrates dankte der Regimentskommandeur, Major Mielitsch, für den herzlichen Empfang, wie für die Fürsorge, welche dem Regiment während des ganzen Krieges seitens der Stadt Wittenberg zuteil wurde.
In Gedanken – so führte er dann weiter aus – malten wir es uns oft aus. wie schön der Einzug in unsere alte Garnisonstadt sein würde. Es ist anders gekommen; wir sind nicht berechtigt, uns mit Siegeslorbeeren zu schmücken. Aber wir haben das stolze Bewußtsein, unsere Soldatenpflicht bis zuletzt getan zu haben.
Der Redner schloß seine Worte mit dem Wunsche, daß das bisherige gute Einvernehmen zwischen Regiment und Bürgerschaft auch in Zukunft fortbestehen möge und brachte ein Hoch auf die Stadt Wittenberg und ihre Bürgerschaft aus.
Mit dem markigen Schutz- und Trutzliede Luthers
„Ein feste Burg ist unser Gott“
schloß die eindrucksvolle Empfangsfeier.
Vom Marktplatze aus rückten die Mannschaften nach ihren Quartieren in der Kavalierkaserne, wo sie seitens der Stadt mit Liebesgaben erfreut wurden, während die Offiziere sich mit den Vertretern der Stadt im „Goldenen Adler“ zu einem geselligen Beisamme sein vereinten.

Gegen 12 Uhr nachts rückte unter Musikbegleitung das erste Bataillon und am Morgen gegen 8 Uhr das dritte Bataillon mit der Maschinengewehrkompagnie ein. Beide wurden am Bahnhofe in ähnlicher Weise wie das erste Bataillon empfangen und bewirtet.

Da der Einzug des Regiments während der Nachtstunden erfolgte und so vielen Einwohnern, namentlich aber der Jugend, der Anblick verloren ging, so erfolgte auf vielfachen Wunsch am Montag, den 16. Dezember, nachmittags von der Kavalierkaserne aus ein Umzug des ganzen Regiments durch die Hauptstraßen der Stadt.
Die Spitze bildete der Regimentsstab mit dem Regimentskommandeur zu Pferde. Dann folgte die Regimentsmusik, an welche sich die einzelnen Bataillone mit ihren ruhmreichen Feldzeichen anschlossen.
In der Mitte des Zuges schritt die, Garnisonkapelle.
Auch die Sanitäts- und Meldehunde, die mit Kränzen geschmückt waren, wurden im Zuge mitgeführt.
Auf dem Wege bildeten die Schüler Spalier, und überall wurde das Regiment von der Bevölkerung herzlich begrüßt.
Im Hofe der Kavalierkaserne richtete der Regimentskommandeur an die zur Entlassung kommenden Mannschaften herzliche Abschiedsworte.

Aus dem Jahre 1918 sind noch nachstehende für die Stadt Wittenberg bemerkenswerte Ereignisse nachzutragen:

Vom 17. bis 22. März veranstaltete der Vaterländische Frauenverein gemeinsam mit der Evangelischen Frauenhilfe im „Bürgergarten“ eine „Wanderausstellung für Säuglingsfürsorge“.

Da Oberbürgermeister Dr. Schirmer altershalber sein Abschiedsgesuch eingereicht hatte, so wählte die Stadtverordnetenversammlung am 21. März mit 17 von 20 Stimmen den bisherigen 2. Bürgermeister Dr. Thelemann zum 1. Bürgermeister.
An seine Stelle wurde Dr. Rottebohm – Finsterwalde zum 2. Bürgermeister mit sämtlichen 21 Stimmen der Stadtverordnetenversammlung am 8. August gewählt.

Mit dem 20. Oktober schied Oberbürgermeister Dr. Schirmer nach 24 jähriger Tätigkeit im Dienste der Stadt Wittenberg aus seinem Amte, um in den Ruhestand zu treten.
Die Stadtverordnetenversammlung ehrte seine Verdienste um die Stadt durch Errichten einer „Oberbürgermeister Dr. Schirmer-Stiftung“ mit einem Grundstock von 5 000 M., deren Zinsen zur Unterstützung bedürftiger Wittenberger Einwohner verwendet werden sollten.

Am 7. Dezember erfolgte die Einführung Dr. Thelemanns in sein Amt als 1. Bürgermeister durch Regierungsrat Knoblauch – Merseburg und am 10. Dezember die Einführung Dr. Rottebohms als 2. Bürgermeister durch den 1. Bürgermeister Dr. Thelemann.

Mangelnde Beaufsichtigung der Jugendlichen und die die diesen gezahlten hohen Löhne ua. zeitigten als üble Folgen, daß während des Krieges die Vergehen der Jugendlichen in des besorgniserweckender Weise zunahmen.
Betrugen die beim Amtsgericht Wittenberg zur Verurteilung kommenden Fälle
– im Jahre 1914 noch 33, so so stieg ihre Zahl
– im Jahre 1915 auf 64,
– im Jahre 1916 auf 256 und
– im Jahre 1917 auf 498 Fälle.
Um den darin liegenden Gefahren zu begegnen, wurde am 3. Mai nach einem Vortrag des Pfarrers Hagen – Halle ein aus 7 Personen bestehender Ausschuß für Jugendgerichtshilfe gebildet.

Am 26. September wurde hier die Luthergesellschaft mit dem Sitz in Wittenberg gegründet.
Zum Vorsitzenden wurde Prof. D. Dr. Eucken – Jena gewählt, der durch seinen Reformationsjubiläums-Vortrag die erste Anregung zur Gründung der Gesellschaft gab.
Als geschäftsführender Vorstand wurden bestimmt:
– Superintendent D. Orthmann,
– Prof. D. Jordan und
– Stadtrat a. D. Kaufmann Paul Friedrich.

Im Jahre 1918 überschritt der Stadtkämmerei- Haushaltsplan zum ersten Male die Millionenziffer mit 1 105 000 М.

1919

Unheildrohend trat das Jahr 1919 seine Herrschaft an. Gleich die ersten Tage desselben waren erfüllt von den Unruhen, welche der linke Flügel der kommunistischen Partei die – Spartakus-Gruppe – in Berlin unter Führung von Liebknecht und Rosa Luxemburg angezettelt hatte, um die Regierung Ebert zu stürzen und die Gewalt an sich zu reißen.
Am Sonntag den 5. Januar kam es in der Reichshauptstadt zu Angriffen auf die regierungstreuen Truppen, wobei es zahlreiche Tote und Verwundete gab.

Da man auch in Wittenberg Angriffe der Spartakisten befürchtete, worüber die wildesten Gerüchte im Umlauf waren, so traf der Vollzugsausschuß des Arbeiter und Soldateneates am 9. Januar umfassende Sicherheitsmaßregeln.
Die wichtigsten Gebäude – die Offiziers-Speiseanstalt als Sitz des Vollzugsausschusses, das Rathaus, die Post, das Landratsamt und die Kasernen wurden mit Maschinengewehren versehen, Rathaus, Banken usw. mit doppelten Wachtposten besetzt und die regierungstreuen Truppen in Alarmbereitschaft gehalten.
Die umherschwirrenden Gerüchte klärten sich dann aber als Ausfluß der erhitzten Phantasie auf.

Nachdem endlich die Regierung sich entschlossen hatte, fest zuzugreifen, gelang es den Regierungstruppen, am 16. Januar nach schweren Kämpfen die Spartakisten niederzuwerfen und ihre Führer zu verhaften.
Liebknecht wurde auf der Flucht erschossen, Rosa Luxemburg von einer Volksmenge aus dem Wagen gerissen, mißhandelt und getötet.

Am 7. Januar mittags kehrte die 2. Abteilung des Feldartillerie- Regiments Nr. 74 von Torgau kommend in ihre Garnisonstadt Wittenberg zurück.
Geschütze und Wagen waren mit Tannengrün und Fahnen geschmückt. Die Häuser der Stadt trugen ebenfalls reichen Flaggenschmuck; am Elstertore waren hohe Flaggenmaste errichtet. Hier wurde die Abteilung von den Vertretern der städtischen Behörden empfangen. Erster Bürgermeister Dr. Thelemann rief ihr den herzlichen Willkommensgruß der Stadt Wittenberg zu, wobei er hervorhob, daß die Bevölkerung dem militärisch unbesiegt zurückkehrenden tapferen Feldheere, im Ganzen wie in allen seinen Teilen, die größte Hochachtung entgegenbringe.
Er schloß mit einem Hoch auf auf die Abteilung. Namens derselben dankte deren Führer, Major Funke, für den warmen Empfang und brachte der Stadt Wittenberg ein dreifaches Hurra.
Hierauf fand der Einmarsch durch die Collegienstraße, Marktplatz und Juristenstraße nach der Kaserne statt; auf dem ganzen Wege wurde die Abteilung von der Bevölkerung freudig begrüßt.

Die Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar verliefen in Stadt und Kreis Wittenberg ruhig.
Im Wahlkreis Halle-Merseburg, zu dem unsere Stadt gehört, wurden gewählt:
– 4 Abgeordnete der Unabhängigen Sozialisten,
– 2 Mehrheitssozialisten,
– 2 Abgeordnete der Deutsch-demokratischen Partei und
– 1 Abgeordneter der Deutschnationalen Volkspartei.

Am 26. Januar folgten die Wahlen zur gesetzgebenden preußischen Landesversammlung, die gleichfalls ruhig verliefen.
Im Wahlkreis Halle-Merseburg wurden gewählt:
– 8 Unabhängige Sozialisten,
– 3 Mehrheitssozialisten,
– 5 Abgeordnete der Deutsch-demokratischen Partei,
– 2 Abgeordnete der Deutschnationalen Volkspartei und
– 1 Abgeordneter der Christlichen Volkspartei (Zentrum).

Am 14. Februar tagte die letzte nach dem alten Dreiklassensystem gewählte Stadtverordnetenversammlung. Im Anschluß an diese fand auf dem Marktplatze eine öffentliche Protestkundgebung gegen die erneuten harten Waffenstillstandsbedingungen statt, wobei Pfarrer Knolle eine Ansprache hielt.

Am 23. Februar geschahen die Wahlen zur neuen Stadtverordnetenversammlung zum ersten Male nach dem gleichen geheimen Wahlrecht.
Vorauf ging ein scharfer Wahlkampf der einzelnen Parteien, der in vielen Wählerversammlungen und Zeitungsartikeln zum Ausdruck gelangte und vielfach recht unfreundliche Formen annahm. Trotzdem war die Wahlbeteiligung sehr schwach.
Von rund 16 000 Wahlberechtigten gaben nur 8 393 (rund 50 Prozent) ihre Stimme ab.
Von den zu wählenden 36 Stadtverordneten entfielen auf die Liste
– Dr. Schwarze (Vereinigte Wirtschaftsverbände) Wirtschaftsver 18, – auf die Liste Lerchenstein (Sozialdemokratische Partei) 13,
– auf die Liste Bickel (Industrie) 5 Sitze.
– Die Liste Schulz (Techniker) erhielt keinen Sitz.

Bei der bald darauf folgenden Magistratswahl wurden von den Vereinigten bürgerlichen Parteien 5 und von den Vereinigten sozialdemokratischen Parteien 3 Mitglieder zu unbesoldeten Stadträten gewählt.
Am 24. März fanden in den zu einem Wahlkreise zusammengefaßten Gemeinden Wittenberg, Kleinwittenberg, Piesterits, Apollensdorf und Reinsdorf bei schwacher Beteiligung namentlich von nicht sozialdemokratischer Seite die Neuwahlen zum Wittenberger Arbeiterrat statt.
Wahlberechtigt waren nur die Arbeitnehmer.
Es wurden gewählt,
– von der Liste der Sozialdemokratischen Parteien 13,
– der Liste der Deutsch-demokratischen Partei 5 und von
– der gemeinsamen Liste der Deutschnationalen Volkspartei, Deutschen Volkspartei und Christlichen Volkspartei 2 Vertreter.

Statt in der über unser Vaterland hereingebrochenen schweren Notzeit alle Kräfte zusammenzufassen, wurde dieses im Innern durch fortgesetzte Streiks erschüttert, welche dem Wirtschaftsleben schweren Schaden zufügten und die Vollsernährung gefährdeten.
Am 24. Februar traten die Arbeiter des mitteldeutschen Kohlenbezirks in den Generalstreik ein, um die Anerkennung der Betriebsräte und das Fortbestehen der Arbeiter- und Soldatenräte zu erzwingen.

Im Kreise Wittenberg nahm der Streit seinen Anfang auf den Braunkohlenwerken Bergwitz. Ihm schlossen sich die Arbeiter des Reichsstickstoffwerkes Piesteritz, des Sprengstoffwerks Reinsdorf und dann die übrigen Betriebe in Wittenberg und Umgegend an. Einer nach Weimar zum derzeitigen Sitz der Reichsregierung gesandten Abordnung gelang es, beim Reichsarbeitsminister Bauer die Anerkennung der in Wittenberg aufgestellten „Richtlinien für die Tätigkeit der Betriebsräte“ zu erreichen, worauf der Streik nach achttägiger Dauer beendet wurde.

Für den 21. Juni proklamierte die Unabhängige sozialdemokratische Partei ein Gewaltfrieden.
Während es in Berlin ua. Orten zum Vollstreik und Tumulten zwischen Unabhängigen und Mehrheitszozialisten kam, verlief in Wittenberg und Umgegend der Tag ruhig.
Nur am Nachmittag feierten mehrere Betriebe.
Auf dem Marktplatze fand nach einem Demonstrationsumzuge eine Versammlung statt, bei der vom Balkon des Rathauses ein Berliner Redner eine Ansprache hielt, in der er sich gegen den Gewaltfrieden wandte, dessen Verhinderung er von der Weltrevolution erhoffte. Am Abend veranstaltete die Kommunistische Partei (Spartakusbund) im „Tivoli“ eine Volksversammlung mit dem Thema „Weltstreik und Weltrevelution.“
Bekanntlich haben diese Hoffnungen arg getrogen.

Zum Schutz der Stadt und ihrer Einwohner wurde am 27. März eine Stadtwehr eingerichtet, die bei ernsten Unruhen, Plünderungen usw. in Tätigkeit treten sollte.
Die Wehr wurde nach Bezirken eingeteilt; an der Spitze eines jeden Bezirkes stand ein Vertrauensmann.
Die Mitgliedschaft war eine freiwillige; eine Vergütung wurde nicht gewährt. Für etwaigen den Mitgliedern bei Ausübung ihrer Tätigkeit entstehenden Schaden haftete die Stadt Wittenberg. Jedes Mitglied erhielt erhielt eine weiße gestempelte Armbinde mit dem Aufdruck „Stadtwehr“ sowie einen Waffenschein, gegen den es in dem Waffendepot die Waffe erhielt.
Am Gründungstage ließen sich bereits 250 Personen in die Aufnahmelisten eintragen. Die ganze Einrichtung stand unter einem aus Mitgliedern des Bürgerausschusses und des Vollzugsausschusses des Arbeiter- und Soldatenrates gebildeten Wehrausschuß. Erfreulicherweise brauchte die Stadtwehr nie in Tätigkeit zu treten.

Der durch den Feindbund erzwungenen Wehrlosmachung Deutschlands fielen auch die Garnisontruppen Wittenbergs zum Opfer.
Ende März wurde das 20. Infanterieregiment durch Entlassung des letzten Jahrganges aufgelöst.
Am 9. Mai rückte die 2. Abteilung des Feldartillerie Regiments Nr. 74 von hier aus, um zunächt nach Torgau überzusiedeln. Somit hatte Wittenberg seine sämtlichen Truppen eingebüßt, was namentlich dem Geschäftsleben der Stadt recht unangenehm fühlbar wurde. Vorübergehend bezog am 4. Juli – von Kassel kommend die – 4. Abteilung des Freiwilligen Landesjägerkorps hier Garnison.

Der fortgesetzt steigende Kohlenmangel, wie er namentlich durch andauernden Bergarbeiterstreik und Mangel an Eisenbahnmaterial herbeigeführt wurde, nötigte Mitte April zur erheblichen Einschränkung des Eisenbahnverkehrs. Die wenigen noch verkehrenden Züge waren infolgedessen überfüllt.
Nur die von der Behörde als dringlich anerkannten Reisen mit der Eisenbahn waren gestattet.
Am 1. Osterfeiertage wurden überhaupt keine Personen befördert. Vom 26. Oktober ab fielen Sonntags außer einigen Arbeiterzügen sämtliche Personenzüge aus.
Vom 5. bis 15. November wurde dann der Personenverkehr auf der Eisenbahn völlig eingestellt.
In Verbindung damit unterblieb die Beförderung von Paketen ua. .

Der Mangel an Kohle nötigte die Gasanstalt die ohnehin stark eingeschränkte Abgabe von Gas vom 25. November ab gänzlich einzustellen. Wer nicht elektrisches Licht besaß, der mußte abends im Dunkeln sitzen oder sich mit dem rationierten Karbid oder Kerzen behelfen, da auch Petroleum nicht mehr zu haben war.

Der Schmachfrieden von Versailles

Lange ließen die Feinde das hungernde Deutschland warten, ehe sie ihm die Friedensbedingungen mitteilten.
Deutschland wurde bei den geheim geführten Verhandlungen nicht zugelassen; der Frieden wurde ihm diktiert.
Am 7. Mai wurde dieses Diktat mit seinen 440 Bedingungen unsern Vertretern endlich übergeben – Bedingungen, von denen der Amerikaner Herron, ein Ratgeber Wilsons, sagt, daß sie „strotzen von Wildheit, Eroberungslust, Gesetzesverachtung und Ehrlosigkeiten“.
In diesen Bedingungen war war nichts zu spüren von Gerechtigkeit und Völkerversöhnung; sie waren eingegeben von Wut, Haß und Furcht.
Der Schmachfriedensvertrag raubte uns
– den zehnten Teil unserer Bevölkerung,
– den achten Teil unserer Bodenfläche,
– den vierten Teil unserer Steinkohlengewinnung,
– den sechsten Teil unserer Weizen- und Roggen-Anbaufläche,
– fast den fünften Teil der Kartoffel-Anbaufläche,
– drei Viertel unserer Eisenerze,
– zwei Drittel der Zinkerze,
– neun Zehntel unserer Handelsflotte.
Dazu traten die „Reparations„- Lasten an Geld, die nach dem Dawes-Plan im dritten Reparationsjahre (1926) 1 580,3 Millionen Mark, also täglich über 4 Millionen Mark, betrugen.
Und diese Lasten werden, in Zukunft noch größer werden, da wir noch nicht bei der im Dawes Plan vorgesehenen Normalleistung angekommen sind.

Ein Schrei der Entrüstung ging durch die deutschen Gaue, und allenthalben wurde flammender Protest gegen dieses Schmachdiktat erhoben.
Auch in Wittenberg fand am 13. Mai nachmittags unter großer Beteiligung auf dem Marktplatze eine Protestkundgebung statt, bei welcher Pfarrer Lic. Geibel – Apollensdorf, Verwaltungsinspektor Spröte und Rechtsanwalt Polluge Ansprachen hielten.
Am Schluß wurde eine von Bürgermeister Dr. Thelemann verlesene Entschließung gegen den Schmachfrieden angenommen.

Alle Einsprüche und alle Bemühungen, die grausamen Friedensbedingungen zu mildern, waren jedoch vergeblich, und so nahm denn die Nationalversammlung in Weimar am 23. Juni nach dem Vorschlage der aus Mitgliedern der Sozialdemokratie und des Zentrums neugebildeten Reichsregierung den Friedensvertrag mit 237 Stimmen (Sozialdemokratie, Zentrum und 8 Demokraten) gegen 138 Stimmen (Deutschnationale Volkspartei, Deutsche Volfspartei und Demokratische Partei) bei 5 Stimmenthaltungen an.

Am 28. Juni wurde der Gewalt- und Schmachfrieden, der unser Vaterland knechtete, beschimpfte und wehrlos machte, der große blühende Landesteile mit Millionen deutscher Brüder und Schwestern raubte und uns wirtschaftlich erdrosseln wollte, in Versailles unterzeichnet und so der letzte traurige Akt des gewaltigen, blutigen Kriegsdramas geschlossen.

Großes, fast Übermenschliches hat Deutschland in diesem Kriege geleistet; schier unglaubliche Opfer an Gut und Blut hat unser Volk und mit ihm die Stadt Wittenberg gebracht.
2 040 000 deutsche Männer fielen in diesem Riesenkampfe;
die Zahl der Verwundeten betrug 425 000, darunter 28 000, die infolge der Verletzungen dauernd erwerbsunfähig wurden.
Die Zahl der Kriegerwitwen ist auf 600 000,
die der Kriegerwaisen auf 1 200 000,
die der übrigen Hinterbliebenen ebenfalls auf 600 000 zu schätzen; also insgesamt 21/2 Millionen Kriegshinterbliebene.

Die Stadt Wittenberg ist an diesen Kriegsopfern mit einem hohen Prozentsatz beteiligt. Die Gedenktafeln in der Ehrenhalle der Stadtpfarrkirche verzeichnen die Namen von 650 Gefallenen.

Von welcher Seite man auch jenen mehr als vierjährigen Riesenkampf und seine Folgen betrachten mag, eines muß unvergessen bleiben:
das ist die unerschütterliche Tatsache, daß Deutschland mit seiner Wehrkraft und seinem moralischen Mute, berannt von wütenden Feinden sonder Zahl, Kulturvölkern und Halbwilden, verlassen von so manchen Freunden, übergossen von einer Flut von Haß und Verleumdung, in einem mörderischen Kriege, wie ihn die Welt noch nicht gesehen, in der erfolgreichen Verteidigung seiner Ehre und seines Besitzes in ehrlichem, jahrelangen Kampfe für sich und seine Verbündeten an der Front wie im Inneren Ungeheures geleistet hat und militärisch unbesiegt blieb.
Das löscht keine Feindeslüge aus, kein Wechselfall im Würfelspiel des Krieges kann das verdunkeln, das sichert unserm Ehrenschild für alle Zeiten und vor aller Welt einen unbefleckten Glanz.

Wittenberg bis zur Gegenwart

Eine neue, umfassende Aufgabe erwuchs der Stadt Wittenberg durch die Demobilmachung, der militärischen wie der wirtschaftlichen.
Von Anfang Dezember 1918 ab machten hier demobil:
– das Landsturm-Bataillon IV/15,
– das aktive Infanterieregiment Nr. 20,
– die zweite Abteilung des Feldartillerie-Regiments Nr. 74,
– die Reserveregimenter Nr. 270 und 406
– sowie eine große Reihe von Flackzügen.
Zur Unterbringung wurde für die Offiziere Bürgerquartier in Anspruch genommen;
die Mannschaften wurden in den Kasernen, der Knabenbürgerschule, dem städtischen Massenquartier (früher „Gesellschaftshaus“) und den Turnhallen des Gymnasiums und der Mittelschule untergebracht.
Von den einzelnen Truppenverbänden verblieben nach ihrer Auflõsung sogenannte Abwicklungsstellen hier.
Im Frühjahr 1919 traten hierzu noch eine Reihe von Abwicklungsstellen des XVI. Armeekorps.
Die neue Reichswehr stellte eine dem bisherigen Infanterieregiment Nr. 20 Graf Tauentzien entsprechende Formation (Traditionsbataillon Tauentzien) auf, ebenso für das Feldartillerie Regiment Nr. 74.
Beide Truppenteile wurden schließlich anderen Truppenteilen zugeteilt und verließen Wittenberg im Mai 1919.

Die Auflösung des Gefangenenlagers erfolgte im ersten Vierteljahr jenes Jahres.

Die wirtschaftliche Demobilmachung, der Abbau der Rüstungsindustrie, vollzog sich reibungslos unter tätiger Mitwirkung des Arbeitsnachweises, der Arbeiterausschüsse und des Arbeiter- und Soldatenrates.
Die Sprengstoffwerke Reinsdorf verringerten ihre Kriegsbelegschaft von 14 000 Mann auf 1 800 durch Abschiebung der Kriegsgefangenen, Reklamanten, Hilfsdienstpflichtigen, auswärtiger Arbeiter, Frauen und Jugendlicher.
Teilweise fanden die Entlassenen in den Stickstoffwerken Aufnahme.
Die Erwerbslosenfürsorge wurde nur wenig in Anspruch genommen, so daß der hierfür vorgesehene Betrag von 50 000 M. nicht erschöpft wurde.
Die Stadt sorgte für Arbeitsgelegenheit durch Erweiterungsbauten im Gaswerk, Pflasterungen usw.

Infolge der Rückkehr der Kriegsteilnehmer, des Wohnungsbedarfs der Kriegsgetrauten, des Ersatzes der Schlafgänger durch Arbeiter mit Familie trat eine Verschärfung der Wohnungsnot ein, da die Bautätigkeit fast völlig ruhte.
Diese Not führte dazu, daß man den Inhabern größerer Wohnungen zwangsweise Räume fortnahm und mit Zwangsmietern besetzte, was zu vielen Mißhelligkeiten führte.
Zur Erledigung der mit der Wohnungsfrage entstehenden Arbeiten war ein Wohnungsamt und ein Mieteinigungsamt eingerichtet worden.
Zur Linderung der Wohnungsnot wurde die Baracke gegenüber der Kavalierkaserne zur Unterbringung von 12 Familien ausgebaut, die Fridericianumkajerne vom Staate zur Einrichtung Wohnungen gemietet und Mitte Juni mit den Wohnungsbauten in der sogenannten Gartenstadt begonnen.
Ende des Jahres betrug die Zahl der Wohnungssuchenden immer noch 500.

Teuerung und Inflation

Wenn man geglaubt hatte, daß nach Friedensschluß die hohen Preise für alle Lebensbedürfnisse sinken würden, so sah man sich bitter enttäuscht. Einige Beispiele mögen das zeigen.

Man zahlte Anfang Juli 1919:
– für 1 Pfund Roggenmehl                              0,26 M.
– für 1 Pfund Weizenmehl                              0,32 M.
– für 1 Pfund ausländ. Weizenmehl           0,88 M.
– für 1 Schwarzbrot (4 Pfund)                       1,26 M.
– für 1 Zentner Kartoffeln                     15 bis 20 M.
– für 1 Ei bis                                                              1,20 M.
– 1 Hering                                                                  1,50 M.
– für 1 Pfund Heidelbeeren                             2,00 M.
– 1 Pfund Süßkirschen                                        1,50 M.
– 1 Pfund Rindfleisch mit Knochen             2,90 M.
(gesetzlicher Höchstpreis)
– ohne Knochen                                                       3,50 M.
– 1 Pfund frische Wurst,                                     2,50 M.
– 1 Liter Milch                                                           0,60 M.
– ½ Pfund Butter                                                     3,00 M.
(im Schleichhandel 10 M. und mehr)
– 1 Meter Anzugstoff                               50 bis 100 M.
– 1 Paar Herrenstiefel                              80 bis 120 M.
– 1 Zentn. Braunkohlenbrikett ab Grube   3,15 M.
mit Anfuhr                                                                    3,95 M.

Nach der Mitte Juli endlich erfolgten Aufhebung der feindlichen Blockade sanken die Preise vorübergehend, um dann nach Aufhebung der Zwangswirtschaft wieder erheblich zu steigen.
Eine geradezu phantastische Höhe aber erreichten sie mit der fortschreitenden Geldentwertung (Inflation).
Es würde zu weit führen, die von Tag zu Tag ja, zuletzt von Stunde zu Stunde höher kletternden Preise hier aufzuführen.

Nur am Schluß dieses Abschnittes soll zur Illustration eine kurze Ausstellung gegeben werden.

Infolge des verlorenen Krieges, der Deutschland auferlegten vernichtenden Friedensbedingungen und der inneren Erschütterungen war das Vertrauen des Auslandes in dessen Zahlungsfähigkeit gesunken, was zu einer fortgesekten Verschlechterung seiner Währung führte.
Mitte September 1919 hatte die deutsche Mark nur noch einen Wert (Kaufkraft) von 15 Pfennigen, und dieser sank von da ab unaufhörlich, bis die Mark zuletzt (Ende November 1923) keinen Pfennig mehr galt.

Maßgebend für die Bewertung war der amerikanische Dollar – war doch Amerika der alleinige Nutznießer des Weltkrieges.
Anfang November 1922 stieg der Dollar auf 9 000 M.,
Anfang Februar 1923 schnellte er infolge der Besetzung des Ruhrgebietes durch die Franzosen auf 50 000 M. empor.
Nach vorübergehendem Sinken im April 1923 stieg er am 13. Juni desselben Jahres auf 100 000 M. und erreichte bei fast täglicher Steigerung Ende November 1923 die schwindelhafte schwindelhafte Höhe von 4,2 Billionen Mark.

Um dem Mangel an Zahlungsmitteln abzuhelfen, gaben zunächst die größeren Städte und nach ihrem Vorbild zuletzt alle Städte und Städtchen sowie auch verschiedene Körperschaften sogenannte
„Notgeldscheine“ heraus, die in ihrer mehr oder weniger künstlerischen Ausführung bald ein beliebtes Sammelobjekt bildeten und dadurch für die Herausgeber zu einer nicht unbedeutenden Einnahmequelle wurden.
Diesem Beispiel folgend brachte auch die Stadt Wittenberg nacheinander zwei Serienreihen von reichausgestattetem Wittenberger Notgeld in den Verkehr.

Eine Folge der fortschreitenden Geldentwertung war das sprunghafte Emporschnellen der Preise zu einer phantastischen Höhe.
Es kostete Ende November 1923:
– 1 Roggenbrot (4 Pfund)                               780 Milliarden Mark,
– 1 Liter Milch                                                       210 Milliarden Mark
– 1 Pfund Butter                               1 Billion 200 Milliarden Mark
– 1 Pfund Margarine                      1 Billion 400 Milliarden Mark
– 1 Pfund Schweinefleisch          3 Billion 800 Milliarden Mark
– 1 Pfund frische Wurst                4 Billion 100 Milliarden Mark
– 1 Pfund Zucker                                                   640 Milliarden Mark

Kleidungsstücke und Schuhe waren für die Minderbemittelten unerschwinglich geworden.

Demgegenüber besagte es nichts, daß die Arbeiter und Beamten als Lohn bzw. Gehalt Milliarden und Billionen Papiermark gezahlt erhielten, da diese in den nächsten Stunden schon in nichts zerflossen.
Jeder suchte dieses „Geld“ so schnell als möglich in „Sachwerte“ umzusetzen, ehe es noch weiter entwertet wurde.
Die Kaufleute machten infolge dessen „glänzende“ Geschäfte. Allerdings waren es nur Scheingewinne, da das geleerte Warenlager nur zu bedeutend höheren Einkaufspreisen wieder ergänzt werden konnte.
Die Klagen, daß aus diesem Grunde manche Kaufleute ihre Waren und viele Landwirte ihre Erzeugnisse zurückhielten, um sie dann zu erheblich höheren Preisen zu verkaufen, wollten nicht verstummen. Vielfach wußte mancher Landwirt freilich nicht, was er mit den Haufen von wertlosem Papiergeld anfangen sollte.

Am härtesten betroffen wurden die kleinen Sparer und Rentner, deren in Sparkassen, Banken, Hypotheken usw. angelegte Ersparnisse durch die Inflation völlig entwertet wurden, und die sich nun oft der bittersten Not preisgegeben sahen.
Das im Juli 1925 erlassene „Aufwertungsgesetz“ gab ihnen (meist nur mit 12½ bzw. 25 Prozent der Forderungen) nur einen ganz geringen Teil ihres Eigentums wieder.
Die Geschädigten schlossen sich zu einem „Bund der Hypothekengläubiger und Sparer“ zusammen, der auch in unserer Stadt eine starke Ortsgruppe hat. Der Forderung nach einer höheren Auswertung steht aber der Staat bis heute ablehnend gegenüber unter Hinweis auf seine ungünstige Finanzlage, zumal die an den ehemaligen Feindbund zu leistenden untragbaren Kriegsentschädigungen.

Durch Einführung der wertbeständigen „Rentenmark“ (Goldmark), die von Mitte November 1923 ab zunächst in beschränktem Maße zur Ausgabe kam, gelang es der Reichsregierung endlich, die Währung zu festigen, wobei 1 Billion Papiermark = 1 Goldmark gesetzt wurde.
Hand in Hand mit der Festigung der Währung ging der Preisabbau, wenngleich die Preise nicht wieder den Vorkriegsstand erreichten, sondern sich mehr und mehr den Weltmarktpreisen anpaßten.

Vom 27. Juli bis 3. August 1919 konnte nach vierjähriger Unterbrechung Wittenbergs Heimats- und Volksfest, die Vogelwiese, wieder abgehalten werden.

Am 31. Juli nahm die Nationalversammlung in Weimar in dritter Lesung mit 262 gegen 75 Stimmen die neue deutsche Reichsverfassung an, die am 11. August vom Reichsministerium unterzeichnet wurde.
Aus diesem Anlaß trug das Rathaus am 1. August Flaggenschmuck.

Bei der am 8. Oktober stattfindenden Volkszählung wurden in der Stadt Wittenberg 22 427 Einwohner (10 883 männliche und 11 544 weibliche) ermittelt (einschließlich Militär), gegen 22 419 Personen vor dem Kriege. Diese verteilten sich auf 5 771 Haushaltungen, gegenüber 5 196 vor dem Kriege.

Am 15. Oktober wurde im Balzerschen Saale die neugegründete Wittenberger Volkshochschule durch eine größere Feier eröffnet. Am 18. Januar 1925 konnte diese die ihr von der Stadt Wittenberg im ehemaligen kurfürstlichen Schlosse zur Verfügung gestellten eigenen Räume festlich einweihen.
Nach der Begrüßungsansprache des Leiters, Lehrer Siebensohn, hielt der Dezernent für das Volksschulhochwesen beim Ministerium, Oberregierungsrat Dr. von Erdberg – Berlin, die Festrede, in der er die Aufgaben der Volkshochschulen klar herausstellte. Oberbürgermeister Wurm wurde wegen seiner Verdienste um die Wittenberger Volkshochschule zu deren Ehrenmitglied ernannt.

Am 18. Oktober beging das Kaiser-Friedrich-Siechenhaus die Feier seines 25 jährigen Bestehens und am 19. Oktober die Freiwillige Feuerwehr die 50 jährige Jubelfeier ihrer Gründung.

Von den Scharen vertriebener Auslandsdeutscher und jener aus den besetzten deutschen Gebieten fand auch eine größere Zahl in Wittenberg Aufnahme. Auch hier wurde eine Ortsgruppe für Rückwanderhilfe gegründet.

1920

Der Anfang des Jahres 1920 brachie infolge von anhaltendem Regen und Schneeschmelze ungewöhnliches Hochwasser der Elbe, das am 18. Januar mit 5,14 m am hiesigen Brückenpegel seinen Höchststand erreichte.
Die niedrigen Teile der Dresdener Straße wurden überflutet, das Schützenhaus vom Verkehr abgeschnitten.
In der Elbe ertrank der Töpfer Kadner, als er einen angeschwemmten Baumstamm herausziehen wollte.

Die zweite Hälfte des Monats März war erfüllt von den Unruhen, die durch den Kapp Putsch hervorgerufen wurden und die ohnehin trübe Lage noch verschlimmerten.
Landschaftsdirektor Kapp und der General von Lüttwitz mit den im Lager von Döberitz untergebrachten 5 000 Mann Baltikum-Truppen hatten Berlin plötzlich besetzt und die Regierung Ebert-Bauer vertrieben, die sich zunächst nach Dresden und dann nach Stuttgart begab.
Die Arbeiter und zahlreiche Beamtengewerkschaften protestierten gegen jenes verwerfliche Unternehmen durch die Erklärung des Generalstreiks, der auch auch in unserer Stadt und ihrer Umgebung am 15. März einsetzte.
In der Nacht vom 15. bis 16. März wurde durch die Streikenden die Zuleitung des elektrischen Stromes nach Wittenberg gesperrt, sodaß die Stadt zumeist im Dunkeln lag.
Zur Sicherung des Kraftwerkes Zschornewitz rückte ein größerer Teil der in Wittenberg liegenden Reichswehr nach Zschornewitz aus. Bedauerlicherweise kam es dort infolge von Mißverständnissen zu Zusammenstößen mit der Arbeiterschaft und der anhaltischen Sicherheitswehr, wobei mehrfach Blut floß.

In einer stürmischen Versammlung im „Schützenhaus“ erklärten sich die Eisenbahnbeamten mit der von ihrem Gewerksschaftsbund ausgegebenen Parole der Betriebseinschränkung einverstanden. Auch die städtischen Angestellten faßten einen gleichen Entschluß. Die lebenswichtigen Betriebe, Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerk, wurden jedoch bis auf eine kurze Unterbrechung aufrecht erhalten. Da keine Zeitungen erschienen, so war den wildesten Gerüchten Raum gegeben. Nur ein von der Streikleitung herausgegebenes „Nachrichtenblatt“ durfte gebruckt werden, das im wesentlichen nur die wichtigsten amtlichen Bekanntmachungen enthielt.

Zur Sicherung der Stadt wurde die Stadtwehr teilweise einberufen, die allnächtlich Postengänge durch die Straßen tat, aber keinen Anlaß zum Einschreiten fand, da dank der auf allen Seiten bewahrten Besonnenheit die Ruhe und Ordnung nicht gestört wurde, im Gegensatz zu anderen Orten, wo es mehrfach zu blutigen Zusammenstößen kam.

Nachdem die von Kapp-Lüttwitz versuchte Gegenrevolution schon nach wenigen Tagen, nicht zum wenigstens durch den entschlossenen Widerstand der Arbeiter und Beamten, kläglich zusammengebrochen war, wurde der Generalstreik für beendet erklärt und in Wittenberg am 23. März die Arbeit in allen Betrieben wieder aufgenommen.

Der Führer der hiesigen Reichswehr, Major von Dresky, der sich auf die Seite der Putschregierung gestellt hatte, war bereits am 18. März gezwungen worden, das Kommando niederzulegen. Gleichzeitig traten auch die übrigen Offiziere bis auf einige Ausnahmen zurück.

In einzelnen Teilen des Reiches dauerte freilich der Generalstreik noch länger an. Es kam dort zu Plünderungen und offenem Aufruhr; „Rote Armeen“ lieferten den Sicherheitstruppen regelrechte Gefechte.

Am 9. Juni wählte die Stadtverordnetenversammlung an die Stelle des nach Hannover zum Finanzamt berufenen Dr. Thelemann mit 20 von 30 Stimmen den Stadtrat Wurm – Halle zum Ersten Bürgermeister unserer Stadt.
Am 19. Juli wurde dieser durch den Regierungspräsidenten D. von Gersdorff – Merseburg in sein neues Amt eingeführt.

In der gleichen Sitzung vom 9. Juni beschloß die Stadtverordnetenversammlung die Neuregelung der Gehälter der städtischen Beamten entsprechend der Besoldungsordnung der preußischen Staatsbeamten. Diese Regelung erforderte von der Stadt einen jährlichen Mehraufwand von rund ½ Million Mark und schloß eine Neuordnung der Amtsbezeichnung ein.

Den Abstimmungsberechtigten, die nach den von den Polen besetzten deutschen Gebieten reisten, um über deren Zugehörigkeit abzustimmen, wurde am 3. und 4. Juli in unserer Stadt ein herzlicher Empfang bereitet.
Von dem geschmückten Bahnhofe aus wurden sie mit Musik nach dem „Schützenhaus“ geleitet und hier mit Speise und Trank erquickt. Während des Mahles wurden ihnen durch Vertreter der Stadt deren Grüße übermittelt.
Musik und Gesangsvorträge sorgten für Unterhaltung.

Für die durch die Polen hartbedrängten deutschen Bewohner Oberschlesiens fand am 19. September auf dem Marktplatze eine Sympathiekundgebung statt, bei welcher Erster Bürgermeister Wurm und Pfarrer Lic. Geibel – Apollensdorf Ansprachen hielten. Am Schluß wurde eine einstimmig angenommene Entschließung verlesen.

Am 14. November hielten die im Wittenberger, „Jugendring“ vereinigten Jugendvereine auf dem Marktplatze eine Versammlung ab, um gegen den die Jugend vergiftenden Schmutz in Wort und Bild zu protestieren, wobei Pfarrer Lic. Geibel die Ansprache hielt.
Eine von auswäris kommende politisch-radikale Wandergruppe versuchte die Veranstaltung in ungehöriger Weise zu stören, was berechtigten Unwillen erregte.

Der 150. Geburtstag Beethovens (16. Dezember) wurde durch die hiesige Volkshochschule in einer stimmungsvollen Gedenkfeier am 17. November begangen.
Am folgenden Abend ließ diese durch 60 Musiker des Dessauer Friedrich-Theaters (ehem. Hoftheater) ein Beethoven-Konzert ausführen, in welchem Beethovensche Tonwerke zum Vortrag gelangten.

Die 400 jährige Wiederkehr des Tages, an dem Luther die päpstliche Bannbulle vor dem Elstertore verbrannte (10. Dezember 1520) und sich damit auch äußerlich von der römischen Kirche lossagte, wurde durch eine größere Gedenkfeier begangen. Zu deren Ausgestaltung hatte die Stadtverordnetenversammlung bereits am 14. September 12 000 M. bewilligt.

Zur Jubelfeier war die Stadt in einfacher aber würdiger Weise geschmückt. Grüne Tannengewinde zierten die Denkmäler der Reformatoren sowie alle Reformationsgedenk-Stätten.
Wegen des Flaggenstreites, den die Nationalversammlung durch den Beschluß herbeigeführt hatte, die alten Reichsfarben schwarz-weiß-rot durch die Farben schwarz-rot-gold zu ersetzen, hatte man von der Verwendung von Fahnen im offiziellen Festschmuck abgesehen.

Der eigentlichen Gedenkfeier voran ging eine Vorfeier am Donnerstag, den 9. Dezember.
Nachmittags 3½ Uhr läuteten die Glocken der Stadtpfarrkirche und Schloßkirche das Fest ein.
Um 4 Uhr nachmittags fand im Festsaale des Melanchthongymnasiums unter Mitwirkung des Gymnasialchors die Eröffnungsfeier statt, in der Erster Bürgermeister Wurm den Festteilnehmern den Gruß der Lutherstadt Wittenberg entbot, Daran schloß sich eine Festsitzung der Luthergesellschaft, bei welcher Prof. D. Dr. Böhmer – Leipzig den Festvortrag hielt über
Die Bedeutung der Tat Luthers vom 10. Dezember 1520.“
Am Abend gelangte im Balzerschen Saale das Festspiel
„Luther auf der Wartburg“ von Friedrich Lienhardt durch Wittenberger Einwohner zur Aufführung, das in seiner vortrefflichen Darstellung eine tiefe Wirkung erzielte.

Der Gedenktag am 10. Dezember wurde früh 8 Uhr durch Blasen von Lutherchorälen vom Turm der Stadtpfarrkirche eingeleitet.
Vor der Tür der Schloßkirche sang die Kurrende Lutherlieder.
Der Raum um die Luthereiche war zum Festplatz umgewandelt worden. Hier versammelten sich von 9 Uhr ab die Kurrende und die oberen Klassen der hiesigen Schulen sowie verschiedene Vereine, während die übrigen Teilnehmer sich zum Festzuge im Hofe des Lutherhauses ordneten.

Um 9½Uhr bewegte sich von hier aus unter Glockengeläut und Musikbegleitung der Festzug zunächst zur Luthereiche. An seiner Spitze wurde die Stadtfahne getragen.
Hinter ihr schritten die Mitglieder des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung und die Mitglieder beider kirchlichen Körperschaften. Dann folgten mit den Mitgliedern des Festausschusses die zahlreichen Ehrengäste, unter ihnen der Vertreter der schwedischen Kirche,
– der Bischof von Nysby D. Viktor Grundgreen,
– Vertreter der schwedischen Regierung und
– der schwedischen Presse,
– die Vertreter der Lutherstädterstädte Eisenach, Erfurt und Torgau, – die Vertreter des Evangelischen Oberkirchenrats,
– des Konsistoriums der Provinz Sachsen,
– der Regierung zu Merseburg,
– der Provinzialsynode und
– der Berliner Universität.
Ihnen schlossen sich an die Lehrerschaft Wittenbergs, die Mitglieder des Domkandidatenstifts Berlin, Rektor, Dekane und Professoren der Universität Halle-Wittenberg in ihrer Amtstracht und rund 200 Studierende dieser Hochschule mit Mütze und Band.

An der Luthereiche richtete nach dem Gesang des Lutherliedes
„Was kann euch tun die Sünd‘ und Tod?“
Prof. D. Jordan an die Versammlung eine Ansprache, in welcher er herausstellte, wozu uns die Tat Luthers ermahnen soll.
Namens der Stadt Wittenberg wurde an der Luthereiche ein Lorbeerkranz niedergelegt.
Nach abermaligem Choralgesang ordnete sich der Festzug von neuem, in den sich nun die Kurrende, die Schulen, die Schützengesellschaft, Innungen und eine große Zahl von kirchlichen, militärischen und anderen Vereinen einreihte.
Den Schluß bildeten die sonstigen Teilnehmer aus der Stadt und ihrer Umgebung.

Nach Eintreffen des Zuges in der Stadtpfarrkirche begann hier der Festgottesdienst, der durch Orgelspiel und Gesänge des Kirchenchors unter Leitung von Musikdirektor Straube musikalisch reich ausgestattet wurde.
Der von Superintendent D. Orthmann gehaltenen Festpredigt folgte eine Ansprache des Generalsuperintendenten D. Schöttler –  Magdeburg.

Nachmittags 5 Uhr vereinigten sich die Festteilnehmer im gleichen Gotteshause zur Luther-Weihefeier.
Bei dieser gelangten Joh. Seb. Bachs Reformationskantaten
„Sie werden euch in den Bann tun“ und
„Ein feste Burg ist unser Gott“ durch den Kirchenchor unter Mitwirkung auswärtiger Solokräfte und der Begleitung des durch auswärtige Künstler verstärkten städtischen Orchesters zu einer wohlgelungenen Aufführung.
Pfarrer Knolle verlas Lutherworte und Prof. D. Dr. Fider – Halle hielt die eindrucksvolle Weiherede.

Notgeld – Stadt Wittenberg

Zur Erinnerung an die Jubelfeier der Bannbullenverbrennung gab die Stadt eine besondere Serie von je 10 Stück Notgeldscheinen heraus. Jeder Schein hatte einen Nennwert von 50 Pf. und trug auf der blauen Vorderseite das Wappen der Stadt Wittenberg in leuchtendem Rot und auf der Rückseite auf Goldgrund das Bild Luthers mit seinem auf die Bannbullenverbrennung sich beziehenden Ausspruch.

1921

Eine grauenvolle Bluttat setzte am 21. Februar die Bewohner der Stadt in Aufregung.
In der Nacht vom 20. zum 21. Februar tötete der Drechsler Harpke im „Bahnhofshotel“, wo er sich ein Zimmer gemietet hatte, seine Geliebte, die Witwe Dreßler, durch Zerschneiden der Halsschlagader und durch zwei Revolverschüsse deren vierjährige Tochter, worauf er durch Zerschneiden der Halsschlagader Selbstmord beging. Harpke, dem in seiner Eigenschaft als unbesoldetem Stadtrat das Dezernat der Ortskohlenstelle anvertraut war, hatte in diesem Amte umfangreiche Unterschlagungen begangen.
Die allgemeine Teilnahme wandte sich der ehrbaren Frau des Harpke, Mutter von acht Kindern, zu.

Am 25. Februar beging die hiesige Landwirtschaftliche Winterschule die Jubelfeier ihres 50 jährigen Bestehens unter zahlreicher Beteiligung ihrer ehemaligen Schüler und zahlreicher Ehrengäste. Am Vormittag fand im kleinen Saale des Restaurants „Zur Reichspost“ eine Festsitzung statt, bei welcher der Leiter der Schule, Ökonomierat Dr. von Spillner, die Festrede hielt.
Seitens der Provinzialverwaltung,
– der Landwirtschaftskammer der Provinz Sachsen,
– der Regierung zu Merseburg, des Kreises und der Stadt Wittenberg,
– des Landwirtschaftlichen Kreisvereins,
– des Kreis-Landbundes,
– des Vereins ehemaliger Wittenberger Winterschüler und
– der Landwirtschaft des Nachbarkreises Schweinitz wurden durch deren Vertreter Glückwünsche überbracht.
Im Anschluß daran wurde eine vom Verein ehemaliger Wittenberger Winterschüler und den derzeitigen Schülern gestiftete eichene Gedenktafel für die im Weltkriege gefallenen 76 ehemaligen Wittenberger Winterschüler überreicht, die im Schulgebäude der Anstalt angebracht wurde.
Von den ehemaligen Schülern der Wittenberger Winterschule nahmen 625 am Weltkriege teil.
Den Tag beschloß eine Festfeier im Balzerschen Saale mit Festprolog, Konzert, Theater und Ball.

Wie im Osten so sollte auch in Oberschlesien eine Abstimmung der Bewohner und aller in Oberschlesien geborenen erwachsenen Personen über das Schicksal dieses Landes entscheiden.
An dieser nahmen aus Stadt und Kreis Wittenberg etwa 200 Abstimmungsberechtigte teil. Um die Kosten für deren Reise, Aufenthalt, Verpflegung usw. aufzubringen, wurde auch in unserer Stadt vom 12. bis 15. März eine Oberschlesische Opferwoche veranstaltet.
Sie bestand aus geselligen Veranstaltungen der Vereine, einer mit Ansprache, Massenchören der vereinigten Gesangvereine und Platzmusik ausgestatteten Sympathiekundgebung in den Anlagen am Melanchthongymnasium, Sportfest im Hofe der Kavalierkaserne, Oberschlesischen Kirmesfeiern in den Lokalen der Stadt, Volksbelustigungen auf dem Arsenalplatze und einem Unterhaltungsabend in Balzers Festsälen, wobei die Ziehung für die gleichzeitig veranstaltete Oberschlesische Lotterie vorgenommen wurde.
Der Reinertrag sämtlicher Veranstaltungen floß der Oberschlesischen Grenzspende zu.

Die letzten Märztage und ersten Apriltage waren wiederum von Generalstreik und Unruhen erfüllt.
Im mitteldeutschen Kohlenbezirk, in Sachsen, Thüringen usw. kam es sogar zum offenen Aufruhr, Plünderungen, Dynamitattentaten ua. Verbrechen.
Die von gewissenlosen Führern aufgehetzten bewaffneten Arbeitermassen führten vielfach mit der Reichswehr ua. Sicherheitstruppen blutige Kämpfe.
Im Freistaat Sachsen war der Kommunistenführer Hölz und seine Genossen der Schrecken der Bevölkerung.

Der Streik griff auch auf Wittenberg und seine Umgebung über, wo sämtliche Betriebe vom 25. März bis 3. April stillgelegt wurden. Erfreulicherweise aber kam es in unserer Stadt zu keinen Ruhestörungen und Ausschreitungen.

Das ganze verwerfliche Unternehmen, das unserem Wirtschaftsleben schweren Schaden zufügte, brach schließlich zusammen.
Die beim Aufruhr und Verbrechen gefaßten Personen wurden gefangen gesetzt.
Ein Teil derselben wurde in Wittenberg in der zur Strafanstalt umgewandelten Brückenkopf-Kaserne untergebracht.

Am 18. April verteidigte Luther in Worms vor Kaiser und Reich mit unerschrodenem Mute seinen Glauben und seine Lehre. Die 400 jährige Wiederkehr dieses Tages wurde in unserer Stadt durch eine von der evangelischen Kirchen-gemeinde, der Luthergesellschaft und dem Hauptverein des Evangelischen Bundes der Provinz Sachsen veranstaltete Worms Gedenkssier am 17, 18. und 19. April festlich begangen.

Am Morgen des 17. April läuteten die Glocken der Stadtpfarrkirche und der Schloßkirche die Jubelfeier ein.
Im Festgottesdienst der Stadtpfarrkirche predigte Superintendent D. Orthmann über das Schriftwort Röm. 1, 16:
„Ich schäme mich des Evangeliums von Christo nicht.“
Nach Schluß des durch die Gesänge des Kirchenchors ausgestatteten Festgottesdienstes begaben sich die kirchlichen Körperschaften in geschlossenem Zuge nach dem Marktplatze, um an den geschmückten Denkmälern Luthers und Melanchthons Kränze niederzulegen.

Um 10½Uhr vereinigte ein Kinder- Festgottesdienst die evangelischen Schüler und Schülerinnen in der Stadtpfarrkirche, bei welchem Pfarrer Doden die Festansprache hielt.
Im Anschluß daran fand am Lutherdenkmale eine von Lehrer Noack geleitete gesangliche Huldigungsfeier der hiesigen evangelischen Schulen statt.

Eine festliche Feierstunde bildete die nachmittags 3 Uhr in der Stadtpfarrkirche stattfindende Weihefeier. In ihrem Mittelpunkte standen die von Pfarrer Knolle verlesenen Lutherworte, die musikalische Darbietungen umrahmten.
Hierzu hatten sich der Kirchenchor mit auswärtigen Solokräften und das durch Mitglieder des Leipziger Gewand haus- Orchesters verstärkte Städtische Orchester unter der Leitung von Musikdirektor Straube vereinigt. Den Höhepunkt bildete Joh. Seb. Bachs tongewaltige Kantate
„Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort.“

Den Abschluß des ersten Festtages bildete die von der Luthergesellschaft im „Schützenhause“ veranstaltete Festversammlung.
Im Auftrage der Luthergesellschaft eröffnete D. Jordan diese durch eine Begrüßungsansprache. Den Festvortrag hielt Prof. Dr. Roethe –  Berlin über „Luther in Worms und auf der Wartburg.“

Ant zweiten Festtage vormittag hielt die Luthergesellschaft im Sitzungssaale des Bugenhagenhauses eine Mitgliederversammlung ab. Im Anschluß an diese begaben sich die Teilnehmer zur Schloßkirche, wo am Grabe Luthers unter Weihesprüchen ein Lorbeerkranz niedergelegt wurde.

Die Glocken der Stadtpfarrkirche und das Blasen von Lutherchorälen von deren Türmen leitete am Nachmittag die Gedenkfeier des Evangelischen Bundes ein.
Im Stadtverordneten-Sitzungssaale des Rathauses begrüßte Erster Bürgermeister Wurm die Mitglieder namens der Lutherstadt.
Der Vorsitzende vom Hauptverein des Evangelischen Bundes, Geh. Justizrat Elze – Halle, dankte für den herzlichen Willkommensgruß. Im Anschluß hieran begann um 4½ Uhr die Feier am Lutherdenkmal mit dem Gesange des Lutherliedes
„Ein feste Burg ist unser Gott“, worauf Generalsuperintendent D. Schöttler – Magdeburg an die Versammelten eine Ansprache richtete, in der er die Bedeutung der Luthertat von Worms eingehend würdigte.
Am Schluß der Feier legte der Vorsitzende des Hauptvereins am Lutherdenkmal einen Kranz nieder.

Bei dem nachmittags 5 Uhr in der Schloßkirche stattfindenden Festgottesdienste hielt Hof- und Domprediger D. Döhring-  Berlin die Festpredigt.

Bei der am Abend stattfindenden Festversammlung im Balzerschen Saale gedachte Geh. Justizrat Elze – Halle in seiner Eröffnungsansprache mit dankbaren, ehrenden Worten der vor wenigen Tagen in der Verbannung in Holland gestorbenen Kaiserin Auguste Viktoria, deren Leiche zur gleichen Stunde nach der deutschen Heimat überführt wurde.
Nach der Begrüßung durch den Vorsitzenden des Wittenberger Zweigvereins, Dr. Conradi, und des Schriftführers vom sächsischen Landesverein, Pfarrer Hoffmann, hielt Superintendent Brinkmann –  Halberstadt den Festvortrag über
„1521-1921. Römische Gefahr und evangelische Abwehr.“
Mit einer Schlußansprache des Superintendenten D. Orthmann und Gesang schloß die Festversammlung.

Der dritte Festtag wurde durch die Abgeordneten und Mitgliederversammlung des Evangelischen Bundes ausgefüllt.
Bei dieser hielt Generalsuperintendent D. Schöttler – Magdeburg einen Vortrag:
„Zehn Gebote für den evangelischen Wehr- und  Liebesdienst.“
In die Versammlung hinein tönten von den Kirchtürmen der Stadt die Trauerglocken für die verstorbene Kaiserin.

Der schönste Schmuck und der Stolz unserer Stadt sind ihre Anlagen, die in den letzten Jahren wesentlich erweitert und verschönert wurden. In erster Linie ist dies das Verdienst des langjährigen Vorsitzenden der städtischen Promenadenverwaltung, des Ehrenbürgers Stadtrat Paul Leonhardt.
In Anerkennung seiner Verdienste errichtete ihm die Stadt Wittenberg in den Anlagen am westlichen Ufer des Schwanenteichs eine Ehrentafel aus Sandstein, die am 12. August enthüllt wurde. Hierbei hob Erster Bürgermeister Wurm in einer Ansprache die Verdienste Leonhardts hervor und sprach ihm den Dank der Stadt Wittenberg aus.

Bei der am 20. August erfolgten Neuverpachtung der Brückengeld-Einnahme an der Elbbrücke wurde statt der bisherigen Pachtsumme von jährlich 13 327 M. das Höchstgebot mit 35 410 M. abgegeben. Diese Summe erhöhte sich jährlich um 2 Prozent.

Am 26., 28. und 30. Oktober fand im Balzerschen Saale durch Wittenberger Bürger und Bürgerinnen die Aufführung des Lutherfestspiels von Hans Herrig bei zahlreichem Besuch und nachhaltigem Eindruck statt. Eine besonders starke Wirkung erzielte die von cand. theol. Knoth dargestellte Person Luthers.
Die einzelnen Bilder des Festspiels wurden von Gesängen des hiesigen Lehrergesangvereins umrahmt.

Im Gegensatz hierzu standen die zahlreichen Kirchenaustritte, die eine Folge der gegen Religion und Kirche betriebenen Hetze waren. Bis Mitte November waren hier insgesamt 2 200 Personen aus der evangelischen Kirche ausgetreten, und zwar 700 in der eigentlichen Stadt und 1 500 in den Vororten Kleinwittenberg und Piesteritz. Ende November hatte aber die Bewegung den Höhepunkt erreicht, und es fanden seitdem fortgesetzt Rücktritte zur Kirche statt.

1922

Das Jahr 1922 setzte mit starker, anhaltender Kälte ein, die nach 10 Jahren zum ersten Male wieder das Eis der Elbe zum Stehen brachte, sodaß man überall darüber gehen konnte.
Erst am 26. Februar brach das Eis wieder auf.

Am 25. Januar wurde das Dessauer Friedrich – Theater (ehem. Hoftheater), dessen Vorstellungen auch von den Bewohnern unserer Stadt von jeher zahlreich besucht waren, ein Raub der Flammen.
Leider kamen dabei die Kammersängerin Frau Herling und ein Friseurgehilfe ums Leben.

Der Monat März brachte abermals eine Lutherfeier.
Am 6. März 1522 kehrte Luther aus dem Frieden der Wartburg in sein von den Schwarmgeistern bedrohtes Wittenberg zurück und rettete unter Verachtung der dem Geächteten drohenden Gefahren durch seine gewaltigen Predigten, die er vom Sonntag Invokavit ab acht Tage lang alltäglich hielt, das Werk der Reformation aus der Sturmflut schlimmster Verirrung und Verwirrung.

Der Vorstand der Lutherhalle und der Luthergesellschaft vereinigten sich, um die 400 jährige Wiederkehr dieses Tages in einer seiner Bedeutung würdigen Weise durch eine Invokavitfeier zu begehen.
Die Anwesenheit von zahlreichen Vertretern der evangelischen Kirchen aus dem In- und Auslande gab der Feier eine über die Grenzen Deutschlands hinausreichende Bedeutung.
Vertreten waren die evangelischen Kirchen von Amerika, Dänemark, Estland, Finnland, Holland, Norwegen, Österreich, Schweden, Tschechoslowakei, Ukraine, Ungarn.
Mit dem Präsidenten des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses D. Moeller- Berlin und dem Präsidenten der Deutschen Evangelischen Kirchenkonferenz D. Beit – München waren die Vertreter sämtlicher evangelischen Kirchenregierungen Deutschlands erschienen, ebenso so die Vertreter von 13 deutschen Universitäten.
Das preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung war vertreten durch den Minister Dr. Boelitz und den Staatssekretär Dr. Becker, die Schwedische Gesandtschaft durch Baron von Essen.
Neben den Vertretern der Lutherstädte Eisenach, Erfurt und Worms bemerkte man die Vertreter einer großen Reihe von befreundeten freien kirchlichen Organisationen.

Am Sonnabend den 4. März nachmittags 6 Uhr leitete Glockengeläut und Blasen von Lutherchorälen vom Turme der Stadtpfarrkirche die Feier in üblicher Weise ein.
Die überaus zahlreiche Beteiligung machte es nötig, die abends 8 Uhr beginnende Begrüßungsfeier auf zwei Orte – die Schloßkirche und den Saal des „Volksgartens“ – zu verteilen.
In der Schloßkirche begrüßte die Versammlung für die Lutherhalle Regierungspräsident D. von Gersdorff – Merseburg, für die Luthergesellschaft Oberpräsident a.D. D. von Hegel – Merseburg, für die Stadt Wittenberg Erster Bürgermeister Wurm, für die evangelische Kirchengemeinde Wittenberg Superintendent D. Orthmann.
In der Parallelversammlung im „Volksgarten“ übermittelten die Grüße
– Oberregierungsrat Dr. Thelemann – Berlin,
– Prof. D. Dr. Liezmann – Jena,
– Stadtrat Paul Friedrich und
– Oberbürgermeister i. R. Dr. Schirmer.
Die Antworten auf diese Begrüßungen waren so verteilt, daß in der Schloßkirche die Vertreter der kirchlichen Behörden und im „Volksgarten“ das synodale Element zu Worte kam.
Es sprachen ua.
– der Präsident des ev. Oberkirchenrats D. Moeller- Berlin,
der Präsident der ev. Kirchenkonferenz D. Veit – München,
– der Rektor der Universität Halle-Wittenberg
Geh. Rat Prof. Dr. von Stern,
– der Präsident der Verfassunggebenden Kirchenversammlung
D. Reinhardt – Stettin,
– für die Innere Mission D. Spieker,
– für die Gustav Adolf-Stiftung D. Rentorf.
Aus dem Auslande übermittelten ua. Grüße:
– Erzbischof D. Soederblom – Upsala,
– Bischofs Gummerus – Finnland,
– Dr. Jörgensen – Kopenhagen,
– Bischof Raffey – Budapest,
– Dr. Wehrenpfennig – Gablonz,
– Juner – Kiew,
– Alen Wehrli – Amerika,
– Bischof Kukk – Estland,
– Hofrat Molin – Wien,
– Pastor de Haas – Utrecht.
An den Gräbern der Reformatoren wurden nach einer Ansprache Professor Dr. Jordans Kränze niedergelegt.
Gesangsvorträge der Wittenberger Männerchöre statteten beide Begrüßungsfeiern musikalisch anziehend aus.

Als Einleitung des Hauptfesttages (Sonntag, Invokavit 5. März) trugen Posaunenklänge Lutherchoräle vom Turme der Stadtpfarrkirche hin über die feiernde Stadt, und vor dem Standbilde Luthers ließen die Kurrendeschüler Lutherlieder erklingen.

Bis um 10 Uhr vormittags hatte sich vor dem Bugenhagenhause der Festzug aufgestellt, der sich unter Glockengeläut nach der Stadtpfarrkirche bewegte.
Ihn eröffneten die Chargierten der Universität Halle-Wittenberg mit den Fahnen der einzelnen Korporationen, denen sich anschlossen die Vertreter der Kirche, der Stadt und des Kreises Wittenberg, der Vorstand der Lutherhalle und der Luthergesellschaft, der Rektor und die Dekane der Universität Halle Wittenberg in ihrer farbigen Amtstracht.
Es folgten die Vertreter der übrigen evangelischen Fakultäten etwa 30 an der Zahl die Geistlichkeit, die Vertreter des Auslandes, die Staats- und Kirchenbehörden.

Im Festgottesdienste erweckte die von Oberkirchenrat D. Cordes – Leipzig gesungene Liturgie musikalisch besonderes Interesse.
Die Festpredigt, die Bischof Dr. Gummerus Borga – Finnland hielt, knüpfte an Marc. 4, 26-29 an und zeigte, wie die Kirche der Reformation als Kirche des Wortes und des Gottesgeistes die Welt überwunden hat.
Die weihevolle Stimmung wurde erhöht durch die Gesänge des Oratorien- und Kirchenchors unter Musikdirektor Straubes Leitung.

Bei dem Festmahle im „Goldenen Adler“ nahm ua. auch der Kultusminister Dr. Boelitz das Wort.
Den musikalischen Höhepunkt des des Festtages bildete wieder die abends 8 Uhr in der überfüllten Stadtpfarrkirche stattfindende Weihefeier. Die von Pfarrer Knolle verlesenen Lutherworte im Verein mit Joh. Seb. Bachs echt protestantischer Kirchenmusik
(ua. die Kantaten „Ach Gott, vom Himmel sich darein“ und
„Die Himmel erzählen die Ehre Gottes“), die vom Oratorien- und Kirchenchor unter Mitwirkung auswärtiger Solisten und der Begleitung der durch Mitglieder des Leipziger Gewandhaus-Orchesters verstärkten Jahnkeschen Kapelle ausgeführt wurde, schufen eine Stunde höchster Erbauung.
Sie wurde noch vertieft durch die Weiherede des Geh. Konsistorialrats D. Dr. Fider-  Halle, welche zeigte, wie Luther sich zum Reformator vollendet.

Den dritten Festtag am 6. März eröffnete eine Frühandacht in der Schloßkirche, die sich in ihrem liturgisch musikalischen Aufbau an die vorreformatorischen Morgenfeiern anlehnte.
Die von Studieninspektor Schmeling gehaltene Liturgie und die Ansprache von D. Jörgensen – Kopenhagen wechselten mit Gesängen der Konfirmanden und Kurrende.

Um 10½ Uhr trat die Luthergesellschaft zu einer Festsitzung zusammen, bei welcher Geh. Konsistorialrat Prof. D. Dr. Holl – Berlin den Festvortrag über „Luther und die Schwärmer“ hielt.

Die Schlußfeier in der Stadtpfarrkirche hatte noch einmal die Festteilnehmer zahlreich versammelt.
In einem gedankenreichen Vortrage behandelte der schwedische Erzbischof D. Goederblom – Upsala die Notwendigkeit und Möglichkeit des Zusammenschlusses der evangelischen Kirchen.

Am Nachmittage traten die Freunde des Einigungsgedankens zusammen, um in vertraulicher Besprechung die Wege des Zusammenschlusses zu erörtern.

Zur Erinnerung an die Invokavitfeier gab der Vorstand der Lutherhalle eine Serie von 6 Stück Luther-Notgeldscheinen im Nennwert von je 50 Pf. heraus, die auf der Vorderseite ein Lutherbildnis und auf der Rückseite eine Lutherstätte Wittenbergs zeigen.

Was der Sonntag Invokavit vorbereitet, das wurde am Himmelfahrtstag vollendet:
die Gründung des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes.
Kein anderer Ort war für die bedeutungsvolle Tat des Zusammenschlusses der evangelischen Landeskirchen besser geeignet, als die Geburtsstätte der evangelischen Kirche, die Lutherstadt Wittenberg.

Maiensonnenschein und die Blütenpracht unserer Anlagen, die den äußeren Festschmuck von dem man diesmal abgesehen hatte reichlich ersetzte, begrüßte die Vertreter der evangelischen Landeskirchen und die Festgäste, die aus allen Teilen des Reichs herbeigekommen waren.
Das volle Festgeläut der Glocken und Choralblasen vom Turme der Stadtpfarrkirche leitete in hergebrachter Weise am Nachmittag des 24. Mai die bedeutungsvolle Feier ein.
Um 4½ Uhr begrüßte Oberbürgermeister Wurm im Rathaussaale namens der Stadt die Gäste, für die der Präsident des Evangelischen Oberkirchenrats D. Moeller – Berlin herzlichen Dank aussprach. Nach einer von der Stadt in den Räumen des Rathauses gebotenen Erfrischung begaben sich die Teilnehmer nach dem Sitzungssaale des Bugenhagenhauses, wo ihnen Superintendent D. Orthmann den Willkommensgruß der evangelischen Kirchengemeinde Wittenberg entbot.

Abends 8 Uhr vereinigte eine musikalisch reichausgestattete Vesper die Festgäste mit den Bewohnern der Lutherstadt in der Stadtpfarrkirche.
Unter der Leitung von Musikdirektor Straube hatte sich zur Ausführung des musikalischen Teils der Oratorien- und Kirchenchor, unterstützt von auswärtigen Kräften, mit dem von Mitglieders:
des Leipziger Gewandhauses verstärkten Jahnkeschen Konzertorchester zusammengeschlossen.
Im Mittelpunkte der Andachtstunde stand die Ansprache des Generalsuperintendenten D. Weisel – Dortmund, die an Math. 28, 18 anknüpfte:
„Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden.“

Posaunenklänge vom Turm der Stadtpfarrkirche und der Gesang der Kurrende im Hofe des Lutherhauses leiteten den kirchengeschichtlich so wichtigen Himmelfahrtstag ein.
Vormittags 9½ Uhr fand für die Vertreter der Landeskirchen in Luthers Wohnzimmer eine von Prof. D. Jordan geleitete kurze Andacht statt.
Inzwischen ordneten sich die Teilnehmer zum gemeinsamen Kirchgang nach der Schloßkirche.
An der Spitze schritten die Vertreter sämtlicher deutschen Landeskirchen und die Ehrengäste, unter ihnen der
– preußische Kultusminister Dr. Boelitz,
– Ministerialdirektor Dr. Fleischer,
– Generalsuperintendent D. Reinhardt – Stettin.
Es folgten die Vertreter der kirchlichen und städtischen Körperschaften Wittenbergs, die kirchlichen Vereine, die Mitglieder des Predigerseminars, evangelische Vereine der Provinz Sachsen und zahlreiche Bewohner der Lutherstadt.

Im Festgottesdienst, der mit Orgelspiel und Gesängen anziehend ausgestattet war, hielt nach der vom Landesoberpfarrrer D. Reichardt – Eisenach geleiteten Festliturgie D. Veit, der Präsident des Evangelisch-Lutherischen Kirchenrats in München, die Festpredigt, der er das Schriftwort zugrunde legte:
„Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“

Auf Luthers Tische aus dem Lutherhause erfolgte hierauf über dem Grabe des Reformators die von Weihesprüchen begleitete Unterzeichnung der Urkunde über die Errichtung des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes durch die Vertreter der einzelnen Landeskirchen.
Präsident D. Moeller erklärte sodann die Gründung als rechtsgültig vollzogen und legte namens des neugegründeten Kirchenbundes als Ausdruck des Gelübdes an Luthers und Melanchthons Grabe Kränze nieder, worauf die eindrucksvolle Feier mit Händels
„Halleluja“ aus dem „Messias“ abschloß.

Die Teilnehmer begaben sich hierauf zur Schlußfeier nach dem Marktplatze, wo D. Freiherr von Pechmann – München die zündende Schlußansprache hielt, die von Gesängen der vereinigten Wittenberger Männergesangvereine umrahmt wurde.
Während die Festgemeinde Luthers Schutz- und Trutzlied unter Posaunenklang erschallen ließ, wurden von den Wittenberger Jugendvereinen, für die vorher in der Stadtpfarrkirche ein Festgottesdienst abgehalten worden war, an den Denkmälern der beiden Reformatoren Kränze niedergelegt.
Mit Posaunenklängen und dem vollen Geläute der Glocken klang der Himmelfahrtstag aus, der einen Markstein in der Geschichte unserer evangelischen Kirche bildet.

Von großer Bedeutung für unsere Stadt ist der 1. April 1922.
Mit diesem Tage schied diese nach Genehmigung des zwischen Stadt und Kreisvertretung abgeschlossenen Auskreisungsvertrags durch Bezirksausschuß und Ministerium des Inneren aus dem Landkreis Wittenberg aus und bildete hinfort den selbständigen Stadtkreis Wittenberg.
Die Stadt, welche bei der neuen Orts Klasseneinteilung von Ortsklasse C nach B aufrückte, zählte 25 136 Einwohner.
Dem Landkreis Wittenberg verblieb das Kreishaus mit der Kreissparkasse und die Villa „Christiana“ als alleiniges Eigentum.
Die Stadt Wittenberg zahlte diesem außerdem 500 000 M. Barabfindung und übernahm von dessen Verpflichtungen 1 350 000 M.
Anfang Mai wurde Bürgermeister Wurm der Titel Oberbürgermeister verliehen.

Am 8. Mai wurde in einer zahlreich besuchten Versammlung im Sitzungssaale des Bugenhagenhauses eine,
„Vereinigung für volkstümliche Reformationspiele“ gegründet, die den Zweck verfolgte. Spiele, die Luther und die Reformation zum Gegenstande haben, zur Aufführung zu bringen.
Zum 1. Vorsitzenden wurde Stadtrat a. D. Lauter gewählt.

Am Sonntag, den 21. Mai, fand unter zahlreicher Beteiligung hiesiger und auswärtiger Militärvereine, die mit 18 Fahnen erschienen, und unter Mitwirkung der Wittenberger Männergesangvereine die feierliche Weihe des Grundsteins zum Denkmal für die im Weltkriege gefallenen Angehörigen des 20. Infanterieregiments in den Anlagen am östlichen Ufer des Schwanenteichs statt.
Die Weiherede hielt Propst Stolze – Klöden, die Weihe vollzog Oberst a. D. Jarotzky.

Am Sonnabend, den 17. Juni, feierte der „Männergesangverein von 1862“ sein 60 jähriges und der Männergesangverein „Polyhymnia“ sein 50 jähriges Bestehen durch ein gemeinsames Festkonzert im Balzerschen Saale.

Im Anschluß daran beging der „Sängerbund an der Saale“ am 24. und 25. Juni in Wittenberg die Feier seines 75 jährigen Bestehens durch ein Bundes-Sängerfest.
Am Sonnabend, den 24. Juni, leitete ein Kirchenkonzert in der Stadtpfarrkirche das Fest ein. Daran schloß sich ein Festkommers in Balzers Saale.
Am Sonntag, den 25. Juni vormittags 11 Uhr begrüßte Oberbürgermeister Wurm die auf dem Marktplatze versammelten Bundesvereine namens der Stadt.
Am Nachmittag fand in Balzers Saale ein durch Gruppenchöre, Einzelgesang und Orchestervorträge reich ausgestattetes Festkonzert unter Leitung des Bundes-Chormeisters Schulze – Halle statt.

Am 7. Juli trat die Stadtverordnetenversammlung dem Magistratsbeschluß auf Zusammenschluß der Stadt Wittenberg mit der Thüringer Gasgesellschaft zu einer gemeinsamen Gesellschaft „Licht- und Kraftwerke Witttenberg, GmbH.“ bei.
In dem abgeschlossenen Vertrage verpflichtet sich die Gesellschaft, für eine ausreichende, ununterbrochene Versorgung der Stadt mit Gas und Elektrizität Sorge zu tragen.
Das städtische Gaswerk und Elektrizitätswerk bleiben Eigentum der Stadt Wittenberg, werden jedoch der Gesellschaft gegen Entschädigung zur Verfügung gestellt.
Das Stammkapital beträgt 500 000 M., von denen die Stadt 300 000 M. und die Thüringer Gasgesellschaft 200 000 M. als Einlage zu leisten hatte.
DerReingewinn des Unternehmens wird nach Abzug der an die Stadt zu gewährenden Vorleistungen an die Gesellschafter nach Maßgabe ihrer Geschäftsanteile verteilt.
Das Abkommen fand freilich in der Einwohnerschaft der Stadt nicht ungeteilte Zustimmung.

In Verbindung mit der „Vogelwiese“ fand am 30. Juli bis 3. August das 30. Provinzial-Bundesschießen der Provinz Sachsen und der Freistaaten Anhalt und Braunschweig in unserer Stadt statt. Eröffnet wurde es am Sonntag den 30. Juli mit einem Festzuge durch die Hauptstraßen, an dem sich 33 Vereine mit dem Bundesbanner und 31 Fahnen und 4 Musikkapellen beteiligten. Oberbürgermeister Wurm begrüßte die vor dem Rathaus aufmarschierten Schützen namens der Stadt Wittenberg.
Für das Preisschießen waren zahlreiche wertvolle Preise gestiftet, die in einem eigens errichteten Gabentempel ausgestellt wurden.

Am 26. und 27. August beging der „Männerturnverein von 1862“ sein 60 jähriges Bestehen durch Festkommers, Festzug durch die Stadt, an dem sich die hiesigen und mehrere auswärtige Turnvereine beteiligten, Weihe des Erweiterungsbaues seiner Turnhalle und Schauturnen.

Vom 2. bis 4. Oktober tagte in Wittenberg der Lehrerverband der Provinz Sachsen.
Vertreten waren 144 Zweigvereine mit 323 Vertretern, die 6 000 Verbandsmitglieder vertraten.
Die Zahl der Versammlungsteil nehmer betrug rund 700.
In der am 3. Oktober im Balzerschen Saale abgehaltenen Vertreterversammlung wurde die Einrichtung einer Krankenunterstützungskasse beschlossen.
Am Abend wurde das von Pfarrer W. A. Sievers verfaßte Reformationsspiel
„Das Wort sie sollen lassen stahn“ oder „Ich bin und bleibe“
durch Wittenberger Bürger und Bürgerinnen zur Aufführung gebracht. Die einzelnen Bilder des eindrucksvollen Spiels begleitete der Lehrergesangverein mit entsprechendem Choralgesang.

In der Hauptversammlung am 4. Oktober wurden nach der üblichen Begrüßung durch die Vertreter der Behörden (Oberpräsidium. Konsistorium, Regierung zu Merseburg, Stadt Wittenberg) und des Deutschen und Preußischen Lehrervereins, sowie des Lehrervereins Wittenberg und Umgegend, auf die der Verbandsvorsitzende Lehrer Horstmann – Magdeburg antwortete, folgende Vorträge gehalten:
– 1. Die Lehrerbildungsfrage (Ref.: Rektor Breitbarth – Halle).
– 2. Staatsrecht und Elternrecht (Ref.: Prof. Dr. Fleischman – Halle und Lehrer Hermes – Halberstadt).

An die Hauptversammlung schloß sich am Nachmittag eine mit Orgelvortrag und Gesang ausgestattete Weihefeier in der Schloßkirche. Den Abschluß des Tages bildete ein Unterhaltungsabend im Balzerschen Saale, bei welchem Chöre des Lehrergesangvereins, Orchestermusik des Musikvereins und turnerische Vorführungen des Männerturnvereins miteinander wechselten.

Sonntag, den 22. Oktober, beging der Evangelische Männer und Jünglingsverein die Feier seines 60 jährigen Bestehens durch Festgottesdienst in der Schloßkirche und Festversammlung in der „Herberge zur Heimat“.
Bei dieser übermittelte Stadtrat Friedrich die Glückwünsche der Stadt, Lehrer Erfurth die Glückwünsche des Gemeindekirchenrats und der evangelischen Kirchengemeinde und eine Reihe auswärtiger Vertreter die ihrer Vereine.
Am Abend fand im „Volksgarten“ ein Familienabend mit Chorgesängen und turnerischen Vorführungen statt. Die Festrede hielt Bundeswart Weigt – Berlin, das Schlußwort sprach Superintendent D. Orthmann.

Vom 22. November bis 3. Dezember veranstaltete die Liga zum Schutz deutscher Kultur in der Turnhalle der Mittelschule eine „Friedensvertrags- Ausstellung“, die im Film, in Tabellen, Plakaten und Bildern zeigte, was uns durch das Diktat von Versailles entrissen wurde und welche verderblichen Folgen dies für Deutsch-land hat.

1923

Das Jahr 1923 brachte eine für die Sicherheit der Stadt wichtige Neuerung.
Am 2. Januar wurde die neue von der Firma Siemens und Halske – Magdeburg eingerichtete Feuermelder- Anlage, deren Zentrale sich im Stadthause befand, in Betrieb genommen.
Die Alarmierung der Feuerwehr erfolgt seitdem nicht mehr durch die Sturmglocke auf dem Stadtkirchturme und Hornsignale, sondern durch Alarmglocken in den Wohnungen der Feuerwehrleute. Abends 6 Uhr des genannten Tages ließ der Türmer, dessen Posten eingezogen wurde, zum letzten Male seinen bekannten Viertelstunden-Hornruf erschallen.
Im Frühjahr 1926 wurde die Feuerwehr, die eine Umgestaltung erfuhr, mit einer Motorspritze und mechanischen Leiter ausgerüstet.

Wegen angeblicher Verzögerung der im Friedensvertrage geforderten Sachlieferungen an Holz und Kohle besetzten Franzosen und Belgier in rechtswidriger Weise das Ruhrgebiet.
Aus diesem Anlaß fanden am 13. Januar in sämtlichen Schulen Trauerfeiern und am darauffolgenden Sonntage in allen Kirchen Trauergottesdienste statt.
Im Trauergottesdienste der dichtgefüllten Stadtpfarrkirche predigte Superintendent D. Orthmann über Jos. 24, 15:
„Ich aber und mein Haus wollen dem Herrn dienen.“
Im Anschluß daran veranstaltete der Verband der Rheinländer auf dem Marktplatze unter Mitwirkung der Gesangvereine „Polyhymnia“ und „Liederhain“ eine Protestkundgebung.
Nach einer Ansprache des Pfarrers Lic. Geibel – Apollensdorf wurde eine Entschließung angenommen, in der gegen den geschehenen unerhörten Rechtsbruch Protest erhoben und die Reichsregierung aufgefordert wurde, unbeugsamen Widerstand zu leisten.
Mittags von 12 bis 1 Uhr ertönte Trauergeläut.
Die staatlichen und städtischen Gebäude hatten halbmast geflaggt. Alle Lustbarkeiten waren für diesen Tag verboten.

Die Stadtverordnetenversammlung bewilligte am 17. Januar zur Unterstützung der Ruhr-Bergarbeiter 1 Million Mark, wobei sich die kommunistische Fraktion der Stimme enthielt.
In Schulen, Vereinen und in der Öffentlichkeit wurden zum gleichen Zwecke Sammlungen veranstaltet.
Der Landbund der Provinz Sachsen zeichnete 14 Millionen Mark, der Kreislandbund Wittenberg hiervon 300 000 M.
Der Reichslandbund erklärte sich bereit, 500 000 Kinder aus dem Ruhrgebiet aufzunehmen, wovon 600 vor allem in den Landgemeinden des Kreises Wittenberg freundliche Aufnahme fanden. Leider mußte der Ruhrwiderstand im Oktober ergebnislos abgebrochen werden.

Am 5. und 6. Mai fand in Wittenberg der Regimentstag des ehemaligen Torgauer Feldartillerie Regiments Nr. 74 und der zugehörigen Formationen statt. Er wurde eingeleitet durch einen Festkommers im Balzerschen Saale.
Am Sonntag, den 6. Mai, vormittags wurde auf dem Ehrenfriedhofe ein Feldgottesdienst abgehalten.
Am Nachmittag traten die Teilnehmer auf dem Kasernenplatz der neuen Artilleriekaserne an, wo sie von General a. D. Bender begrüßt wurden. Im Anschluß daran erfolgte der Festzug durch die Stadt.

Am 10. Mai tagte hier der Verband mitteldeutscher Ortsmuseen, der von Oberbürgermeister Wurm namens der Stadt Wittenberg begrüßt wurde.
Der Vorsitzende des hiesigen Vereins für Heimatkunde und Heimatschutz Sanitätsrat Dr. Krüger hielt einen Vortrag:
„Übersicht über die Geschichte der Stadt Wittenberg.“

Zu einem großen Ereignis für unsere Stadt gestaltete sich der 3. Juni 1923. An diesem Tage wurde unter Beteiligung von Tausenden das Denkmal für die im Weltkriege Gefallenen
– des Infanterie-Regiments Nr. 20,
– des Reserve-Infanterié-Regiments Nr. 20 und
– des Landwehr- Infanterie-Regiments Nr. 20 feierlich eingeweiht.

Die Stadt war zur Feier mit Gewinden aus Tannengrün und Eichenlaub reich geschmückt, und von den Häusern wehten die Fahnen – vornehmlich in den alten Reichsfarben und den Stadtfarben – den Willkommensgruß.

Dem Weihetag voraus ging am Vorabend ein Festkommers in Balzers Saal.
Nach dem von Pfarrer Sievers verfaßten und gesprochenen Vorspruch begrüßte der derzeitige Vorsitzende des hiesigen Vereins ehem. 20 er, Finanzinspektor Hende, die Versammelten.
Oberbürgermeister Wurm überbrachte den Willkommensgruß der Stadt Wittenberg, für den General Feldmann als ältester Regimentskommandeur des ehem. 20 er Infanterie-Regiments dankte. Daran schloß sich noch eine lange Reihe weiterer Begrüßungen.

Der Weihetag wurde früh 6½ Uhr durch das Große Wecken eingeleitet. Um 10½ Uhr marschierten die Vereine und Abordnungen auf dem Hofe der Kavalierkaserne zum Regimentsappell auf, wo sie ein weites geschlossenes Viereck bildeten.

Oberbürgermeister Wurm sprach den alten ehem. 20 ern die herzlichen Willkommensgrüße der alten Garnisonstadt aus, für die General von Lochow freudig dankte.

An den Regimentsappell schloß sich unmittelbar Feldgottesdienst und Gedenkfeier an.
Die vereinigten Wittenberger Männergesangvereine eröffneten sie mit dem Gesange des „Altniederländischen Dankgebets“.
Dann richteten Divisionspfarrer Irmer – Berlin (ehem. evangelischer Garnisonspfarrer) und Pfarrer Wand – Wittenberg (ehem. katholischer Garnisonspfarrer) an die Versammelten Ansprachen. Mit dem unter Musikbegleitung gesungenen Choral
„Ich bete an die Macht der Liebe“ endete die Feier.

Hierauf ordneten sich die Teilnehmer zum Festzuge, der mehrere Tausend mit 40 Fahnen und Bannern und mehreren Musikkapellen umfaßte.
An der Spitze schritten der Denkmalsausschuß und die Generale.
Es folgten Magistrat und Stadtverordnete, Gemeindekirchenrat, Traditionstruppen, Frauengruppe, Kranzgruppe, die ehem. Regimentsangehörigen nach Bataillonen geordnet, der Kreiskriegerverband, sonstige Vereine und Abordnungen.
Der ausgedehnte Zug, auf den es unaufhörlich Blumen herabregnete, wurde auf dem ganzen Wege von einer unabsehbaren Menge begleitet.

Der Denkmalsplatz am östlichen Ufer des Schwanenteichs war in weitem Umkreise für die Zugteilnehmer und die zahlreich erschienenen Angehörigen der Gefallenen freigehalten, während die übrige nach Tausenden zählende Menge dichtgedrängt sämtliche Ufer des Schwanenteichs säumte.
Das Denkmal war von vier durch Tannengewinde verbundene und mit Tannenkränzen geschmückten Flaggenmasten umgeben, welche die Denkmalshülle aus schwarz weiß gestreiftem Segeltuch trugen. Vor dem Denkmal nahmen im Halbkreis die Fahnen Aufstellung.

Nach dem von den Musikkapellen gespielten Chopinschen Trauermarsch hielt Propst Stolze – Clöden die Weiherede.
Die Denkmalsweihe vollzog General Feldmann.
Während die Denkmalshülle langsam sank, neigten sich die Fahnen, und mit entblößtem Haupte sang die Menge das ergreifende Lied der Kameradentreue
„Ich hatt‘ einen Kameraden.“

Namens des Denkmalsausschusses übergab Studiendirektor Heubner das Denkmal der Stadt Wittenberg, für die es Oberbürgermeister Wurm übernahm.
Während die Glocken der Stadtpfarrkirche und der katholischen Kirche mit vollem Geläut einsetzten, wurden an den Denkmalsstufen unter Widmungssprüchen zahlreiche Kränze niedergelegt.
Mit dem von den Tausenden gesungenem Liede
„Deutschland, Deutschland über alles“
schloß die ergreifende Weihefeier.
Der Nachmittag und Abend vereinigte die Gäste mit den hiesigen Einwohnern in verschiedenen Lokalen der Stadt.

Am 22. und 23. September fand in unserer Stadt abermals eine Jubiläumsfeier statt.
Galten die Gedenkfeiern der vorausgegangenen Jahre Martin Luther und seinem Werke, so war diese Feier dem segensreichen Werke der Inneren Mission gewidmet.
Am 23. September waren 75 Jahre vergangen, seit auf dem Wittenberger Kirchentage 1848 durch die geistigmächtige Rede Wicherns die Innere Mission der evangelischen Kirche ins Leben trat und der Zentralausschuß für Innere Mission gegründet wurde. Das damals in den Ackergrund der evangelischen Kirche gelegte Senfkorn ist zu einem weitschattenden Baume, zu einem gewaltigen Werke helfender und rettender Liebe emporgewachsen, die namentlich auch in der Lutherstadt Wittenberg in zahlreichen Anstalten und Einrichtungen sich betätigt.

Zur Jubelfeier hatten sich die Vertreter des Zentralausschusses für die Innere Mission und der Wohlfahrts- Organisationen, die Vertreter der kirchlichen und staatlichen Behörden und der Universitäten in großer Zahl eingefunden.
Von außerdeutschen Ländern waren vertreten Estland, Finnland, Holland, Österreich, Polen, Rußland, Schweden, Schweiz und Tschechoslowakei.

Glockengeläut von den Türmen der Stadtpfarrkirche und Choralblasen eines von Dresdener Pfarrern gebildeten Bläser- Quartetts leiteten die Feier am 21. September ein.
Nachmittags 3 Uhr versammelten sich die Mitglieder des Zentralausschusses in dem geschmückten Sitzungssaale des Rathauses, wo Oberbürgermeister Wurm sie namens der Stadt begrüßte.
Der Präsident des Zentralausschusses, Geh. Konsistorialrat Prof. D. Dr. Seeberg – Berlin dankte für den Willkommensgruß.

Um 4 Uhr begann im Festsaale des Melanchthongymnasiums die erste Versammlung, bei welcher Prof. D. Lüttgert – Halle einen Vortrag über
„Die geistliche und sittliche Not der Studenten“ hielt.

Am folgenden Tage, den 22. September, fand im gleichen Raume die zweite Versammlung statt.
In dieser sprachen Pfarrer Schlitter – Karlshöhe und Dr. Frick –Bremen über „Die Aufgaben der Diakonie in der Gegenwart.“
Im Anschluß daran tagte die geschlossene Mitgliederversammlung.

Den Abschluß dieses Tages bildete die musikalische Abendfeier in der festlich geschmückten Stadtpfarrkirche, die von dem Oratorien- und Kirchenchor unter Musikdirektor Straubes Leitung und der Mitwirkung auswärtiger Solokräfte ausgeführt wurde.
Die Begleitung stellten das Jahnkesche Orchester und die Mitglieder des hiesigen Musikvereins.
Die Schriftverlesung geschah durch Pfarrer Knolle.

Choralblasen von den Türmen der Stadtpfarrkirche und den Plätzen der Stadt leitete den Hauptfesttag, den 23. September, ein.
Um 8¾ Uhr fand in Luthers Wohnstube für die Mitglieder des Zentralausschusses und die Ehrengäste eine von Prof. D. Jordan gehaltene Andacht statt.
Unterdessen sammelten sich im Hofe des Lutherhauses die Teilnehmer zum gemeinsamen Kirchgang nach der Stadtpfarrkirche, der unter Glockengeläut und Choralklängen des Bläserchors Collegienstraße und Marktplatz durchschritt.

Im Festgottesdienst, den die Gesänge des Oratorien- und Kirchenchors verschönten, hielt Generalsuperintendent D. Zoellner – Münster i. W. die Festpredigt im Anschluß an das Gleichnis von der Speisung der fünftausend Mann.
Wie am Vorabend so brachte auch nach Schluß des Festgottesdienstes das Dresdener Pastoren- Quartett vom Balkon der Anhalt-Dessauischen Landesbank mehrere Choräle zum Vortrag.

Den Höhepunkt der Jubelfeier bildete der Festakt in der Schloßkirche mittags 12 Uhr.
Nach der Begrüßungsansprache des Präsidenten D. Dr. Seeberg hielt Geh. Konsistorialrat Prof. D. Mahling – Berlin den Festvortrag: „75 Jahre Innere Mission.“
Daran schloß sich die Begrüßung durch die Staats- und Kirchenbehörden, Vereine für Innere Mission und verwandte Organisationen, Vertreter des Auslandes und der Universitäten.
Die Grüße und Glückwünsche der Reichsregierung brachte Reichsminister Dr. Oeser – Berlin in einer längeren Ansprache zum Ausdruck.

Aus Anlaß der Jubelfeier verliehen mehrere Universitäten einer Reihe von Männern, die sich um die Innere Mission besondere Verdienste erworben hatten, die Würde eines Lizentiaten bzw. Doktors der Theologie.
Die Promotion wurde vom Präsidenten D. Dr. Seeber in den üblichen akademischen Formen vollzogen.
Mit dem trutzigen Bekenntnis der Gemeinde
„Das Wort sie sollen lassen stahn“ fand die ausgedehnte Feier nachmittags 3½ Uhr ihren Abschluß.

Am Abend fand im Balzerschen Saale eine öffentliche Volksversammlung statt.
In dieser zeichnete Pfarrer D. von Bodelschwingh – Bethel „Bilder aus der Diakonie“, Pfarrer Büchsel – Schweicheln über die Erziehungsarbeit an seinen Anstalten, Fräulein Eva Marie Kranz aus der „christliche Jugendbewegung“, Pfarrer Hötzel – Berlin gab „Bilder aus der Volksmission“.
Das Schlußwort sprach der geschäftsführende Direktor des Zentralausschusses D. Füllkrug – Berlin.

An die Jubelfeier schloß sich am 24. und 25. September die erste Konferenz des Kontinentalen Verbandes für Diakonie und Innere Mission.
Dabei wurden folgende Vorträge gehalten:
– „Die Pflicht der evangelischen Kirche Rußland gegenüber“
(Bischof Prof. Dr. Hammerus – Helsingfors),
– „Die Missionsaufgaben im eigenen Volke“
(Direktor Pfarrer Dr. Norel – Amsterdam),
– „Der soziale Dienst, eine Lebensbedingung der Kirche“
(Direktor Pfarrer Ohl – Langenberg).

Die letzten Monate des Jahres 1923 sahen das Deutsche Reich in der größten Verwirrung und Not.
Der Ruhrwiderstand, der gewaltige Summen verschlungen hatte, die ferner nicht mehr aufzubringen waren, mußte im Oktober ergebnislos abgebrochen werden.
Überall flakerten Unruhen auf; die kommunistischen Regierungen Sachsens und Thüringens versagten der Reichsregierung den Gehorsam und mußten durch den Einmarsch der Reichswehr dazu gezwungen werden.

Im Rheinlande versuchten die Separatisten die „Rheinische Republik“ auszurufen.
Der erneute Rücktritt der Reichsregierung vergrößerte die Verwirrung.
Zehn Tage lang war das Deutsche Reich ohne eigentliche Regierung, da alle Versuche, eine solche zu bilden, am Parteihader scheiterten. Das Währungselend und mit ihm Teuerung, Arbeitslosigkeit und Hunger nahmen zu.
Ende November betrug die Zahl der unterstützten Arbeitslosen im unbesetzten Deutschland 1 250 000, im besetzten Gebiet mehr als 2 Millionen, die Zahl der unterstützten Kurzarbeiter im unbesetzten Deutschland 1 772 000.
Von der Erwerbslosen-Fürsorgestelle der Stadt Wittenberg wurden in dieser Zeit unterstützt 687 männliche und 221 weibliche Vollerwerbslose und 1 107 männliche und 549 weibliche Kurzarbeiter.
Die Bettler – Männer Frauen und Kinder – überschwemmten das Land, Einbruch und Diebstahl gehörten zu den alltäglichen Erscheinungen.

Bezeichnend für die finanzielle Notlage des Reiches ist es, daß den Beamten am 17. Dezember nicht einmal die ihnen zustehende Monatshälfte ihres Gehalts gezahlt werden konnte; sie erhielten davon nur etwa ein Viertel.

Um der Not abzuhelfen, ordnete die unter der Führung von Marx (Zentrum) und Stresemann (Deutsche Volkspartei) neugebildete Reichsregierung eine Reihe einschneidender Sparmaßnahmen an, die freilich sich nicht immer als wirksam erwiesen und vor allem den Beamten schwere Lasten auflegten.
Die Beamtengehälter wurden etwa auf die Hälfte der Friedenssätze reduziert;
das pensionsfähige Alter der Staatsbeamten und Lehrer auf das 65. Lebensjahr festgesetzt und der Abbau von 25 Prozent aller im Staats- und Gemeindedienst stehenden Beamten angeordnet. Dadurch wurden Tausende von leistungsfähigen Beamten vorzeitig entlassen und bei unzureichendem Ruhegehalt oder Wartegeld in schwere wirtschaftliche Lage gebracht.

Um den Gefahren zu begegnen, die aus diesem Abbau Schule und Erziehung erwuchsen, vereinigten sich an vielen Orten Lehrer und Eltern, um dagegen Protest zu erheben, daß der Abbau mechanisch auch auf die Schule übertragen wurde.
Auch in Wittenberg fand am 14. Dezember im Festsaale des Melanchthongymnasiums eine solche Protestversammlung statt. Hierbei behandelte Stabsarzt Dr. Bosse die Angelegenheit vom hygienischen, intelektuellen und Rektor Becherer – Piesteritz vom unterrichtlichen und volkswirtschaftlichen Standpunkte aus.
Am Schluß wurde der Wille der Versammlung in einer Entschließung zum Ausdruck gebracht.

Auf Veranlassung der Reichs- Kohlenwirtschaftsstelle und der Preußischen Kohlenwirtschaftsstelle wurde am 19. Dezember im Hause des Töpfermeisters Hecht (Holzmarkt) eine „Heiztechnische Ausstellung“ eröffnet.
An dem verschiedenen Brennmaterial, an Öfen, Herden, Gasöfen und Gasherden wurde gezeigt, wie im Haushalt Ersparnisse an Brennmaterial erzielt werden können, was im Hinblick auf die Kohlennot ein dringendes Erfordernis war.

1924

Die ersten Tage des Jahres 1924 brachten anhaltenden Frost, sodaß am 5. Januar das Eis der Elbe zum Stehen kam.
Der Aufbruch des Eises erfolgte am 8. Februar.
Seit Weihnachten gesellten sich zu der Kälte starke Schneefälle, die im Eisenbahnverkehr vielfache Störungen verursachten.
Zum harten Winter trat die noch immer steigende Arbeitslosigkeit; die Zahl der Arbeitslosen und Kurzarbeiter wuchs auf über 7 Millionen im Reiche an, und auch ein großer Teil der Einwohner unserer Stadt wurde durch Erwerbslosigkeit in große Not gebracht. Für Erwerbslose, bedürftige Klein- und Sozialrentner und Ortsarme richtete das Wohlfahrtsamt Ende Januar eine Volksspeisung ein, durch welche täglich 800 Portionen warmes Mittagsessen und wöchentlich 1 000 Brote zur Verteilung gelangten.

Das Jahr 1924 brachte eine Reihe von Jubiläumsfeiern.
Am 29. März beging die Mittelschule die Feier ihres 25 jährigen Bestehens durch einen Festakt im Turnsaale, wobei Oberbürgermeister Wurm die Festansprache hielt und Rektor Bodesohn ein Bild vom Werdegang der Schule gab.

Am 24. April waren 40 Jahre vergangen, seitdem das Deutsche Reich, indem es die Erwerbungen des deutschen Kaufmanns Lüderitz am nördlichen Orangefluß unter seinen Schutz stellte, in die Reihe der Kolonialmächte trat.
Zur Erinnerung hieran veranstalteten die Ortsgruppe des Deutschen Kolonialvereins, der Kolonialfreunde und des Vereins für das Deutschtum im Auslande im Balzerschen Saale eine Gedenkfeier mit einer Kolonial Ausstellung.
Im Anschluß hieran wurde am Sonntag den 27. April in den Anlagen am Augusteum, links vom Gedenkstein für die in China und Südwestafrika Gefallenen, eine Kolonial- Gedenkeiche gepflanzt, wobei Studiendirektor Heubner die Ansprache hielt.

Am gleichen Tage feierte die hiesige Bäcker-Innung im Muthschen Saale ihr 500jähriges Bestehen durch einen größeren Festakt, wobei gleichzeitig die Weihe der neuen Innungsfahne geschah.

Das gleiche Jubiläum konnte am Sonntag den 27. Juni die hiesige Schuhmacher-Innung begehen.

Das 400 jährige Jubiläum der Einführung des evangelischen Gesangbuchs wurde am Sonntag Kantate durch einen musikalisch reich ausgestatteten Festgottesdienst der Stadtpfarrkirche gefeiert.

Am 14. und 15. Juni tagte hier der Verband der Freiwilligen Sanitätskolonnen und der Genossenschaft Freiwilliger Krankenpfleger vom „Roten Kreuz“ mit einer Teilnehmerzahl von 500.
Mit der Tagung wurde die Jubelfeier des 40 jährigen Bestehens der hiesigen Freiwilligen Sanitätskolonne verbunden.

Am 14. September konnte das Hotel „Goldener Adler“ sein 400 jähriges Bestehen feiern.

Da die von den Feinden ausgestreute Lüge von Deutschlands Alleinschuld am Weltkriege, auf der auch die grausamen Bedingungen des Friedensdiktats von Versailles beruhen, nicht verstummen wollte, so fand am 28. Juni auf dem Markiplatze unter zahlreicher Beteiligung eine zahlreiche Protestversammlung dagegen statt, in welcher Studiendirektor Heubner in einer Ansprache das Unhaltbare dieser Schuldlüge nachwies.
In einer Entschließung wurde die Reichsregierung aufgefordert, mit allen Mitteln gegen diese Beschuldigung zu protestieren.

Der 100. Geburtstag von Carl Stein wurde durch eine größere Gedenkfeier begangen.
Musikdirektor Professor Carl Stein (geb. d. 25. Oktober 1824 zu Niemegk bei Belzig, gest. d. 3. November 1903 in Wittenberg) war 52 Jahre lang als Organist und Kantor unserer Stadtpfarrkirche und als Gesanglehrer hier tätig und hat sich_um das Musikleben unserer Stadt bleibende Verdienste erworben.
Als Komponist geistlicher und weltlicher Lieder und Chöre hat er sich über Deutschlands Grenzen hinaus einen geachteten Namen gesichert.
In einem weltlichen Konzert im Balzerschen Saale am 22. Oktober und einem Kirchenkonzert in der Stadtpfarrkirche am 25. Oktober wurden Steinsche Tonwerke zur Aufführung gebracht.

Bei der am 5. Mai stattfindenden Neuwahl zur Stadtverordnetenversammlung waren 5 Wahlvorschläge aufgestellt.
Es erhielten:
– Bürgerliche Mieter- und Arbeitnehmerliste    11 Sitze,
– Kommunistische Partei                                                     6 Sitze, Wahlvorschlag „Naumann“ (bürgerliche Liste)    11 Sitze,
– Vereinigte Sozialdemokratische Partel                     1 Sitz,
– Deutsch-Völkische Freiheitspartei                               1 Sitz.

Aus dem Jahre 1924 ist noch folgendes bemerkenswert:
Während der ersten Sommermonate erhielten
– Linden-Straße,
– Juristenstraße und die
– Westseite des Marktplatzes neues Pflaster aus Schlackensteinen.
– Die Elbstraße wurde wesentlich erhöht und neu gepflastert.

Auch die Anlagen an der Luthereiche erfuhren eine durchgreifende Veränderung.
Im Jahre 1925 erhielten diese durch den von Stadtrat Paul Friedrich geschenkten von Bildhauer Rex gefertigten Schmuckbrunnen nebst Ruhebank eine neue Zierde.
Beides wurde am 29. Mai in einer schlichten Feier eingeweiht.

Am 18. August 1924 eröffnete die Kreissparkasse in den neuen Räumen Markt Nr. 20 (dem früher Fuhrmannschen Hause) ihren Geschäftsbetrieb.

1925

Im Gegensatz zum Vorjahre war der Winter 1925 sehr mild, das Wetter vielfach frühlingsartig.
Erst am 11. März trat der erste stärkere Schneefall ein.

Wegen der vertragswidrigen Nichträumung der Kölner Zone durch den Feindbund fand am 3. Januar in Balzers Saal eine Protestversammlung statt, in der Pfarrer Sievers die Hauptansprache hielt.

Am 5. Januar konnte die Stadtsparkasse auf ihr 100 jähriges Bestehen zurückblicken.
Der Tag wurde durch eine schlichte Feier begangen.
Vom Dezernenten der Sparkasse Bürgermeister Dr. Nottebohm wurde eine Festschrift herausgegeben und am Eingang zur Sparkasse eine Gedenktafel angebracht, die später am neuen Sparkassengebäude ihren Platz erhielt.

Für die am 25. Januar stattfindenden Neuwahlen zu den kirchlichen Körperschaften waren 4 Wahlvorschläge eingereicht:
– 1. Westliche Vororte,
– 2. Östliche Vororte,
– 3. Liste „Stein“ (Johanneische Gemeinde),
– 4. Gemeinsamer Wahlvorschlag für innere Stadt und Landgemeinden.
Die Wahlbeteiligung betrug nur 65 Prozent der eingetragenen Wähler.
Es wurden gewählt:
– Liste 1: 6 Mitglieder des Gemeindekirchenrats und 20 Mitglieder der Gemeindevertretung;
– Liste 2: 1 Mitglied des Gemeinde Kirchenrats und 6 Mitglieder der Gemeindevertretung;
– Liste 3: 1 Mitglied des Gemeindekirchenrats und 3 Mitglieder der Gemeindevertretung;
– Liste 4:9 Mitglieder des Gemeindekirchenrats und 31 Mitglieder der Gemeindevertretung.

Am Volkstrauertag Sonntag den 1. März zum Gedächtnis der im Weltkriege gefallenen Helden fand am Vormittag in allen Kirchen ein Gedenkgottesdienst statt.
Mittags und nachmittags erklang Trauergeläut.
Auf den Gräbern des Ehrenfriedhofs wurden Kränze niedergelegt.

Daran schloß sich am 4. März die Trauerfeier für den am 28. Februar verstorbenen ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert in den Schulen. Mittags 12 Uhr erklang Trauergeläut.

Am gleichen Tage, vormittags 10 Uhr ereignete sich in den Reinsdorfer Sprengstoffwerken durch Explosion im Pulverraume ein schweres Unglück, dem 13 brave Arbeiter zum Opfer fielen, die vielfach bis zur Unkenntlichkeit verbrannt und verstümmelt waren. Von den zahlreichen Verletzten, die in das hiesige Paul-Gerhardt-Stift gebracht wurden, starben bis 8. März noch zwei.
Am 9. März fand unter großer Beteiligung die Beerdigung der aus Wittenberg stammenden Toten auf dem hiesigen Friedhofe statt.
(Anmerkung vom „Dobiener“;
Richard Erfurth schrieb das Gedicht „Die Toten von Reinsdorf“

Am Sonntag den 8. März feierte der im Jahre 1875 durch den damaligen Diakonus Georg Schleusner gegründete Wittenberger Kindergottesdienst sein 75 jähriges Bestehen durch Festgottesdienst in der Stadtpfarrkirche und einen Elternabend im Saale der „Herberge zur Heimat“.

Für den nach Hamburg berufenen Pfarrer Knolle wurde Pfarrer Lic. Geibel – Apollensdorf in die 3. Pfarrstelle der Stadtpfarrkirche berufen und am Sonntag den 22. März durch Superintendent D. Orthmann in dieses Amt eingeführt.

Nachdem die im Jahre 1888 durch Ernst Rettig eingerichtete Pferdebahn nach 33 jährigem Bestehen infolge Inflation und Teuerung 1921 endgültig ihren Betrieb einstellte, und am 2. August 1919 der seit Oktober 1913 nach den westlichen Vororten bestehende Auto-Omnibusbetrieb wegen Mangel an Betriebsstoff zum Erliegen kam, war Wittenberg ohne Verkehrsmittel.
Der Plan, nach den Vororten vom Bahnhof aus eine elektrische Bahn zu bauen, zu dem vor dem Kriege bereits Vorarbeiten stattgefunden hatten, scheiterte an der Ungunst der Zeit.
Mit lebhafter Freude wurde deshalb der von der Oberpostdirektion Halle vom Bahnhof bis zur Kolonie Piesteritz eingerichtete Kraftwagenverkehr begrüßt, der am 18. April 1925 mit 3 Wagen und 10 Haltestellen durch eine Probefahrt eröffnet wurde, an welcher die Vertreter der städtischen Behörden, der Oberpostdirektion Halle, anderer Behörden und der Presse teilnahmen.
Die Stadt Wittenberg garantierte dem Unternehmen eine Einnahme von monatlich 2 000 M.
Am 5. Mai waren 400 Jahre verflossen, seitdem Kurfürst Friedrich der Weise, dem die Stadt Wittenberg so viel verdankt, die Augen zum ewigen Schlummer schloß.
Dieser Tag wurde durch eine Gedächtnisfeier würdig begangen. Abends 6 Uhr fand am Grabe Friedrich des Weisen in der Schloßkirche unter Mitwirkung des Predigerseminarchors eine kurze Feier statt, bei welcher Ephorus D. Macholz die Ansprache hielt.
Bei der abends 8 Uhr in der Stadtpfarrkirche abgehaltenen Gemeindefeier, die der Kirchenchor durch seine Gesänge ausstattete, begrüßte Oberbürgermeister Wurm die Versammlung. Den Festvortrag hielt Hof- und Domprediger D. Doehring – Berlin über das Thema:
„Was haben Gegenwart zu Luther und sein Kurfürst der Gegenwart zu sagen?“.
Das Schlußwort sprach Superintendent Orthmann.

Eine zweite umfassendere Gedenkfeier fand am Sonntag den 14. Juni als Katharinentag statt. Sie galt D. Martin Luther als dem Gründer des evangelischen Pfarrhauses, der vor 400 Jahren mit Katharina von Bora in den Ehestand trat. Mit der Feier war die Jahresversammlung des Gesamtverbandes der Evangelischen Frauenhilfe verbunden.

Das volle Festgeläut der Stadtpfarrkirche läutete am 13. Juni die Feier ein.
Abends 6 Uhr begann dort die mit Gesängen des Oratorien- und Kirchenchors anziehend ausgestattete Abendfeier, in welcher Pfarrer Kunstmann – Berlin/Schöneberg die Ansprache hielt.
Im Anschluß daran folgte im Muthschen Saale der Begrüßungsabend, den der Musikverein mit seinen Darbietungen verschönte.
Die Grüße der Wittenberger Frauenhilfe und der evangelischen Kirchengemeinde überbrachte Superintendent D. Orthmann, die des Evangelischen Kirchenausschusses und Evangelischen Oberkirchenrats Oberkonsistorialrat Karow – Berlin.
Den Dank des Gesamtverbandes hierfür sprach der Geschäftsführer D. Cremer – Potsdam aus.

Choralblasen leitete den eigentlichen Festtag ein.
Um 8 Uhr vormittags versammelten sich im Hofe des Lutherhauses die Teilnehmer zum gemeinsamen Kirchgang, an dem rund 1 000 Personen – darunter 800 auswärtige Gäste – teilnahmen.
Ihn eröffneten die Schwestern des Diakonissen Mutterhauses, dann folgte die Geistlichkeit, die kirchlichen Jugendvereine, die Mitglieder der Frauenhilfe, die beiden kirchlichen Körperschaften und sonstige Festteilnehmer.
Unter Glockengeläut begab sich der lange Zug durch die Collegienstraße, den Marktplatz umschreitend, zur Stadtpfarrkirche.

Im Festgottesdienste, dessen Weihe die Gesänge des Oratorien- und Kirchenchors vertieften, hielt General-Superintendent D. Schöttler – Magdeburg die Festpredigt über Ps. 84, 7:
„Wohl denen, die durch das Jammertal gehen und machen daselbst Brunnen.“

Von der Stadtpfarrkirche begaben sich die Teilnehmer zum Festakt in der Schloßkirche.
Den ersten Festvortrag hielt Hauptpastor Knolle – Hamburg über: „Luthers Heirat als Reformationstat“,
den zweiten Festvortrag Frau Pfarrer Zimmermann – Döbern über: „Luther und das deutsche Familienleben.“

Den Mittelpunkt des Katharinentags bildete die Grundsteinlegung zur Katharinenkapelle an der Nordseite des Katharinenstifts.
Die Weiherede hielt Generalsuperintendent D. Schöttler – Magdeburg auf Grund von Kor. 3, 11:
„Einen andern Grund kann niemand legen.“
Nachdem die Grundsteinlegungsurkunde von Pfarrer Cremer verlesen und dem Grundstein einverleibt war, erfolgten die von Weihesprüchen begleiteten üblichen Hammerschläge.

Bei der am Nachmittag im Saale des Schützenhauses stattfindenden Schlußfeier, die unter Mitwirkung der vereinigten Gesangvereine unter der Leitung von Lehrer Krause stattfand, begrüßte Oberbürgermeister Wurm namens der Lutherstadt die Festgäste. Namens des Gesamtverbandes der Frauenhilfe dankte Prof. D. Freiherr von der Golz – Greifswald.

Der folgende Tag war der Arbeitstagung der Frauenhilfe gewidmet. In ihrem Mittelpunkte standen die beiden Vorträge:
„Welche neuen Aufgaben stellt die Kirchenverfassung der Frauenhilfe?“ und:
„Die Aufgaben der Frauenhilfe gegenüber der Sektengefahr.“

Wie so viele Gotteshäuser hatte auch die Christuskirche im Jahre 1917 von ihrem Geläut zwei Glocken für Kriegszwecke opfern müssen. Als Ersatz beschaffte die Kirchengemeinde Wittenberg drei Stahlglocken mit einem Kostenaufwand von 10 000 M., die am Sonntag den 28. Juni feierlich geweiht wurden.
Die Weihepredigt hielt Pfarrer Pape über die Glockeninschriften: „1925 Eisen für geopfert Erz 1917“ (kleine Glocke).
„Geboren in schwerer Zeit rufe ich zur Einigkeit 1925“ (mittlere Glocke).
„O Land, Land, Land, höre des Herren Wort!“ (große Glocke).
Die Weihe selbst vollzog Superintendent D. Orthmann.

Eine Weihefeier anderer Art geschah am 20. Juli.
In dem ehemaligen Kasinogarten, der in die städtischen Anlagen einbezogen ist, wurde an diesem Tage an Stelle des früheren beschädigten Gedenksteines zur Erinnerung an die Erstürmung Wittenbergs und Erlösung vom vom französischen Joch im Jahre 1814 ein neuer Gedenkstein (,“Tauentzien-Denkmal“) geweiht.
An der Feier beteiligte sich neben dem hiesigen und zahlreichen auswärtigen Vereinen ehemaliger 20 er auch eine Abordnung des Traditions-Bataillons des 20. Infanterie-Regiments aus Lötzen (Ostpreußen).
Namens der Stadt Wittenberg sprach Oberbürgermeister Wurm und namens der ehem. Offiziere des Regiments der Führer der 11. Kompagnie, Oberst a. D. von Jarotzky – Berlin.
Sämtliche Vereine ehem. 20 er schlossen sich zum „Tauentzien-bund“ zusammen.

Die Eisenbahn-Elbbrücke erfuhr im Jahre 1924 einen umfassenden Umbau, wobei der Unterbau verstärkt und die Brückenbogen über dem Fahrbett durch neue ersetzt wurden. Daran schloß sich im Sommer 1925 der Umbau der dicht bei Pratau gelegenen Flutbrücke, wobei diese eine Verbreiterung erfuhr.
Statt des bisherigen Bohlenbelags erhielt sie Betonpflaster mit Gehbahnen aus Mosaikpflaster.
Nachdem Anfang November der Umbau vollendet war, wurde mit dem der zweiten Flutbrücke begonnen, der Mitte Oktober 1926 fertiggestellt war, worauf der Umbau der dritten nahe der Stadt gelegenen Flutbrücke in Angriff genommen wurde, der Ende November beendet wurde. Während des Umbaues der ersten und zweiten Flutbrücke mußte der gesamte Verkehr über die Wiesen bei Pratau – östlich der Landstraße – geleitet werden, was vielfach große Schwierigkeiten mit sich brachte, namentlich bei Hochwasser und längerem Regenwetter.
Während des Umbaues der dritten Flutbrücke wurde östlich neben dieser eine hölzerne Notbrücke hergerichtet.

Der Wittenberger Schützengesellschaft gliederte sich im Jahre 1925 eine neue Abteilung – die Jungschützen – an, die beim Schützenfest dieses Jahres das erste Mal öffentlich auftrat. Gleichzeitig erhielt die Jahnkesche Kapelle, welche die Musik bei den Veranstaltungen der Schützengesellschaft stellt, als „Schüzenkapelle“ die Uniform der Schützen.

In Verbindung mit der „Vogelwiese“ hielt der neu gegründete „Schützenbund des Kurkreises“ in Wittenberg sein erstes Bundesschießen ab.

Mit Härte und unerhörter Grausamkeit vertrieben die Polen aus den von ihnen besetzten ehemaligen deutschen Gebieten des Ostens die deutschen Bewohner (bis Anfang August 1925 mehr als 30 000) von Haus und Hof.
Als Protest gegen diese Unmenschlichkeiten veranstaltete die hiesige Ortsgruppe des deutschen Ostbundes am 5. August auf dem Marktplatze eine öffentliche Kundgebung, bei der Pfarrer Ahlemann –  Eickendorf bei Magdeburg und der Präsident des Deutschen Ostbundes, Geh. Oberregierungsrat von Tilly – Berlin Ansprachen hielten.
Am Abend fand im Balzerschen Saale ein reichausgestatteter Vaterländischer Abend statt.

Am 28. und 29. September tagte in Wittenbergs Mauern der Pressetag und die 34. Hauptversammlung des Evangelisch-Sozialen Preßverbandes für die Provinz Sachsen.
Im Festgottesdienst am 28. September hielt Generalsuperintendent D. Schöttler – Magdeburg die Festpredigt.
Daran schloß sich der Begrüßungsabend im Muthschen Saale.
In der Hauptversammlung am 29. September hielt nach dem vom Direktor des Preßverbandes Dr. Hammer – Halle gegebenen Jahresberichte Lic. Hinderer – Berlin einen Vortrag über
„Eindrücke von der Weltkonferenz in Stockholm.“

Mit dem 1. Oktober trat Superintendent D. Orthmann im Alter von bald 71 Jahren nach 45 jähriger Amtstätigkeit – davon 17 Jahre im Dienste der Wittenberger Kirchengemeinde und des Kirchenkreises – in denRuhestand.

Zur Sammlung einer Zeppelin- Eckener- Spende behufs Erbauung eines neuen Zeppelin-Luftschiffes wurde am 18. Oktober am Schwanenteiche unter Mitwirkung der Schützenkapelle eine Zeppelin-Eckener- Feier abgehalten, bei welcher Pfarrer Lic. Geibel die Ansprache hielt.

Ein bedeutungsvoller Tag für unsere Stadt war Sonntag der 1. November. An diesem Tage wurde die zum Gedächtnis der im Weltkriege gefallenen Söhne der Stadtkirchengemeinde in der bisherigen westlichen Vorhalle der Stadtpfarrkirche errichtete Ehrenhalle feierlich eingeweiht.
Das prächtige stimmungsvolle Ehrenmal nennt auf 12 (auf jeder Seite (6) goldumrandeten Gedenktafeln, die von dunkel-grünem Gehäuse umschlossen werden, auf schwarzem Untergrunde in Goldbuchstaben die 650 Namen der Gefallenen nebst Todestag.

Den Entwurf zu dieser einzigartigen und schönen Heldenehrung lieferte Regierungsbaumeister Keibel – Berlin im Zusammenwirken mit Maler Fey – Berlin.
Die Baukosten wurden durch freiwillige Sammlungen und Spenden aufgebracht, die rund 13 000 M. ergaben. Die eigentlichen Arbeiten wurden sämtlich von Wittenberger Handwerksmeistern ausgeführt, die in hochherziger Weise auf jeden Gewinn aus ihrer Arbeit verzichteten.

Sanftes Orgelspiel, Sologesang und der Gesang des Oratorien- und Kirchenchors im Wechsel mit dem Gesang der Gemeinde, die das Gotteshaus bis auf den letzten Platz füllte, leitete die ernste Feier stimmungsvoll ein.
Der Weihepredigt legte Pfarrer Herrmann das Schriftwort 1 Ror. 13, 8 zugrunde:
„Die Liebe höret nimmer auf.“

Nach der Predigt richtete Oberbürgermeister Wurm als Vertreter der Stadt und des Kirchenpatronats an die Gemeinde eine Ansprache.
Ihm schloß sich namens des Ehrenausschusses dessen Vorsitzender Superintendent i. R. D. Orthmann an.
Den Dank des Gemeindekirchenrats brachte dessen Vorsitzender Pfarrer Herrmann zum Ausdruck.
Nachdem Pfarrer Doden Schlußgebet und Segen gesprochen, erfolgte die Öffnung der Ehrenhalle.
Der Der Vorsitzende des Ehrenausschusses übergab mit einer kurzen Ansprache dem Vorsizenden des Gemeindekirchenrats den Schlüssel, worauf dieser die Tür mit einem Spruch öffnete.
Darauf wurden in der Halle, die durch Lorbeerbäume und weiße Chrysanthemen stimmungsvoll geschmückt war, zahlreiche Kränze niedergelegt, die oft von Widmungsworten begleitet waren.

1926

Nach der Personenstandsaufnahme betrug die Einwohnerzahl der Stadt Anfang des Jahres 1926  23 349 Personen, und zwar 11 073 männliche und 12 276 weibliche.

Sonntag der 24. Januar war als „Erziehungssonntag“ der Erörterung von Erziehungsfragen gewidmet.
Diesem Zwede diente vor allem der im Saale der „Herberge zur Heimat“ seitens des Gemeindekirchenrats veranstaltete Gemeindeabend.
Bei diesem sprach Pfarrer Herrmann über
„Die Religion in der Schule und im Elternhaus“,
Lehrer Erfurth über
„Die Bedeutung der Persönlichkeit Luthers für Schule und Elternhaus“ und Naturheilkundiger Schmidt über
„Die Andacht in Schule und Elternhaus.“

Sonntag der 28. Februar galt als Volkstrauertag dem Gedächtnis der Toten des Weltkrieges.
Am Vormittag fanden in sämtlichen Kirchen Gedenkgottesdienste statt für die Militärvereine und Vaterländischen Verbände in der Schloßkirche (Predigt: Pfarrer Herrmann), für die übrigen Gemeindeglieder in der Stadtpfarrkirche (Predigt: Pfarrer Lic. Geibel) und der Katholischen Kirche (Predigt: Pfarrer Wandt). Daran schloß sich unter Mitwirkung des Sängerbundes eine Gedenkfeier auf dem Ehrenfriedhofe, bei welcher Schulrat Seemann die Ansprache hielt.

Bedeutungsvoll für unsere evangelische Kirchengemeinde und den Kirchenkreis Wittenberg war der Sonntag Lätare (14. März).
An diesem Tage erfolgte im Hauptgottesdienste der Stadtpfarrkirche die feierliche Einführung des zum Pfarrer und Superintendenten berufenen Professor Meichßner aus Schulpforta durch Generalsuperintendent D. Schöttler – Magdeburg.
Seiner Antrittspredigt legte Superintendent Meichßner das Schriftwort Joh. 6, 48 zu grunde:
„Ich bin das Brot des Lebens.“
An die Einführung schloß sich eine kirchliche Konferenz, in welcher Pfarrer Herweg Eutzsch über
„Die Bedeutung Wittenbergs für den Weltprotestantismus“ und Pfarrer Pape – Kleinwittenberg über
„Die Bedeutung Wittenbergs für die evangelische Landeskirche“ sprach.

Vom 11. bis 14. März wurde im Turnsaale der Mittelschule die Wanderausstellung „Der Rhein“ gezeigt.
Sie will in Plakaten, Bildern und Tabellen die Geschichte und Schönheiten des Rheinlands schildern, Verständnis für dessen schwere Lage erwecken und den Gedanken der unauflöslichen Verbundenheit von Reich und Rhein vertiefen.
Die Ausstellung wurde mit einer Ansprache des Oberbürgermeisters Wurm eröffnet.

Als ein erfreuliches Zeichen des wiedererwachenden evangelischen Bewußtseins dürfen die Wittenberg- Fahrten angesprochen werden, wie sie seit mehreren Jahren aus verschiedenen Gegenden – besonders aus Berlin und dem Freistaat Sachsen – nach unserer Lutherstadt zu den Gedenkstätten der Reformation unternommen werden.
Im Jahre 1925 betrug die Zahl der Teilnehmer rund 20 000, und auch im Jahre 1926 traf eine große Zahl der Wittenberg-Fahrer ein. Um die hiermit verbundene bedeutende Arbeit zu erledigen, wurde unter dem Vorsitz von Pfarrer Lic. Geibel ein kirchlicher Verkehrsausschuß gebildet, der die notwendigen Vorarbeiten erledigt und durch eine größere Anzahl von freiwilligen Helfern die Führung der Gäste übernimmt.

Die umfangreichste der Wittenberg-Fahrten des letzten Jahres war die von 26 Zweigvereinen des Evangelischen Bundes aus Potsdam und den Berliner Vororten ausgeführte, die am Himmelfahrtstage (13. Mai) in einer Stärke von 1 800 Teilnehmern in zwei Sonderzügen hier eintraf.
Nach der Besichtigung der Reformationsstätten fand eine Gedenkfeier in der Schloßkirche und eine Abendfeier in der Stadtpfarrkirche statt.
Daran schloß sich eine machtvolle Kundgebung auf dem Marktplatze, bei welcher Studiendirektor Fahrenhorst – Spandau, der Vorsitzende des Hauptvereins der Provinz Brandenburg, eine Ansprache hielt.
Superintendent Prof. Meichßner rief den Gästen den Abschiedsgruß der Lutherstadt zu.

Am 20. Mai vollzog sich ein für unsere Stadt wichtiges Ereignis: die Einweihung des neuen Sparkassenbaues, der nach dem von Stadtrat Petry gefertigten Entwurfe an der Ecke Juristenstraße Coswiger Straße errichtet wurde. Der Bau, der am 22. Juni 1925 begann, und den eine gerade in der besten Bauzeit einsetzende achtwöchentliche Aussperrung und Streik behinderte, wurde in 9 Monaten fertiggestellt.

An der Einweihung nahmen als Vertreter der Regierung zu Merseburg teil:
– Regierungspräsident Dr. Grützner,
– Regierungsassessor Hagemann und
– Regierungs-Oberinspektor Haertel.
In seiner Begrüßungsrede sprach Oberbürgermeister Wurm allen am Bau Beteiligten herzlichen Dank aus und schloß mit den Worten:

Der Lutherstadt zu Ehren,
Den Wohlstand zu vermehren,
Die Sparsamkeit zu pflegen,
Gehüllt in Gottes Segen,
Du stolzer Bau sollst ragen
Heut und in fernen Tagen.

Stadtbaurat Petry übergab hierauf die Schlüssel des Hauses dem Dezernenten der Sparkasse, der sie mit Dankesworten entgegennahm und die Schlußstein-Urkunde verlas, die dem durch den Schlußstein verschlossenen Grundstein einverleibt wurde, wobei seitens der offiziellen Persönlichkeiten die von Weihesprüchen begleiteten Hammerschläge geschahen.
An die eingehende Besichtigung des stattlichen, überaus zweckmäßig eingerichteten Baues schloß sich ein Festmahl im „Goldenen Adler“.

Ein folgenschweres Brandunglück ereignete sich am 4. Juni.
Früh gegen 3 Uhr brach im Dachgeschoß des dem Hutfabrikanten Naumann gehörenden Hauses Collegienstraße Nr. 19 Feuer aus. Der dort schlafende Sohn Naumanns suchte sich durch Herabspringen zu retten, zog sich dabei aber schwere Verlegungen zu.
Das Dienstmädchen trug schwere Brandwunden davon. Während der junge Naumann wieder genas, erlag das 22 jährige Dienstmädchen Emma Dorandt aus Wartenburg den erlittenen schweren Brandwunden. Vom Hause selbst brannte nur das Dachgeschoß aus, da es der Feuerwehr rechtzeitig gelang, das Feuer zu löschen.

Seit dem Jahre 1890 war die Gegend um Wittenberg vor schweren Hochwasserschäden bewahrt geblieben.
Im Monat Juni 1926 aber trat eine Hochwasserkatastrophe ein, die weiten Teilen unserer Heimat zum Verhängnis wurde.

Bereits in den ersten Monaten dieses Jahres brachte der Elbstrom wiederholt Hochwasser, das zB. am 25. Februar am Pegel der Elbbrücke eine Höhe von 4,14 m zeigte.
Diese ersten Hochwasserwellen richteten indessen keinen Schaden an, sondern wurden im Gegenteil von den Landwirten als Bundesgenossen gegen die Mäuseplage, die besonders die Elbwiesen in noch nie beobachtetem Umfange heimgesucht hatte, freudig begrüßt. Bis Mitte Mai hatte hatte sich das Frühjahrshochwasser wieder verlaufen.

Da traten Anfang Juni in fast ganz Deutschland unerwartete Wolkenbrüche, wolkenbruchartige Regen und äußerst starke Niederschläge ein, wie sie in dieser andauernden Art und solange man Aufzeichnungen über die Niederschlagsmengen besitzt, noch nie beobachtet wurden. Vor allem wurde das Quellgebiet der Elbe davon betroffen.
Bereits am 4. Juni betrug der Pegelstand 2,67 m und stieg bis zum 10. Juni auf 4,20 m.
Mit ungeahnter Schnelligkeit hatten die lehmigen Fluten am 7. Juni schon alle Elbwiesen bedeckt, und die prächtige Heuernte binnen 12 Stunden vernichtet, das Gras verschlammt und unbrauchbar gemacht.
Wohl suchte man am 6. Juni noch das durchnäßte Gras zu retten, mußte es aber zuletzt doch im Stich lassen, da die höhersteigende Flut Menschen und Zugtiere in Gefahr brachte.

Vorübergehend ging der Höchststand des Wassers auf 3,74 m am 15. Juni zurück, bis neue heftige Wolkenbrüche im Riesengebirge und Böhmen eine neue Hochwasserwelle brachten, die bis zum 23. Juni ansteigend an diesem Tage den Höchststand mit 5,03 m erreichte.
Da die Höhe des Elbdammes 6 m beträgt, so blieb also der Hochwasserspiegel nur 97 cm hinter dieser zurück.
So weit das Auge reichte, glich die Elbaue einem mächtigen See.
Der Elbstrom führte ganze Bäume, tote Tiere, viel Heu und Gras mit sich.
Mit unheimlicher Schnelligkeit schossen die trüben Fluten durch die Elbbrücken und die Vorflutbrücken.
Messungen ergaben eine Stromgeschwindigkeit von 3 m in der Sekunde. Die Gewalt des Wassers riß die an Ketten verankerte Eylertsche Badeanstalt los und führte diese samt den darauf befindlichen Personen fort.
Zum Glück gelang es, sie noch rechtzeitig aufzuhalten, ehe sie an den Brückenpfeilern zerschellte.

Dem andauernden ungeheuren Drucke waren die Dämme auf die Dauer nicht überall gewachsen.
Fieberhaft arbeiteten die Anwohner mit der herangezogenen Technischen Nothilfe Tag und Nacht an ihrer Erhaltung und Befestigung.
Aber bei Coswig und in der Nähe von Magdeburg konnten die Elbdämme nicht gehalten werden;
bei Coswig brachen diese an zwei Stellen von je 100 m Länge.
Die mit furchtbarer Gewalt durchbrechenden Wassermassen überfluteten in wenigen Stunden die fruchtbaren Ländereien und vernichteten die gesamte Ernte.
Nur unter Aufbietung aller Kräfte konnten Menschen und Haustiere vor dem Ertrinken gerettet werden.

Nicht minder groß waren auch die Verwüstungen, die ein Dammbruch der Röder (Nebenfluß der schwarzen Elster) beim Dorfe Würdenhain in der Nähe von Elsterwerda anrichtete,

Da der Schützenfestplatz, die Kuhlache, seit sieben Wochen ununterbrochen unter Wasser stand, so mußte die „Vogelwiese“ nach dem Tauentzienplatze verlegt werden, was für diese mannigfache Nachteile hatte, zumal die Witterung fortgesetzt regnerisch blieb.

Erst vom 25. Juni ab gingen die Fluten wieder langsam zurück, und erst vom 22. Juli ab wurden die Elbwiesen wieder frei vom Hochwasser.
Aber wie sahen sie aus!
Das Gras auf ihnen war schwarz und verfault und verbreitete einen üblen Geruch, der besonders abends bis in die Straßen der Stadt hereindrang. Die Oberfläche bedeckte eine ölige, zähe Kruste, die das weitere Wachstum hinderte und so auch die Grummeternte benachteiligte. Die lange Dauer des Hochwassers hatte die üble Folge, daß auch das Stauwasser einen noch nie dagewesenen Umfang annahm.
In der Woche vom 4. bis 8. Juli waren vom Hochwasser im Kreise Wittenberg überschwemmt 18 443 Morgen Elbwiesen und 1562 Morgen Acker. Im Stauwasser lagen 3 214 Morgen Feldwiesen und 5 923 Morgen Acker.
Durch die am 8. und 9. Juli erneut niedergehenden gewaltigen Regengüsse wurde das Überschwemmungsgebiet nochmals um 10 000 Morgen vermehrt.
Der entstandene Schaden wurde amtlich im Regierungsbezirk Magdeburg auf 14,14 Millionen Mark, im Regierungsbezirk Merseburg auf 11,9 Millionen Mark geschätzt und die schwergeschädigte Fläche auf insgesamt 400 000 Morgen.

Die Feldfluren von Bleddin, Bösewig, Merschwitz, Kleinzerbst, Wartenburg, Melzwig, Dabrun, Boos, Pratau, Seegrehna und Bleesern hatten von Anfang an beträchtlich unter dem Stau- und Niederschlagswasser zu leiden.
Bei fortschreitendem Wuchse suchte es sich dann durch Öffnung der Schleusen und Brücken seinen vernichtenden Weg und verbreitete sich bald über die Fluren von Globig, Bietegast, Dorna, Rackith, Rötzsch und weiter bis nach Trebitz, Schnellin, Merkwitz, Gaditz, Lammsdorf, Eutzsch, Pannigkau und Selbitz.

Die Wege zwischen den einzelnen Ortschaften standen stellenweise hoch unter Wasser und konnten nicht passiert werden. Auch die Ortschaften rechts der Elbe, wie Listerfehrda, Elster, Iserbegka, Gallin, Prühliz, Hohndorf ua. wurden durch das Elbhochwasser und durch das Stauwasser außerordentlich geschädigt.

Eine Kommission bestehend aus Vertretern des Reichsfinanzministeriums, des Landesfinanzamts, der preußischen Katasterverwaltung, des Landratsamtes und des Landbundes bereiste Mitte Juli das Überschwemmungsgebiet, um den verursachten Schaden behufs Entschädigung aus staatlichen Mitteln festzustellen.
Diese Unterstützung seitens des Staates ist ja auch den Geschädigten gewährt worden, aber sie reichte bei weitem nicht aus, den erlittenen schweren Schaden zu decken und die ohnehin so üble Lage der Landwirtschaft wesentlich zu bessern.
An vielen Stellen war der Roggen notreif geworden und gab nur wenig Körnerertrag. Auch der Ertrag der übrigen Halmfrüchte war in den vom Wasser betroffenen Fluren sehr gering. Kartoffeln, Rüben und Futterpflanzen wurden vielfach gänzlich vernichtet.

Infolge des Futtermangels waren zahlreiche Landwirte gezwungen, ihren Viehstand zu verringern oder die Tiere in günstiger gelegene Gegenden in einstweilige Pflege zu geben. Glücklicherweise war die Witterung in den nachfolgenden Wochen günstig, sodaß auf den Wiesen wenigstens noch Gras und auf den Feldern Grünfutter geerntet werden konnte.

Da die Wassermassen nach den tiefer liegenden Teilen der Elbaue drängten, sich dort aufstauten und wegen des hohen Wasserstandes der Elbe nicht abfließen konnten, so war man gezwungen große Pumpen aufzustellen, welche die die Felder überflutenden Wassermassen in die Elbe warfen.

In angestrengter Tag und Nachtarbeit wurden an dem Schöpfwerk der Entwässerungsgenossenschaft „Elbaue“ an der Abzweigungsstelle der Wachsdorfer Straße zu der bereits dort vorhandenen Pumpe vier weitere große Pumpen aufgestellt und in Betrieb gesetzt. Diese Pumpen warfen wochenlang stündlich über 5000 Kubikmeter fauliges, übelriechendes Stauwasser über den Elbdamm in die zur Elbe führenden Abzugsgräben.
Dadurch wurde in anhaltender angestrengtester Tätigkeit erreicht, daß Tausende von Morgen Acker vom Wasser befreit und ein erheblicher Teil der Ernte gerettet wurde.

Immerhin aber waren die durch die Hochwasserkatastrophe entstandenen Schäden derartig groß, daß die Landwirtschaft des Überschwemmungsgebietes lange und schwer kämpfen mußte, um sie zu überwinden.

Der bauliche Zustand des Rathauses machte schon seit längerer Zeit einen Umbau desselben zur Notwendigkeit. Da seine Räume schon seit Jahren nicht mehr für die erheblich angewachsene Verwaltung der Stadt ausreichten, so wurde vom Staate die ehemalige Zeughauskaserne übernommen und in ihr einzelne Zweige der städtischen Verwaltung untergebracht.
Bereits vor dem Kriege waren die Pläne für den Rathausumbau fertiggestellt, konnten aber wegen Ungunst der Zeit nicht ausgeführt werden.
Anfang Juli 1926 wurde endlich der Umbau nach den von Stadtbaurat Petry entworfenen Plänen begonnen.
Die Ausführung der Arbeiten wurde der Baufirma Lochner in Wittenberg übertragen.
Die Kosten des Umbaues hatte man auf 350 000 M. veranschlagt. Den Antrag des Magistrats, einen würdigen Ratskeller einzubauen, lehnte die Stadtverordnetenversammlung der Kostenfrage wegen ab.
Maßgebend für den Umbau war der Grundsatz, daß der historische Charakter des Baues nach außen hin erhalten blieb.

Während des Erneuerungbaues wurden die noch im Rathause verbliebenen Geschäftsräume nach dem neuen Sparkassenbau gelegt. Die Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung fanden seitdem im alten Kurfürstenschlosse statt.

Mit dem Rathausumbau machte sich gleichzeitig eine Verlegung des Wochenmarktes notwendig, der zunächst teilweise und vom 22. September ab gänzlich vom Marktplatze nach dem hierzu eingerichteten Arsenalplaze verlegt wurde.

Die hiesige Schutzpolizei nahm in der Zeit vom 2. bis 10. September 1926 an den beiden Hauptverkehrspunkten, Markt und Luthereiche, eine Verkehrszählung sämtlicher Fahrzeuge vor.
Es ergaben sich bei derselben folgende Resultate:

Die Friseur-Innung feierte am 3. Oktober ihr 50 jähriges Bestehen durch Weihen einer neuen Innungsfahne, Festzug und festliche Veranstaltungen im Balzerschen Saale.

Am 27. Oktober beging die Ackerbürgerswitwe Amalie Hecht geb. Schroeder Schatzungsstraße Nr. 2 in voller geistiger und körperlicher Regsamkeit und Frische ihren hundertsten Geburtstag.

Zur Erinnerung an die vor 400 Jahren in den evangelischen Gottesdienst durch Martin Luther erfolgte Einführung der Deutschen Messe wurde diese am Abend des Reformationsfestes in einem besonderen Festgottesdienste dargeboten, wobei Pfarrer Lic. Geibel in Verbindung mit dem Kirchenchore die liturgischen Sätze sang.

Seit längerer Zeit schon hatte sich die wirtschaftliche Lage verschlimmert.
Die Steuerlasten, Geldknappheit und mangelnder Warenumsatz nötigten auch in unserer Stadt selbst alte gutfundierte Geschäfte und Betriebe, sich unter Geschäftsaufsicht stellen zu lassen oder gar den Konkurs auzumelden.

Durch die zahlreichen Entlassungen von Arbeitern und Angestellten wuchs die Erwerbslosigkeit in steigendem Maße.
Betrug die Zahl der Erwerbslosen im Reiche Anfang Februar 1926 schon rund 1 Million, so wuchs sie bis Ende des Monats auf 2 Millionen an.
Während der Sommermonate verringerte sich diese Zahl, betrug aber am 15. Oktober immer noch 1 339 194 (1 085 147 männliche und 254 047 weibliche Hauptunterstützungsempfänger).
Die Zahl der unterstützten Familienangehörigen der Erwerbslosen betrug am gleichen Termin 1 360 838.
In der Stadt Wittenberg wurden am 25. Oktober 1 200 Erwerbslose gezählt.

Um der Not zu steuern, beschlossen die städtischen Körperschaften im April die Ausführung von Notstands, arbeiten und bewilligten hierzu eine Summe von 100 000 M.
Dafür sollte ausgeführt werden:
Die Pflasterung der Sternstraße von der Wichernstraße bis zur Kreuzstraße,
die Pflasterung der Großen Friedrichstraße von der Heubnerstraße bis zur Paul Gerhardt-Straße;
gleichzeitig wurde der durch diese Strasse bisher offen fließende Trajuhner Bach bis zu seiner Einmündung in die Große Friedrichstraße reguliert, mit Betoneinfassung versehen und gedeckt.
Ferner wurde ein Kanal Kreuzstraße – Kurfürstenstraße – Bismarkstraße – Katharinenstraße gegraben und auf dem städtischen Rittergute Seegrehna Notstandsarbeiten ausgeführt.

Am 26. Oktober bewilligte die Stadtverordnetenversammlung noch weitere 20 000 M., wofür in der Sternstraße ein Regenkanal und in der Großen Friedrichstraße eine Aufschüttung geschaffen werden sollte, und am 16. November weitere 15 000 M. zur Herrichtung der Sternstraße von der Kreuzstraße bis zur Berliner Straße.
Zur Unterstützung besonders bedürftiger Erwerbslosen und für die sogenannte „Krisenfürsorge“ wurden dem Wohlfahrtsamt 28 550 M. überwiesen.

Zur Unterstützung der in den abgerissenen Gebieten schwer bedrängten deutschen Stammesgenossen veranstaltete die hiesige Ortsgruppe des Vereins für das Deutschtum im Auslande unter Leitung von Studiendirektor Heubner vom 31. Oktober bis 5. November eine Werbewoche. Sie wurde am Sonntag, den 31. Oktober mit einem Platzkonzert der Jahnkeschen Kapelle eröffnet. Am 2. und 3. November veranstalteten die Schulgruppen Werbe-Umzüge, an welche sich an beiden Abenden Festversammlungen im Balzerschen Saale anschlossen, die durch Ansprachen, Deklamationen, musikalische und turnerische Darbietungen ausgestalt waren.
Den Abschluß bildete am 5. November ein Konzert des Musikvereins unter Leitung von Musikmeister Appelt im Muthschen Saale.
Sämtliche Veranstaltungen und Sammlungen brachten einen Reingewinn von über 2 600 M.

Die andauernde Wohnungsnot veranlaßte die Stadtverwaltung, ua. an der Sternstraße mehrere Wohnhäuser zu errichten.
Da diese nicht ausreichten, den Bedarf zu decken, so griff man in weitem Maße zur Selbsthilfe und gründete nach dem Beispiele der Gartenstadt- Genossenschaft Baugenossenschaften, um sich eine Wohnung zu sichern.
So taten sich die Beamten der Schutzpolizei zu einer solchen zusammen und errichteten östlich der Sternstraße in der Nähe der von der Stadt erbauten Häuser unter Mithilfe der „Mitteldeutschen Heimstädten-Genossenschaft“ eine Siedlung, die bereits eine größere Anzahl von Wohnhäusern umfaßt.
Auch außerhalb des Weichbildes der Stadt, bei Rothemark, ist eine weitere Siedlung entstanden.

Am 14. November befuhr der letzte Kettendampfer die Elbe, um die Kette, die in der Elbe zuletzt noch von Außig (Böhmen) bis hinter Magdeburg lag, zu heben, da der Verkehr mit Kettendampfern seit langem schon nicht mehr lohnend war, und die Kette für die übrigen Schiffe beim Ankern ein großes Hindernis bildete.
Diese Elbkette reichte ursprünglich von Außig in Böhmen bis Hamburg in einer Länge von rund 650 km; sie hatte ein Gewicht von 7 000 000 kg und erforderte zur Herstellung den Betrag von 4 Millionen Mark.

Am 19. November beging die städtische gewerbliche und kaufmännische Berufsschule im Balzerschen Saale unter zahlreicher Beteiligung die Feier ihres 25 jährigen Bestehens.
Die Grüße und Glückwünsche der Stadt Wittenberg brachte Oberbürgermeister Wurm, diejenigen der Handelskammer Halle Kaufmann Paul Böttger zum Ausdruck.
In seiner Festrede gab der Leiter der Berufsschule, Schulvorsteher Bohn, ein Bild von deren Werden und Wachsen.
Gedichtvorträge, musikalische und turnerische Darbietungen, dramatische Szenen aus dem Wittenberger Zunftleben und ein Festspiel füllten den Festabend aus.

4. Ausblicke und Schluß

Viel Ernstes und Schweres ist auf den vorstehenden Blättern verzeichnet, und nur spärlich sind die Lichtblicke in dem schicksalsschweren Zeitraum, den sie umschließen.
Und doch gehören diese Jahre und Tage zu den größten der deutschen Geschichte wie der Geschichte unserer Lutherstadt, denn in ihnen offenbart sich ein Heldentum, eine Pflichttreue und eine Opferbereitschaft, wie sie in der Weltgeschichte beispiellos und unerreicht dastehen.
Erst eine vorurteilslose, über dem Hader der Parteien und Völker stehende und darum gerechter urteilende Zukunft wird die Größe dessen, was unser Volk und mit ihm unsere Stadt in jenen Schicksalsstunden Deutschlands leistete, recht würdigen können.

Es gehört zu den glücklichen Eigenschaften des Menschen, daß er das Böse leichter vergißt als das Gute.
Darum kann es nur nützlich sein, wenn kommende Geschlechter lesen, wie groß und schwer die Lasten waren, die ein widriges Schicksal uns auferlegte. Sie sollen erkennen und daraus lernen, mit wieviel Mut und Entsagung wir diese Lasten getragen, wie wir namentlich auch in unserer Lutherstadt Wittenberg gerungen und gearbeitet haben, um aus unserem Unglück herauszukommen, wie wir uns ehrlich mühten, aus dem Trümmerhausen des Zusammenbruchs uns und unsern Kindern ein neues glückliches Vaterland zu zimmern und den Aufgaben von Gegenwart und Zukunft gerecht zu werden.

Welche besonderen Aufgaben unserer Lutherstadt in der nächsten Zukunft gestellt sind, das sollen die nachfolgenden Zeilen kurz andeuten.
Wir folgen dabei den schätzenswerten Ausführungen, welche das Oberhaupt unserer Stadt Oberbürgermeister Wurm in der „Provinzialkirche“ sowie in der „Magdeburgischen Zeitung“ hierüber gegeben hat.

Die starke Zunahme der Industrie in Wittenberg und seiner nächsten Umgebung birgt die Gefahr in sich, daß unserer Stadt ihre Eigenart als Lutherstadt genommen und sie zu einem gewöhnlichen Industrieort herabgedrückt wird.

Aufrichtiger Dank gebührt darum unserer Stadtverwaltung, vor allem ihrem unermüdlich tätigen Oberbürgermeister, die diese Gefahr rechtzeitig erkannten und mit allen Kräften bemüht sind, sie abzuwehren und Wittenberg seinen Charakter als einzigartige historische Gedenkstätte der Reformation dauernd zu erhalten und es wieder wie vor vier Jahrhunderten zum Mittelpunkte lutherisch-evangelischen Lebens zu gestalten.

Um dieser Eigenart der Stadt auch nach außen hin Ausdruck zu geben, faßten Magistrat und Stadtverordnetenversammlung bereits im Mai 1922 den Beschluß:
Die Stadt Wittenberg führt künftig den Namen:

Lutherstadt Wittenberg

Wohl hat diese Willenskundgebung der städtischen Körperschaften trotz wiederholter Eingaben bisher noch nicht die Genehmigung des preußischen Innenministeriums gefunden, aber es besteht die begründete Hoffnung, daß es den fortgesetzten Bemühungen gelingen wird, diese in absehbarer Zeit zu erhalten. Inzwischen hat der Evangelische Oberkirchenrat sämtliche ihm nachgeordneten kirchlichen Behörden angewiesen, im dienstlichen Verkehr ausschließlich die Bezeichnung „Lutherstadt Wittenberg“ zu gebrauchen.
Die breitesten Kreise unserer Bürgerschaft, namentlich die Vertreter von Industrie, Handel und Gewerbe, wenden sie im geschäftlichen wie privaten Verkehr an, und zahlreiche auswärtige Stellen – amtliche wie private – haben sich diesem Beispiele angeschlossen, sodaß zu hoffen ist, daß diese durch die historische Vergangenheit unserer Stadt wie durch ihre kulturelle Gegenwartsbedeutung gerechtfertigte Bezeichnung, welche Wittenberg in sichtbarer Art über andere Städte hinaushebt, bald allgemeiner Gebrauch werden wird.

Der in der gleichen Richtung liegende berechtigte Wunsch, Wittenberg zum Sitz einer Generalsuperintendentur für den Süd-Ost-Sprengel der Provinz Sachsen zu machen, hat sich zwar noch nicht verwirklichen lassen, doch hat der Evangelische Oberkirchenrat genehmigt, daß der Generalsuperintendent dieses Kirchenbezirks hier einen Sprechtag für die Ephoren desselben einrichtet.

Nach dem Verlust der Garnison hat sich die Stadtverwaltung mit Erfolg bemüht, einen großen Teil der leergewordenen Kasernen vom Reich und dem preußischen Staate zu erwerben.
Dazu gehört vor allem das Schloß Friedrichs des Weisen, das räumlich untrennbar mit der Schloßkirche verbunden ist.
Dieses ehrwürdige Baudenkmal aus großer Vergangenheit zu erhalten und würdig auszubauen, ist eine der vornehmsten Sorgen unserer Stadtverwaltung.
Die Finanznöte haben dies leider noch nicht in dem gewünschten Umfange gestattet, doch sind bereits verheißungsvolle Anfänge vorhanden, um den geräumigen Bau für evangelisch-kirchliche Zwecke nutzbar zu machen.
Die in dieser Beziehung bestehenden Pläne reifen ihrer Vollendung entgegen.

Dahin gehört vor allem die Errichtung eines „Forschungsheims für Weltanschauungskunde“, dessen Gründung am 10. Februar 1927 ohne äußeren Prunk in echt evangelischer Schlichtheit in Gegenwart von Vertretern der obersten Kirchenbehörden, Vertretern der Universität Halle-Wittenberg, zahlreichen namhaften evangelischen Männern von nah und fern durch Generalsuperintendent D. SchöttIer – Magdeburg unter Mitwirkung unseres rührigen Oberbürgermeisters Wurm erfolgte.
Zur Herrichtung der erforderlichen Räume bewilligten die städtischen Körperschaften im Februar d. Jahres die Summe von 15 000 M. für den Ausbau des Obergeschosses im alten Kurfürstenschloß.
Mit diesem Forschungsheim erhält unsere Stadt ein wissenschaftliches Institut, dessen Bedeutung weit über Deutschlands Grenzen hinausreicht.

Gesichert ist auch die Einrichtung eines „Luther-Hospiz“ in dem von der Sparkassenverwaltung angekauften „Bahnhofshotel-Kaiserhof“ in der Collegienstraße, welches den Besuchern der Lutherstadt angenehmen Aufenthalt zu mäßigen Preisen gewähren soll.

Zur Linderung der Wohnungsnot sind beträchtliche städtische Mittel zum Bau von Kleinwohnungen bereitgestellt, und zur Förderung des Schulwesens ist der Neubau eines neuzeitlichen Schulgebäudes mit Turnhalle in bevorzugter Lage am Schwanenteiche in Aussicht genommen.

Die Kanalisation der Stadt, mit der die Neupflasterung mehrerer Straßen, vor allem der wichtigen Collegienstraße und Schloßstraße verbunden ist, soll einheitlich in einem Gesamtkläranlagesystem nach dem Projekt eines bedeutenden Sachverständigen durchgeführt werden.

Die über die Eingemeindung der westlichen Vororte insbesondere von Kleinwittenberg schwebenden Verhandlungen dürsten in Kürze zum Abschluß gelangen.

Das Schaffen neuzeitlicher Straßenzüge wird den stark zugenommenen Fremdenverkehr, der vornehmlich der Besichtigung der Reformationsgedenkstätten gilt, in hohem Maße fördern und zur Verschönerung des Stadtbildes beitragen.
In Verbindung damit wird auch erreicht werden, daß der Verkehr mit dem modernen Verkehrsmittel, dem Auto, der jetzt vielfach um die innere Stadt herumführt, durch diese selbst geleitet wird.
Zur Hebung des Fremdenverkehrs und dessen glatter Abwicklung ist die Stadtverwaltung ferner bemüht, weitere möglichst günstige Eisenbahnverbindungen zu erreichen, insbesondere auch nach unserer Provinzialhauptstadt Magdeburg.

Unser Rathaus, dessen Umbau rüstig fortschreitet und am 18. Februar feierlich gerichtet wurde, wird nach der Fertigstellung als hervorragend historisches Baudenkmal eine besondere Zierde der Lutherstadt bilden.

Es sind großzügige Pläne, die im Vorstehenden gekennzeichnet wurden, und die von dem weiten Blid für die Bedürfnisse und Entwickelungsmöglichkeiten unserer Lutherstadt und der selbstlosen Fürsorge unserer Stadtverwaltung Zeugnis ablegen.
Bei der Energie unseres derzeitigen Stadtoberhauptes und dessen restloser Tätigkeit dürfen wir zuversichtlich hoffen, daß diese Pläne in absehbarer Zeit ihre Erfüllung finden.

Nicht minder weitreichende Pläne werden von unseren kirchlichen Körperschaften vorbereitet.
Dahin gehört zunächst die Anlage eines neuen großen Friedhofes außerhalb der Stadt im sogenannten Weinbergfeld in der Nähe von Teuchel und die großzügige Umgestaltung des ältesten Friedhofs (II) rechts der Dresdener Straße in Parkanlagen mit Urnenhain.

Das Interesse aller evangelischen Kreise beansprucht die von den kirchlichen Körperschaften ins Auge gefaßte innere wie äußere Erneuerung unserer Stadtpfarrkirche in einer Gestalt, die ihrer Bedeutung als Mutterkirche der Reformation gerecht wird.
Es ist zu hoffen, daß die Evangelischen des In- und Auslandes wie die Staats-und Kirchenbehörden diese Absicht in tatkräftiger Weise fördern.

Unserer Bürgerschaft und ihren Vertretern in den städtischen und kirchlichen en Körperschaften erwächst die die Aufgabe, alle diese Pläne zur Weiterentwicklung und Verschönerung unserer Stadt sich zu eigen zu machen und in weitgehendster Weise zu unterstützen.

Es muß dankbar anerkannt werden, daß trotz der Ungunst der Zeit, trotz der leidigen Finanznöte, die auch bei uns wie überall Hemmnisse schaffen, doch in unserer Stadt mit den zur Verfügung stehenden knappen Geldmitteln in den letzten Jahren viel für ihre Verschönerung und Fortentwicklung geschehen ist, namentlich in der Richtung, ihre Eigenart als Lutherstadt zu erhalten und weiter auszuprägen.
Das läßt uns freudig und vertrauensvoll in die Zukunft blicken.

Möge unsere städtische und kirchliche Verwaltung auf dem betretenen Wege weitergehen und ihr dabei jederzeit die Unterstützung der gesamten Bürgerschaft zuteil werden.
Möge unserer geliebten Lutherstadt Wittenberg auch in der Zukunft eine reichgesegnete Weiterentwicklung und neue Blüte beschieden sein, und es ihr in der Verwaltung von Stadt und Kirche wie in der Bürgerschaft auch künftig nie an weitschauenden, opferbereiten und tatkräftigen Männern und Frauen fehlen, denen mit besonderer Beziehung auf unsere Lutherstadt das Wort des Dichters als Richtschnur vor der Seele steht:

Du mußt an Deutschlands Zukunft glauben,
an deines Volkes Auferstehn.
Laß diesen Glauben dir nicht rauben
trotz allem, allem was geschehn!
Und handeln mußt du so, als hinge
von dir und deinem Tun allein
das Schicksal ab der deutschen Dinge
und die Verantwortung wär‘ dein.

Gott schütze und segne die Lutherstadt Wittenberg!

 

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