Familienforschung aus Kirchenbüchern

Stammbäume für jedermann. – Die ältesten Kirchenbücher in der Provinz Sachsen. – Vergilbte Blätter erzählen…

Die löbliche Sitte, Nachforschungen über Herkunft, Vergangenheit und Schicksal seiner Familie anzustellen, gewinnt in unseren Tagen erfreulicherweise immer mehr Boden. Die Industrie kommt diesem Bestreben durch Herstellen von geschmackvollen Stammbüchern, Familienchronik-Vordrucken, Formularen usw. entgegen und erleichtert dadurch diese Forschungen, für die man in früheren Jahren weder Bedürfnis noch Neigung verspürte. Zumeist war die Familienforschung nur eine Angelegenheit des Adels oder des vornehmen Bürgertums, während der einfache Mann weder Verständnis noch Interesse dafür zeigte.

Die wesentlichste und oft die einzige Quelle für familiengeschichtliche Forschungen bilden die Kirchenbücher. Leider sind viele dieser überaus wichtigen Dokumente vernichtet worden, namentlich im Dreißigjährigen Kriege, aber auch in den Napoleonischen Kriegen sowie durch Brand, Hochwasser und Nachlässigkeit bei der Aufbewahrung.

Es ist bezeichnend, daß wir den Kirchenbüchern erst seit der Reformation begegnen. Die mit Luthers Bibelübersetzung in Gebrauch kommende hochdeutsche Schriftsprache ist für ihre Einrichtung und Führung bestimmend gewesen. Seit einiger Zeit haben sich dankenswerterweise die Kirchenbehörden nachdrücklichst der Pflege der alten Kirchenbücher angenommen. Auf Veranlassung des Vereins für Kirchengeschichte wurden sämtliche Pfarrer unserer Provinz Sachsen angewiesen, nach einem vorgeschriebenen Fragebogen den Bestand an Kirchenbüchern anzugeben. Eine weitere Bestandsaufnahme erfolgte im Winter 1923, indem der Evangelische Oberkirchenrat durch Verfügung vom 20. Juni 1923 eine umfassende Inventuraufnahme aller Pfarrarchive in den älteren preußischen Provinzen anordnete. Auf Grund dieser Vorarbeiten war es Ernst Machholz möglich, in einer umfassenden Arbeit die noch vorhandenen Kirchenbücher nach ihrem Alter auszuführen. Sie ist als 30. Heft der „Mitteilungen der Zentralstelle für deutsche Personen und Familiengeschichte“ in Leipzig erschienen.

Wenn aber darin als die ältesten Kirchenbücher die von Mühlhausen i. Th. (Kirche St. Blasii) vom Jahre 1542 ab laufend angeführt sind, so ist das durch die neueren Nachforschungen überholt. Danach befindet sich das älteste Kirchenbuch der Provinz Sachsen in Edersleben bei Sangerhausen; es beginnt im Jahre 1538. Das dem Alter nach den Mühlhausener Kirchenbüchern folgende ist das von Lissen (Kr. Weißenfels) vom Jahre 1545. Es folgen Delitzsch 1547, Halle a. d. S. (Kirche U. L. Frauen) 1547, Eisleben (St. Annen) 1548, Eilenburg 1548, Gröbitz und Kistritz (Kr. Weißenfels) 1548, Kemberg 1551, Leißling und Zembschen (Kr. Weißenfels) 1552, Drakenstedt 1553, Hettstedt 1554, Roßleben, Großkyna und Jüdendorf, sämtlich 1555, Salzwedel 1556, Langensalza 1557. Die Lutherstadt Wittenberg besitzt Tauf- und Traubücher seit 1560, Totensbücher seit 1563. Außerdem ist sie im Besitz eines Ordinandenbuches in welchem sämtliche seit der Reformation ordinierte Geistliche eingetragen sind. Auf Wittenberg folgen die Kirchenbücher von Naumburg und Weißenfels 1561, Hohenmölsen 1562.

Seit dieser Zeit mehrt sich die Zahl der Kirchenbücher ständig. Es würde hier zu weit führen, die Aufzählung fortzusetzen. Bemerkt soll nur noch werden, daß beispielsweise auch in Thüringen sich eine größere Zahl von Kirchenbüchern findet, die bis ins 16. Jahrhundert hinaufreichen, und auch in unserem Nachbarstaat Anhalt gibt es eine stattliche Zahl von Orten, die im Besitz derartiger alter und wertvoller Schätze sind. Neben den Kirchenbüchern haben sich vielfach Kirchenrechnungen und andere kirchliche Aktenstücke erhalten, die ein noch höheres Alter aufweisen und für Familienforschungen nicht selten wertvolles Material bieten.

Es ist zumal dem weniger Geübten nicht immer leicht, die genannten Quellen sich nutzbar zu machen. Die Blätter sind vielfach vergilbt, die Tinte verblaßt, und die Buchstaben zeigen eine von ihrer heutigen Form völlig abweichende Gestalt oder sind stark verschnörkelt. Hierzu kommt noch, daß vielfach die Inhaltsverzeichnisse fehlen, wodurch das Zurechtfinden sehr erschwert wird. Immerhin ist es aber bei einiger Übung möglich, sich diese Urkunden nutzbar zu machen, sofern man sich nur die Mühe nicht verdrießen läßt. Vor einiger Zeit wurde allen Ernstes der Vorschlag gemacht, die alten Kirchenbücher einzuziehen und nach dem Magdeburger Archiv zu bringen, „damit sie dort in richtige Pflege und Verwahrung kommen“. Erfreulicherweise ist dieser verfehlten Anregung keine Folge gegeben worden und wird hoffentlich auch in Zukunft nicht gegeben werden, denn eine solche Maßregel wäre im Interesse der Allgemeinheit überaus zu bedauern. Zunächst würde darin ein Mißtrausensvotum für unsere Pfarrämter liegen, wenn behauptet wird, daß nicht sie, sondern nur das Magdeburger Archiv die alten Kirchenbücher richtig pflegen könne. Zum anderen aber müßten Heimatgeschichte und Heimatpflege den schwersten Schaden leiden, wenn diese wichtigsten und echtesten Quellen der Heimatkunde aus ihrer Heimat entfernt werden, wo sie allein Interesse und Leben wecken können. Welche Fülle von Nachrichten und Anregungen geht aus den alten Kirchenbüchern in unsere Gemeinden, in unsere Heimatblätter! Im Archiv würden sie verstauben und der Vergessenheit anheimfallen. Denn wie viele würden wohl nach Magdeburg reisen, um die alten Bücher einzusehen? Doch gewiß nur eine verschwindend kleine Zahl von Spezialinteressenten. Nein, die alten Kirchenbücher gehören wie alle echten Heimatschätze in ihre Heimat an einen geeigneten Platz, aber nicht in die fremde Stadt, wo sie nur tote, unbeachtete Massendinge darstellen, während sie daheim reichen Segen stiften können.

Möchten unsere alten Kirchenbücher noch mehr als bisher durchforscht und zum Segen der Familienforschung und der Heimatgeschichte fruchtbar gemacht werden!

Richard Erfurth †

aus: „Deutsche Heimat“ vom 15.10.1933