Es war einmal

„Es war einmal“, so fängt bekanntlich jedes rechte Märchen an. Das, was ich im folgenden erzählen will, wird gewiß auch manchen unserer älteren Leser und Leserinnen anmuten wie ein Märchen aus dem glücklichen Jugendland. Es handelt sich um eine hübsche Sitte, die vor etwa 70 Jahren (um 1860) in unserer Lutherstadt Wittenberg geübt wurde:
das „Adventssingen“, welches zur Freude und Erbauung von groß und klein in den Tagen vor Weihnachten ausgeführt wurde.

Kurrende – ein ‚Laufchor‘ der von Haus zu Haus zog

An anderen Orten bestand diese Sitte in anderer Form zB. als „Neujahrssingen“ noch bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts, und ich erinnere mich noch sehr deutlich an die Lage kurz vor und nach Neujahr, wo ich mit meinen Schulkameraden in Begleitung unseres wackeren „Herrn Kantors“ in den Häusern des Heimatortes,
„das Neujahrsang“.
Das Geld, welches von den mit unseren Kunstleistungen beglückten Familien dem Lehrer gezahlt wurde, war nun nicht etwa ein Geschenk für diesen, sondern gehörte zu seinen festen Einnahmen, auf die er also Anspruch hatte.
Daß für die „Neujahrssänger“ nebenbei auch etwas abfiel – meist in Gestalt von Kuchen, Näschereien, ober einer Tasse warmen Kaffee oder – was besonders geschätzt wurde – einem Glase heißen Punsch, das versteht sich von selbst.

War der Singeumgang beendet, dann gab der „Herr Kantor“ seinen Sängern als Belohnung ein kleines Fest. Nach altem Herkommen wurde dabei eine Mahlzeit, bestehend aus Reis mit Rindfleisch, verabreicht, das die „Frau Kantor“ in einem mächtigen Topfe kochte und auf den Bänken der Schulstube auf den von uns mitgebrachten Tellern servierte. War der Ertrag des Neujahrssingens besonders gut ausgefallen, so wurde uns wohl noch eine Zugabe in irgendwelcher Form beschert.

Unstreitig wohnte diesem Neujahrssingen viel Poesie inne; da es aber – ganz abgesehen von der unwürdigen Rolle, die es dem Lehrer zuwies – für die jungen Sänger sittliche und gesundheitliche Gefahren barg, so wurde es endlich von der Regierung verboten.

Eine ähnliche Einrichtung war in Wittenberg das Adventssingen. Die Adventssänger waren hier die aus den Knaben der Bürgerschule ausgewählten und durch einige stimmbegabte Schüler des Gymnasiums verstärkten Sänger des Stadtkirchenchors, die für den Adventssingumgang vom Kanter der Stadtpfarrkirche besonders unterwiesen wurden.

Während der Adventswochen hallten bei einbrechender Dämmerung die fröhlichen Weihnachtslieder der jungen Sänger aus den Höfen und aus den Häusern wieder, und gar manches Fenster wurde geöffnet, um dem Gesange schon von ferne zu lauschen.

Das Straßenbild, welches Wittenberg damals zeigte, war freilich von dem heutigen sehr verschieden. Schaufenster, die eine verschwenderische Fülle von elektrischem Licht verbreiten und damit die Käufer anziehen, gab es damals natürlich noch nicht. Die Straßen wurden noch mit Rüböllämpchen beleuchtet, die in eiförmigen Glasballons standen und nur ein kümmerliches gelbes Licht gaben, welches die Dunkelheit außerhalb ihres Lichtbereichs nur um so schwärzer erscheinen ließ. Die Bäche, welche die Stadt durchfließen, waren damals zum Teil noch offen, sodaß die Einwohner, wenn sie abends ausgingen, vorsichtshalber eine Handlaterne mitnahmen. Es geschah nicht selten, daß jene, die ohne die Laterne sich in die Dunkelheit hinauswagten, ein unfreiwilliges kaltes Bad im Bache nahmen, weil sie die schmale Brücke verfehlt hatten.

Diese Lichtlein zeigten auch das Nahen der Sänger an, die, um ihre Laterne geschart, immer näher kamen, und deren Lieder immer lauter erklangen, bis die muntere Schar endlich unten ins Haus huschte, möglichst leise die Treppe heraufkam, sich aufstellte und „aus voller Kehl und frischer Brust“ anhob zu singen:

„Dies ist der Tag, den Gott gemacht“
„Lobt Gott, ihr Christen allzugleich“
„Vom Himmel hoch da komm ich her“ u.a.

Drinnen aber in der Stube bei geöffneter Tür lauschten mit gefalteten Händen die Alten, mit leuchtenden Augen die Kinder den vertrauten Klängen und empfanden den Vorgeschmack des nahen Weihnachtsfestes.
Manchmal bat die Großmutter noch um ein besonderes Lied aus ihrer Kinderzeit, und „Sille Nacht, heilige Nacht“ erschallte es dann noch einmal. Dann zogen die mit einem Geldgeschenk u.a. erfreuten jungen Sänger weiter, um die Adventsfreude und Adventsstimmung auch in andere Häuser und Herzen zu tragen.

Als mit der Einführung der Petroleumbeleuchtung im Jahre 1856 für Wittenberg eine neue Zeit anbrach, da hatten sich bei den Adventssingumgängen allerlei Mißbräuche eingeschlichen, Kneipgelage der Sänger, unbescheidene Forderungen usw., die zum Einstellen der Singumgänge führten.

Als dann am 21. Januar 1864 in den Straßen und Läden der Stadt das Gaslicht ausflammte, da war das Adventssingen schon fast vergessen, und heute ist kaum noch eine Spur davon zu finden.

Auch die im Jahre 1917 wieder eingerichtete Kurrende, welche die schöne alte Sitte der sonntäglichen Singumgänge von neuem aufnahm, stellte infolge der Ungunst der Verhältnisse nach kurzem Bestehen ihre Tätigkeit leider wieder ein.

Die älteren unserer Leser und Leserinnen aber werden sich gewiß beim Lesen dieser Zeilen wieder der schönen Sitte des Adventssingens erinnern, und durch ihre Seele werden bei diesem Erinnern die wehmütigen Worte des Liedes ziehen:

„Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit
Klingt ein Lied mir immerdar.
O wie liegt so weit, o wie liegt so weit,
Was mein einst war!“

Richard Erfurth †

aus: Unser Heimatland vom 24.12.1926