Erinnerungen eines Achtzigjährigen 

Im Jahre 1839 wurde ich als Unteroffizier mit 2 Sergeanten vom Jüterboger Artillerieregiment nach Wittenberg abkommandiert, um im Artillerierlaboratorium dortselbst durch einen Oberfeuerwerker zum Hilfsfeuerwerker ausgebildet zu werden. Beim Gastwirt Gräbitz in der Mittelstraße fanden wir in einem kleinen Zimmer mit sehr niedriger Decke, in dem gerade 2 Betten stehen konnten, unser Unterkommen für die 6 Wochen währende Ausbildungszeit. Das Zimmerchen war ganz gemütlich, aber so niedrich, daß der lange Sergeant nur kriechend zu seinem Soldatenbett gelangen konnte, Manches Gute und Heitere haben wir damals in Wittenberg erlebt, Die Wirtsleute sorgten bestens für uns. Die langen Herbstabende sahen uns meistens in der Schankstube, wo wir uns mit den zahlreichen Gästen unterhielten, Man trank damals Braunbier, in Wittenberg gebraut, aus langen Biergläsern. Die Stammgäste tranken fast zu jedem Glas Bier einen kleinen Kümmel.
Es ging in der Regel recht lustig zu an diesen Abenden. Ein alter Herr, ein lustiger Patrizier, führte meist das Wort und erzähte viel vor den Feldzügen 1813/15, die er als Jüngling mitgemacht hatte. Er hielt sehr viel von dem französischen Mitär und ganz besonders von Napoleon I. Er hatte ihn sogar in Wittenberg persönlich gesehen. Der alte Herr trank aber viel Bier (man sprach von 7 Großen und den dazugehörigen Schnäpsen als seinem abendlichen Quantum).
Daß er in eine gewisse Stimmung kam, nimmt nicht wunder. Dabei konnte er besonnders keinen Widerspruch vertragen. Ganz wild und zornig wurde er. Der lange Sergeant sagte eines Tages:
„Den Alten will ich aber heute abend mal ärgern!“
Und er tat’s. Als der Alte wieder im besten Zuge war und von seinem „Napolium“ und der Belagerung Wittenbergs erzählte, redete ihm der Sergeant drein:
„Sie mit ihrem Napolium, der und die ganzen Franzosen sind schlappe Kerle!“
Das war zuviel. Blaurot vor Wut sprang der kleine Kerl dem langen Sergeanten an den Hals und wollte ihn erwürgen, Aber der Angegriffene lachte nur, die Szene war gut gelungen, der Spaß unbeschreiblich. Das waren meine ersten Erlebnisse in Wittenberg.

Zum zweiten Male kam ich 1870 bei Ausbruch des Krieges nach Wittenberg mit dem Befehl, für die Batterie von Wittenberg noch 2 Geschütze mit den dazugehörigen Munitionswagen zu holen, um die Batterie kriegskomplett zu machen.

Aber nicht vom Krieg will ich heute erzählen, sondern von Geschehnissen will ich berichten, die mein Geschick mit dem Wittenbergs eng verknotet haben und mich, obgleich ich kein geborener Wittenberger Bürger bin, doch zu einem solchen durchaus gemacht haben. So ist es keine Ueberhebung, wenn ich behaupte, daß meine Lebensgeschichte zugleich ein Stück Stadtgeschichte ist. Darum auch fühle ich mich gedrungen, etwas von meinem Leben zu erzählen.

Im Jahre 1876, also vor 48 Jahren, kam ich als Verheirateter nach Wittenberg, schon im nächsten Jahre erbaute ich das Haus Dessauer Straße 89, jetzt 126. Aber nur bis zum Jahre 1880 diente es uns als Wohnung, denn in diesem Jahre schuf ich uns ein neues Heim, die „Villa Christiana“, nicht „Christiania“. Diesen letzteren Namen, unter dem sie wohl allen Wittenbergern bekannt ist, erhielt sis irrtümlicherweise bei einem neuen Anstrich. Ich nannte sie „Christiana“ nach meiner Frau. Aber auch der Name „Christiania“ paßt sehr gut; denn, wie Norwegens Hauptstadt, liegt auch unsere Vila auf einer Insel. Dieses Grundstück erfuhr durch meinen Ankauf eine große Veränderung. Früher, 1829, wurde auf ihm ein kleines Fort errichtet mit großem Pulver- und Munitionshaus. 1866 wurde das Fort auf 7 Morgen vergrößert und der große Wallgraben mit haushoher Umwallung und Geschützschießscharten erbaut. Es sollte als Schutz gegen Oesterreich dienen und erhielt den Namen „Lünette“, auch auf gut deutsch „Schanze 1“.
So übernahm ich das Grundstück.
Das große Pulverhaus ließ ich bis auf den Grund wegreißen, um an seine Stelle auf Grund von Angaben meiner Frau die Villa „Christian“ zu errichten. Auch das kleinere Munitionsgebäude, das in den Erdwall eingebaut war, ließ ich wegreißen und auf seinem Fundament die Stallungen, die Wagenremise und Kutscherwohnung bauen.

Den Wassergraben, der ca. 3 Morgen groß war, konnte ich auch nicht ungenutzt lassen. Er wurde im Winter Schlittschuhbahn . Für 10 und 5 Pfg. konnte man sich auf seiner spiegelglatten Fläche tummeln, wer Lust hatte. Und mancher Wittenberger wie Witttenbergerin wird sich noch der schönen Stunden des Eislaufens erinnern. Wie oft sorgten Eiskonzert und italienische Nacht für richige Feststimmung. Und hatte man Hunger, auch dafür war gesorgt: „Süßchen-Klebing“ mit seinen „Süßchenkasten“ fehlte nie; wenn er auch so manches mal ziemlich unsanft angerempelt wurde, daß seinem schmackhafte warmen Würstchen wie im Schlaraffenland auf der Eisbahn herumlagen. Das schadete nichts und erhöhte nur die Stimmung. Um es den Eisläufern bequem zu machen, hatte ich nach dem Eingang zur Villa eine Ziehbrücke bauen lassen, wenn die aufgezogen war, konnte man ungehindert rings herum laufen.

Die Lindenstraße vor meiner Villa wurde dann auch geschaffen, schöne Häuser wurden an ihr errichtet, so das Kreishaus und das Kaiser-Wilhelm-Augusta Hospital.
1833 hatte ich endlich Gelegenheit, die Erdumwallung abfahren zu lassen. Das war eine große Sache. Ich hatte es vom Fiskus übernommen, den Teil des Wallgrabens, auf dem jetzt die Artilleriekaserne steht, zuzufüllen. Hierzu baute ich eine Kleinbahn von meinem Grundstück durch den Hospitalgarten über die Straße nach dort. 30 Arbeiter, 4 Pferde und 12 Kipplowrys waren nötig, um die gewaltige Arbeit zu bewältigen. Ich erfüllte meine Aufgabe glänzend, trotzdem es Winter war, und hatte in 5 Monaten 22 000 cbm Erde bewegt. Die Artilleriekaserne wurde dann nach mehreren Jahren auf 54 Brunnen (wegen des feuchten Grundes) erbaut.

Durch die Abtragung der Erdumwallung erhielt ich nun den jetzigen Garten und konnte Gemüse, Spargel und Maiblumen ziehen und 350 Obstbäume pflanzen. Das Land bis zur Melanchthonstraße kaufte ich noch dazu und konnte nun den schönen Eingang zur Villa mit der Parkanlage, wobei mir Herr Major Eunicke mit Rat und Tat zur Seite stand, errichten. 37 Jahre wohnte ich in der schönen Villa, im Jahre 1917 verkaufte ich sie an den Kreis Ausschuß.

Nun zur Pferdebahn

Sie ist heute verschwunden, viele Jungwittenberger kennen sie nur noch als etwas Gechichtliches, und doch war sie etwas ganz Besonderes für unsere Stadt; denn als ich den Plan zu ihr erfaßte, gab es noch sehr wenige Städte, die über eine Straßenbahn verfügten. Man mußte schon nach Berlin, Leipzig ober Halle fahren, um eine zu sehen. Und das waren Großstädte. Wittenberg hatte aber damals nur 15 000 Einwohner. Obwohl ich nur einfacher Bürger war, erkühnte ich mich, dieses Unternehmen zu wagen.
Ich mußte ja auch einen Ernährungszweig haben, der für mich paßte. Ich war bewandert im Umgang mit Pferden, und auch im Kleinbahnwesen hatte ich durch den Bau meines Grundstückes einige Erfahrung. Nach sehr reiflicher Ueberlegung und genauester Berechnung ging ich mit meinen Plänen zum Bürgermeister Dr. Schild. Der Stadtsekretär empfing mich.
„Was wollen Sie?“
„Ich will in Wittenberg eine Pferdebahn bauen!“
„Das ist ein totgebornes Kind“ war die kurze Antwort des Herrn Stadtsekretärs, indem er mich dabei über seine Brille weg so recht von oben herab ansah.
„Ich will Sie aber trotzdem dem Heren Bürgermeister melden“,
fuhr er fort. Ich trug nun dem Herrrn Bürgermeister mein Anliegen ausführlich vor. Aber auch er bemerkte in abschreckendem Ton: „Das wird nichts.“
Als ich ihn aber durch meine Rentabilitätsberechung energisch zu Leibe rückte ging er doch auf den Plan ein. Ich sollte eine schriftliche Eingabe machen. Meine Hoffnung auf eine glatte Durchführung meines Planes trog aber. Magistrat, Stadtverordnete und die ganze Bürgerschaft wollten von einer Straßenbahn garnichts wissen.
Ob es daran lag, daß ich ein Fremder und kein Patrizier war?
Das Unternehnen konnte doch nur zum Vorteil der ganzen Stadt gereichen, denn ich wollte für die Beförderung vom Bahnhof bis zum Markt nur ganze 10 Pfg. haben, während die Hotelwagen mindestens 50 Pfg. verlangten. Die 3 Hotelwirte protestierten am energischsten dagegen; sie betrachteren die Straßenbahn als Interessenbeschädigung. Der Hotelbesitzer und Stadtverordnele Huster plädierte in der Stadtverordnetensitzung:
„Das darf sich die Stadt nicht gefallen lassen, das teure Pflaster in der Collegienstraße darf nicht ruiniert werden!“ Wie er sich das letztere dachte, konnte er wohl selbst nicht feststellen. Ich schaffte zur Probe einen Omnibus an und ließ denselben zu den Hauptzügen nach der Bahn fahren. Da taten sich die hiesigen Fuhrherren zusammen gegen mich Jeder stellte einen Omnibus, der auch für 10 Pfg. die Fahrt machte. Ihre Absicht war:
Rettig muste tot gemacht werden!
Gewiß, nun konnte keiner verdienen. Aber erst als die Pferdebahın in Betrieb genommen war, verschwanden die Omnibusse.

Aber zur Pferdebahn gehörte eine Konzession. Nach langem Hin und Her kam es dann endlich, dank dem Wohlwollen, das der Herr Bürgermeister meinen Plan entgegen brachte, zum Vertrag, der aber sehr scharf nach dem Leipziger Vertrag vollzogen wurde. Ich konnte mit dem Bau beginnen. Das Material an Eisenschienen und Unterlagsschwellen wurde herbeigeschafft, und in 3 Wochen war die Strecke von 1600 m Länge fertig. Zwei Wagen und 2 Pferde waren einen Tag vor dem Eröffnungstage zur Stelle. Der 26. Juli 1888 war der feierliche Eröffnungstag. Ich hatte Magistrat und Stadtverordnete vormittags 10 Uhr zum Mitfahren eingeladen.
Ich rief, und sie kamen alle!
Beim Bahnhofswirt hatte ich für alle Gäste Frühstück mit Bier bestellt. So waren alle recht vergnügt. Die Rückfahrt endete an der Weintraube. Dort fand die eigentliche Feier mit Glückwunschrede des Herrn Bürgermeisters statt. Inzwischen ließ ich den Wagen mehreremale als Freifahrt für die Kinder hin und her fahren.
Das war ein Fest!
So viel Personen haben wohl nie wieder im Wagen gesessen.
Eine Musikkapelle aus dem Vorderperron fehlte natürlich auch nicht. Einem jedem hatte die Einweihung gefallen, das bewies die helle Begeisterung, die überall herrschte.

Am nächsten Tag, am 27. Juli, Freitags, dem Anfangstage der Vogelwiese, ging es nach dem Fahrplan:
16 mal täglich zur Bahn, 10 Pfg. pro Person, die von jedem selbst in den Zahlkasten geworfen werden mußten. Meine Tätigkeit bestand in der Oberaufsicht über alles. Es war für den Betrieb eine Menge zu beobachten, dazu noch Gartenarbeit und Kohlenhandel, das nahm mich völlig in Anspruch. Kutscher hatte ich in den 33 Jahren des Betriebes sehr wenig.
Der erste war 9 und der zweite 19 Jahre in meinem Dienste.
Als der Krieg kam, hatte ich öfter Wechsel

In den langen Jahren kamen auch manchmal recht unangenehme Störungen vor. Es war nicht immer leicht, den Betrieb glatt im Gang zu erhalten. So z.B. die Kinder:
sie gebärdeten sich manchmal recht närrisch, ein Hauptplatz für sie war es, sich während der Fahrt am Hinterperron anzuhängen. Das sollte aber nicht sein. Ich hatte den Rektor Hause gebeten, das Anhängen den Kindern zu untersagen. Aber viel half das nicht. Wenn ich mitfuhr, so blieb ich stets hinten, und mein Spazierstock war dann oft in Tätigkeit. Einmal hatte ich einen neuen Stock mit schöner Rehkrücke, den mir meine Frau von der Schweiz mitgebracht hatte. Ich gebrauchte ihn mit Nachdruck, um einen etwa 10 Jahre alten Jungen das Anhängen zu wehren.
Aber Pech! der Stock löste sich vom Griff und fiel herunter. Ich schnell hinterher, aber der Junge war schneller, er faßte den Stock und lief fort, ich folgte ihm, aber er retirierte in ein Haus, und Stock und Jungen sah ich nicht mehr. Hierbei hätte ich eine Bitte!
Sollte der Junge von damals, der nun auch ein Mann geworden ist, sich an den Vorfall noch erinnern oder womöglich noch im Besitze des Stockes sein, so würde ich mich sehr freuen, wenn er mal bei mir vorspräche. Im übrigen bitte ich alle diejenigen, die von mir das Stöcklein gekostet haben, es mir nicht nachzutragen

Der Kontrakt, den ich mit der Stadt betr. der Straßenbahn abgeschlossen hatte, lautete auf 40 Jahre. Aber der Krieg machte auch hierdurch einen Strich. Der Hafer für die Pferde, der Kutscherlohn und die Reparaturkosten wurden so teuer, daß die Bahn sich nicht mehr rentierte, ich mußte Geld zusetzen. Darum bat ich 1918 die Stadt, mich vom Kontrakt zu entbinden. Aber ich hatte mit dem Auflösen der Bahn ebenso große Schwierigkeiten wie bei ihrer Einführung. Man genehmigte meinen Antrag nicht, ich mußte weiter Geld zusetzen. Der Betrieb gestaltete sich aber immer schwieriger, mein Geld schwand nur so dahin. Da kam ich im Jahre 1921 nochmals um Entbindung von meinem Kontrakt ein. Aber wieder versagten die Stadtverordneten ihre Genehmigung. Dabei fiel sogar das harte Wort:
…hat man 7 fette Jahre gehabt, so muß man auch 7 magere vertragen können. Ja, wenn ich wirklich 7 fette Jahre mal gehabt hätte! Erst den Bemühungen des Herrn Baurats Petry, dem ich dafür vom Herzen dankbar bin, gelang es, mich vom Kontrakt frei zu machen.

Nun kam die Geldentwertung noch dazu, sodaß ich heute ein armer Mann bin. Wäre der Krieg nicht gekommen, hätte Wittenberg auch keine Pferdebaht mehr, dafür aber eine Elektrische bis Piesteriz.
Ich hatte 1913 mit einer großen Firma einen Vertrag abgeschlossen, demzufolge ich die Pferdebahn gegen Entschädigung abtrat und dafür die Elektrische gebaut werden sollte. Die Genehmigungen der Behörden verzögerten sich aber, und der 1914 ausbrechende Krieg machte vollends alles zunichte.

33 Jahre hat also die Pferdebahn in Wittenberg bestanden. Ich habe die Genugtuung, der Stadt Gutes damit erwiesen zn haben. Ein anderer hätte sich vielleicht bis heute nicht daran gewagt.

E. Rettig †

aus: O du Heimatflur! vom 14.12.1924

Anmerkung:
Dies sind die Erinnerungen eines unserer ältesten und bekanntesten Mitbürger, den unsere Stadt Wittenberg so manches verdankt. Die Frische und Lebendigkeit der Schilderung und die Wichtigkeit der behandelten Gegenstände werden allgemeines Interresse finden.