Ein Schuß im Walde

Der Versuch, das Kurfürstentum Sachsen in eine gegenkaiserliche calvinistische Politik hinüberzuleiten, wurde durch das Eingreifen des jungen Kurfürsten Christian II. vereitelt. Das Haupt der calvinistischen Bewegung, der Kanzler Krell, wurde nach längerer Haft enthauptet und alle wirklichen oder vermeintlichen Calvinisten verfolgt und bedrückt. Viele von ihnen retteten sich nach dem benachbarten Anhalt, wo der Calvinismus festen Boden gewonnen hatte, unter ihnen auch die hinterlassenen Angehörigen des Kanzlers Krell.
Dadurch aber wurde der schon bestehende Gegensatz zwischen Kursachsen und Anhalt nur noch verschärft. Der Verdacht, daß man in Anhalt Unheil für den sächsischen Nachbar sinne, setzte sich immer mehr in den Köpfen fest, und dieser Verdacht fand in dem nachstehend wiedergegebenen Ereignis seine scheinbare Bestätigung.
Kurfürst Christian II. war ein leidenschaftlicher Jäger. Zu seinen ergiebigsten Jagdgründen gehörten die Wälder um Gräfenhainichen. In der Nacht zum 8. April 1503 hatte er in dem Städtchen, das damals 1000 Bewohner zählte, mit seinem Gefolge übernachtet, um noch vor Sonnenaufgang zur Auerhahnbalz in die Dübener Heide zu fahren.
Dem kurfürstlichen Wagen vorauf ritten Reiter, die den Weg durch den noch dunklen Wald erleuchteten. Soeben hatte der Jagdzug in der Nähe des Dorfes Jüdenberg eine Brücke erreicht, die über einen der dort zahlreichen Wasserläufe führt. Da ertönte plötzlich ein Schuß, der ein lautes Echo im Walde weckte. Er mußte in nächster Nähe gefallen sein. Die begleitenden Reiter sprengten sogleich der Richtung zu, in welcher der Schütze sich befinden mußte, konnten aber trotz allen Suchens niemand finden. Die Jagd wurde sofort abgebrochen, und der Kurfürst kehrte mit Gefolge nach Gräfenhainichen zurück. Nach allen Seiten wurden nur Häscher hinter dem vermeintlichen Übeltäter hergeschickt und für seine Ergreifung 50 Reichstaler Belohnung ausgesetzt. Drei Bürger von Gräfenhainichen, die gleichfalls mit ausgezogen waren, hatten das Glück, die erste Spur zu entdecken. Ein Bauer aus Jüdenberg, der auf dem Acker pflügte, berichtete ihnen, er habe einen Mann und ein Weib mit einem Knaben aus jener Gegend aus dem Walde kommen sehen. Die drei Bürger eilten auf dem angegebenen Wege weiter und stießen auch wirklich auf die Gesuchten. Aber der Mann entsprang ihnen wieder und verbarg sich in einem Sumpfe. Am nächsten Tage aber wurde er von Einwohnern aus dem anhaltischen Dorfe Bobbau ausgeliefert. Er nannte sich Michael Heinrich und war aus Magdeburg.
Wochenlang schon hatte er sich im Lande umhergetrieben und sich vom Diebstahl und vom Betteln ernährt. Er gab ohne weiteres zu, den Schuß abgefeuert zu haben, aber nicht in der Absicht, jemand zu treffen, sondern habe nur dem Frauenzimmer, das mit ihm auf der Bettelfahrt war, das verabredete Zeichen geben wollen, wo er zu finden sei, weil er im Walde übernachtet habe, während sie mit dem Kinde in Jüdenberg geblieben sei.
Das Gewehr wäre auch nur mit Pulver und Papier geladen gewesen. Als er nun das Reitergetümmel auf der Brücke gehört und den Fackelschein zwischen den Büschen gesehen habe, da sei er eiligst ins Dickicht geflohen.
Von der Nähe des Kurfürsten habe er gar nichts gewußt.
Diese Aussage klang allerdings recht glaubhaft, aber der Kurfürst und die untersuchende Behörde waren der Meinung, daß der Schuß nur dem Kurfürsten gegolten habe. Auch über die Anstifter war man sich einig. Die Anstiftung zu diesem Verbrechen konne von niemand anderem ausgehen denn „von etzlichen und blutdürstigen Calvinisten, welche die Rechnung gemacht, wenn der fromme Kurfürst aus dem Wege geräumt, könnten sie sich wieder einnisten, oder daß man damit necem Dr. Crelli (den Tod des Kanzlers Krell) an Ihre Kurfürstlichen Gnaden vindicieren wollen“.
(vindicieren – rächen.)
Der vermeintliche Meuchelmörder wurde auf die Folter gespannt und gestand unter deren Qualen, was man von ihm hören wollte: Ihm seien 50 Reichstaler „wegen der Fürsten von Anhalt“ geboten, wenn er den Kurfürsten im Walde bei Gräfenhainichen totschießen würde. Der Oberstleutnant von Thüna und der Kanzler Biedermann in Dessau seien die gewesen, die ihn bestochen hätten.
Der Fall wurde daraufhin dem Kaiser unterbreitet. Dieser ordnete eine Wiederholung der Folter an, die nun noch schärfer gehandhabt wird und den Unglücklichen zu weiteren Geständnissen zwingt:
Es hätten 22 Personen zu der Verschwörung gehört, unter diesen die Verwandtschaft des Dr. Krell, die ihm 200 Reichstaler geboten hätten. Damit sah man die Schuld klar erwiesen, und am 29. Januar 1505 wurde der also überführte „wegen seines begangenen und bekannten Schusses und dadurch fürhebten abscheulichen Mordtat lebendig in 4 Stücke zerhauen und also vom Leben zum Todte gestraft, auch die 4 Stücke an unterschiedene ortte auf gehenget“.

Das ist der nüchterne Auszug aus den umfangreichen Akten jenes abenteuerlichen Prozesses. Er ist ein sprechendes Zeugnis für die konfessionelle Unduldsamkeit jener Lage, die alle öffentlichen Verhältnisse vergiftete und selbst die Rechtspflege auf Irrwege führte, die das religiöse Denken und Fühlen dahin beeinflußte, daß es dem Andersgläubigen Schlimmste zutraute.

Die entstandene Aufregung war übrigens mit dem Tode des jedenfalls unschuldigen Landstreichers keineswegs verschwunden. Sogar der Kurfürst von Brandenburg und die Könige von England und Dänemark mußten in diesem Streit zwischen Sachsen und Anhalt vermitteln. Erst als auch der Oberstleutnant von Thüna am 18. April 1669 im Gefängnis gestorben war, ließ die Spannung allmählich nach. In Gräfenhainichen und Umgegend aber zitterte die Erregung über das Schreckliche, was auf ihrer Gemarkung geschehen war, noch lange nach.

Richard Erfurth †

aus: Glaube und Heimat 1938