Die zwei Silhouetten von Wittenberg

Wer von Halle aus über die Autobahn nach Wittenberg gelangen will, und bei der Abzweigung Coswig in östlicher Richtung weiterfährt, sieht schon von weitem die mächtigen Schornsteine der chemischen Großbetriebe. Noch bevor er den Stadtkern erreicht, präsentieren sich ihm die Betriebe des Düngemittelkombinates VEB Stickstoffwerk Plesteritz und des Gummikombinates „Elbit“.

Blick zur Schloßkirche – um 1970

Das ist die eine Visitenkarte der Stadt und des Kreises Wittenberg, auf deren Grund und Boden etwa zehntausend Menschen in den chemischen Betrieben arbeiten. Schon sind die Fundamente gesetzt für noch größere, vollautomatisierte Werke, die in enger Zusammenarbeit mit der Sowjetunion Aufgaben vorbereiten, die weit in die Zukunft hinein profilbestimmend sein werden. Die Partei der Arbeiterklasse hat diese Entwicklung zur Diskussion gestellt, die Werktätigen haben sie aufgegriffen und arbeiten mit Elan und Schöpfertum an der Verwirklichung dieser begeisternden Zielstellungen,

Neue Werkhallen im VEB Apparate-
und Chemieanlagenbau Reinsdorf
(Dobien)

Der Fremde, der vom Süden her nach Wittenberg kommt, wird schon von weitem eine andere Silhouette der Stadt entdecken: die Türme der Stadt- und der Schloßkirche. Wenn er den Elbstrom passiert hat, sieht er das alte Augustinerkloster, Luthers späteres Wohnhaus, und noch bevor der Zug in den etwas abseitsliegenden Bahnhof einfährt, kann er die ihm zugewandte Seite der alten, 1502 gegründeten, Universität betrachten, die durch Luther und Melanchthon zum Mittelpunkt der Reformation wurde.

Wittenberg, die alte Hauptstadt des Kurfürstentums Sachsen, war zu Luthers und Melanchthons Zeiten ein geistiger Mittelpunkt im „Heiligen Römischen Reich deutscher Nation“. Hier regierte der berühmte Lucas Cranach d. A., hier studierten Jünglinge aus allen deutschen Landen und aus Ungarn, Polen, Schweden. Von hier aus ging das Aufbegehren gegen Pfaffentum und Fürstenwillkür durch die Lande, für das sich Müntzer einsetzte und vor dem sich Luther entsetzte.

Blick zur Schlosskirche – 2023
Bild: Klaus Nunweiler

In den Jahrhunderten seitdem wurden die Stadt und ihre Umgebung immer wieder Opfer der Kriege. Auch weil die Festungsmauern sie wie ein Korsett einschnürten, konnte sich Wittenberg nur zaghaft entwickeln. Als dann die Wälle fielen, machte die Industrie sich breit, wurde der Norden des Kreises mehrmals bedroht durch Explosio- nen auf dem Gebiet der ehemaligen WASAG, einem Rüstungsbetrieb, der wie die Bayrische Stickstoff-AG aus dem Blute der Arbeiter riesige Profite scheffelte und mitschuldig war am Hitlerkrieg.

Nach der Befreiung durch die Sowjetarmee gingen die Werktätigen unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer Partei an den Aufbau einer neuen, schönen, sozialistischen Heimat. Sie blickt dich an in den neuen Schulen, in den modernen Wohnvierteln, sie blickt dich an mit den Gesichtern von Tausenden Neuerern in der Industrie und Landwirtschaft, sie wird sichtbar im Naherholungszentrum Jahmo, am Zeltplatz Lausiger Teiche, in den neuen Kliniken und Landambulatorien, in der wunderschönen Stadtbibliothek, in der kleinen Gemeinde Boßdorf, wo mit Unterstützung der LPG „Ernst Thälmann“ ein Kindergarten und eine Kinderkrippe entstanden. Und dies ist die andere Visitenkarte der Stadt und des Kreises: Dort, wo einst vornehmlich auf dem Fläming nur Roggen reifte, wächst heute durch bodenverbessernde Maßnahmen Weizen, dort, wo die Bauern im Südteil die Viehzucht einst nur im kleinen betrieben, ist man zur industriemäßigen Zucht und Haltung übergegangen, entstand ein Aufzuchtgebiet der schwarzbunten Rinderrasse. Und die LPG „Einheit“ in Trebitz eine dieser hervorragenden Züchtergenossenschaften erreichte im vergangenen Jahr eine durchschnittliche Milchleistung pro Kuh von über 5000 kg.

aus: „Freiheit“ vom 12.10.1970

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