Die Wittenberger Vogelwiese 1890 – 1900

Jeder Deutsche hat im Jahre 3 große Feste.
Nur der Wittenberger, der hat 4.
Nämlich Weihnachten, Ostern, Pfingsten und die heilige Vogelwiese. Komm, lieber Freund, wir wollen beide dies Fest an uns vorübergehen lassen.
Bist du ein Wittenberger Kind und nun schon alt, so sollst du noch einmal deine Kindheit erleben.
Bist du ein Zugereister, so kannst du erfahren, wie man ein 5 Jahrhundert altes Fest alljährlich wiederkehren ließ.
Das unsichere Jahr 1430 erforderte den Zusammenschluß der
Bürger zu Schützen der Stadt.
1449 beginnt das Schießen auf den Königsvogel auf der Vogelwiese. Diese bleibt im Krieg und Frieden der Zeit unverrückt bestehen. Nach einer im Jahre 1844 erfolgten Neubildung durch den aus alter Wittenberger Familie neugewählten Chirurgus, Stadtverordneten und Bürgergrenadierhauptmann August Förster erhalten die Schützen die heutige Uniform. 200 Schützen paradieren mit dem Militär zusammen zu Königs Geburtstag auf dem Arsenalplatz. Förster prägte das Wort; was von da ab in Herzform auf dem Rumpf des Königsvogels befestigt wurde:
Ob arm, ob reich, ein jeder brave Bürger ist dem andern gleich. Kameradschaft, Pflichtgefühl, und andere deutsche Tugenden blieben dadurch in der Bürgerschaft erhalten.
In den ersten Jahrhunderten wechselt die Bekleidung oft.
Von 1844 bis 1892 bestand sie bei der 1. Komp. aus grünem Waffenrock mit roten Aufschlägen, weißer Hose, Tschako und Federbusch, Gewehr und Hirschfänger.
In dieser Tracht mit Fahne paradiert sie 1846 vor dem König von Preußen.
Die 1862 gegründete 2. Komp. trug hellgraue Joppe, eine weiße, eine schwarze Hose, grauen Hut mit Feder, weiße Handschuhe, Büchse und Hirschfänger.
Seit 1888 bestand unter Leitung von Otto Wollschläger die ziviltragende 3. Komp. Kommandeur war seit 1866 der stadtbekannte Oberst August Strensch.
Der letzte Sonntag im Juli bis zum ersten Sonntag im August
ist Vogelwiese. Dies wußte nicht nur jedes Kind, sondern auch alle Erwachsenen, die jemals Wittenberg bevölkerten.
Für die Mütter begann sie schon eine Woche vorher.
Die Schneiderin kam ins Haus, denn es könnte was passieren.
Vater könnte König werden. Wehe der Königin, deren Wirtschaft und Staat nicht in Ordnung war.
Kommode und Schrank werden ausgepackt, Uniform geordnet, der Tschako, der das ganze Jahr als Klammerkorb diente, mit neuen Federn versehen. Die Petroleumlampe geputzt, Geflügel und Karnickel geschlachtet und dann wird Kuchen gebacken in rauhen Mengen.
Sonntag früh rückt der auswärtige Besuch an. Zur gleichen Zeit ist auf dem Platz vor dem Elstertor eine glanzvolle Stadt entstanden. Ganz Wittenberg hat geholfen, Stadt und Schützenplatz zu schmücken.
Das Schießhaus ist erbaut, der Scheibenstand errichtet, der Königsstern sitzt auf hoher Stange. Schaubuden, Karussells, alles, was das Herze wünscht, ist da, und Petrus läßt die Sonne scheinen.
Die gesamte Umgegend richtet die Erntearbeit nach der Vogelwiese ein, denn gleich danach wird’s dunkel.
Die Jahre hatten großen Reichtum über Stadt und Land gebracht, alle konnten sich was leisten.
Zur Vogelwiese erhielten die Mädchen neue Kleider, die Burschen neue Anzüge.
Am 1. Sonntag werden in den Dörfern die Pferde geschmückt, jeder hat sein Vogelwiesegeld und erscheint in der Stadt oder auf der Wiese. Alle Geschäfte sind an beiden Sonntagen geöffnet.
Tanz ist in allen Sälen:
Auch das Militär hat dienstfrei und viel Besuch. Die Schützen,
die am Freitag Abend bereits Appell und Exercieren im Scheibenstand hatten, schießen am Sonntag nach dem Königsstern.
Aus Vermächtnissen erhalten die 5 besten Schützen schwere silberne Löffel.
In den Betrieben der Stadt wird von Montag ab nicht mehr gearbeitet. Angestellte und Arbeiter erhalten ihren Lohn und verdienen sich auf der Vogelwiese noch dazu.
Auch die Jugend erhielt durch Hilfeleistungen aller Art ihr Vogelwiesegeld.
Nun begleite mich, lieber Leser, zu einem Rundgang auf unsere Vogelwiese.
Montag früh 5 Uhr trinken ca. 20 Schützen Kaffee im „Bums“,
Bürgermeisterstraße.
Punkt 6 Uhr marschieren sie, die Regimentsmusik an der Spitze, zum Wecken durch die Stadt. Aus den Häusern schließen sich zahlreiche Einwohner an. Bekannte Originale sind dazwischen, denn Paukenschmidt haut auf sein Kalbfell.
Jede Straße hat ihren Marsch, z. B. die Coswigerstraße den „Dessauer“:

So leben wir, so leben wir, so leben wir
alle Tage in der allerschönsten Saufkompanie.
Das morgens bei dem Branntewein,
des mittags bei dem Bier,
des abends bei die Mädels ins Nachtquartier.

Die Schloßstraße hat Fridericus Rex und die Juristenstraße den Radetzkymarsch.
Um 9 Uhr landen sie wieder im „Bums“, der Auftakt zum Fest ist gemacht. Noch in der Nacht ist der Stern durch den Königsvogel ersetzt.
Am selben Montag treten die Schützen gegen Mittag im „Bums“
an. Sie marschieren zum Rathaus, um die Fahne und den König
abzuholen.
Es folgt Parademarsch vor König und Magistrat sowie Ausmarsch durch die Collegienstraße zur Vogelwiese.
Die halbe Stadt zieht mit und vergnügt sich auf dem Platz, denn das Vogelschießen ist ausgelost und beginnt.
Sobald ein Schütze den Schießstand betritt, warnt ein Trommler die
Späne aufsuchenden Leute; es klingt, als wenn ein Wittenberger ruft:
Los! Schert Euch nu weg!
Ist ein Span gefallen, erfolgt ein Trommelwirbel, um den kontrollierenden Offizier aufmerksam zu machen.
Ein anderes Warnzeichen wird gegeben von einem auf dem Kugelfang sitzenden Jungen mit roter Fahne, wenn auf der Elbe Kahn oder Dampfer kommt, da die Geschosse über die Elbe fliegen. Die Zelte sind besetzt, und man beobachtet das Absplittern der Späne. Jeder Span muß Maß und Farbe haben.
So geht es fort bis Dienstag und Mittwoch.
An diesen Tagen besuchen die Schützen mit Musik die Karussell- und Schaubudenbesitzer, Eintritt entweder aus der Schützenkasse
oder ein Kamerad muß bezahlen.
Wer z. B. absichtlich am Vogel vorbeischießt oder seine Frau während der Vogelwiese vernachlässigt, der wird arretiert.
Im Schießhaus wird ihm der Prozeß gemacht.
Das Urteil lautet immer auf Tod (er wird nächstes Jahr als Vogel abgeschossen).
Auf das Geschrei der Menge wird der Tod in Geldstrafe umgewandelt, also Karussellfahren oder 1/4 Tonne Bier usw. Mittwoch fällt der Königsschuß.
Der neue König hat das letzte Stück vom Vogel abgeschossen, vor dem Schießhaus wird der neue König proklamiert. In den bekränzten Landauer von Ferdinand Schach steigt der Adjutant mit einem Blumenstrauß ein, um die überraschte Königin aus der Stadt
zu holen. Der Donnerstag bringt den Höhepunkt des Festes.
Früh morgens Wecken und Ausmarsch wie am Montag.
Bei der Königstafel wird der alte König abgehaltert, der neue König
eingeseift. Gleichzeitig werden neu eingetretene Kameraden aus dem 1742 gestifteten Pokal mit Sekt benebelt.
Abends ist Einzug und Königsball in einem Festsaal der Stadt.
Der Freitag, Sonnabend und Sonntag wird mit Schießen nach der Scheibe ausgefüllt, wobei wertvolle Preise verteilt werden.
Am Montag findet nach 10 Uhr abends als Schluß des Festes ein Feuerwerk am anderen Elbufer statt, wo jedem Besucher der äppelnde Esel für nächstes Jahr in Erinnerung bleibt.
Wir aber wollen unseren Rundgang über die Vogelwiese antreten und feststellen, wie sich die Jugend am ersten Sonntag, dem Tag der Landwirtschaft, vergnügt und nützlich macht.

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