Im Brennpunkt des öffentlichen Interesses stehen gegenwärtig die Vorbereitungen für die Neuwahl der Stadverordnetenversammlung. Man kann es verstehen, wenn jede wirtschaftliche Vereinigung sich möglichst viel Einfluß auf diese zu sichern sucht. Immer wieder kann man dabei die Klage hören, daß Handwerk und Gewerbe nicht ihrer Bedeutung entsprechend vertreten seien, und mit einer gewissen Wehmut weist man wohl auf die Zeiten hin, da die Vereinigung der Handwerker, die Innungen oder Zünfte, eine ausschlaggebende Stellung in der städtischen Verfassung einnahmen.
Ihr Ursprung läßt sich zahlenmäßig zumeist nicht mit Sicherheit nachweisen. Vor der Selbständigkeit der Städte wurden diese Vereinigungen von den Landesherren nicht gern gesehen, wohl weil diese in ihnen Herde der Unzufriedenheit und Unbotmäßigkeit erblickten. Verbote und Verfolgungen der Zünfte sind darum in jener Zeit nichts seltenes. Nachdem aber die Städte ihre Selbständigkeit erlangt hatten (Wittenberg erhielt im Jahre 1293 städtische Gerechtsame und Freiheiten), bildeten die Innungen bald den Kern der freigewordenen Bürgerschaft und wurden auch von dem Landesherrn als segensreiche Einrichtung anerkannt und begünstigt.
Es war nur natürlich, daß die Zünfte sowohl durch die große Zahl ihrer Mitglieder als auch durch ihre innere Geschlossenheit bald ein erhebliches Uebergewicht über die übrigen Bürger erlangten. Ein Teil der Ratsmitglieder (Ratmannen) wurde aus den Zünften genommen, und der Rat war verpflichtet, alljährlich vor vier Zunftmeistern und zwei Ratmannen aus der Gemeinde Rechnung zu legen. Die Oberaufsicht über die Zünfte stand dem Rate zu, und die Zunftbriefe verpflichteten ausbrücklich zum Gehorsam gegen den Rat.
Die Zunftmitglieder mußten gegenseitige Hilfe und Unterstützung, Redlichkeit beim Handel, Sorgsamkeit bei der Verarbeitung der Rohstoffe und sittlichen Lebenswandel geloben. In die Zunft wurde nur aufgenommen, wer vorher das Bürgerrecht beim Rat erworben hatte, dessen Erteilung von Zahlung des Bürgergeldes und von gutem Leumund und unzweifelhaft deutscher Abstammung abhängig gemacht wurde. Der Aufzunehmende mußte ehrlich und „von deutscher zungen von vater und muter und von allen synen vier anen geboren syn“. (Wittenberger Zunftbrief vom Jahre 1817.) Abkömmlinge von Juden und Wenden waren ausgeschlossen.
Die Verkaufspreise wurden vom Rate der Stadt nach Besprechung mit den Obermeistern der Zünfte festgesezt. Zuwiderhandlungen wurden mit Geldstrafen und sonderbarerweise zuweilen auch mit Bierstrafen belegt. Die Abhängigkeit der Zünfte vom Rate kam auch dadurch zum Ausdruck, daß diese ihre „Bauern- oder Morgensprache“ (Zunftversammlungen) nur im Beisein der Ratmannen halten sollten. Im Jahre 1402 scheinen die Wittenberger Zünfte diese Rechte bem Rate bestritten zu haben, weshalb Kurfürst Rudolf III. sich veranlaßt sah, diese ausdrücklich zu bestätigen.
Als erste Wittenberger Zunft wird urkundlich die der Bäcker genannt. Neben dieser aber bestanden jedenfalls von altersher -wenn sie auch erst 1350 ausdrücklich erwähnt werden – noch drei andere Zünfte: die der Fleischer (Fleischhauer), deren Zunftbrief 1422 erneuert wurde, der Tuchmacher, der Gerber und Schuhmacher Der Innungsbrief der Bäcker vom Jahre 1424 enthält folgende Bestimmungen: Zum Ersten sollen die Bäckerwerken unter iren Werggenossen alle Jahr zween Meister kiesen mit Rate aller der, die in dem Werge syn. Dieselben zween Meister, als die gekoren werden, sollen schweren vor unsern Radmann, das sie uns unde unsere Stadt zu Wittenbergk vor zwietracht und uffläufte bewaren wollen von Iren werkgenossen, und sollen den Frieden gebyten zu halden. Wer zum Andern die Innung des egenannten Wergs gewinnen will, der soll das suchen vor unsere Radmann zu Wittenbergk und vor die meister des egenannten Wergs und soll geben uff unser Radhuß eyn halb schog breiter bemischer groschen und zween Pfund wachs und dasselbe den gewerken.“ Nach dem Zunftbrief der Fleischer vom Jahre 1422 wurde diesen der Fleischscharren (Verkaufsstand; siehe Scharrnstraße) erblich überlassen. Wer Meister wurde, mußte der Stadt geben „einen Vierding und zween Pfund wachs und den gewerken ebensoviel“. Der Zunftbrief der Schneider vom Jahre 1460 bestimmte u. a. folgendes: „Kein Schneider solle eine Meile Weges nahe der Stadt dasselbe Handwerk treiben, er sei denn vorher Bürger geworden und habe gezahlt dem Herzog zwanzig neue Groschen und zwei Pfund Wachs, ebendasselbe dem Rate und der Innung“. Bei der Prüfung eines Gesellen, der Meister werden wolle, sollte gefragt werden, ob er auch wisse anzugeben, wie ein Priester mit allem Zubehör zum Altar im Meßgewand, Kaseln, Alben u. a. gehen, und wieviel er zu jeglichem Stücke bedürfe, auch wie ein Priester ehrlich redlich in Kleidern gehen, und wieviel er Gewands dazu bedürfe, auch wisse einen Stecher und Renner mit Kleidung und sein Pferd mit Umhängen zubereiten“.
Die vorgenannten vier ältesten Wittenberger Zünfte besaßen gegenüber den später hinzukommenden manches Vorrecht. Ihre Obermeister, die alljährlich neu gewählt wurden, waren verpflichtet, alle Ruhestörungen und Aufläufe zu verhüten und solchen zu wehren. Sie wurden vom Rate in allen Handwerks und Marktangelegenheiten befragt und – wie bereits erwähnt – bei der Rechnungslegung hinzugezogen. Ja, die Zünfte aller übrigen Städte des Herzogtums waren angewiesen, Rechtsfälle, die sie nicht selber entscheiden konnten, durch die vier alten Gewerke von Wittenberg entscheiden zu lassen.
Nicht ohne Interesse sind die Bestimmungen der alten Zunftbriefe, die sich auf die innere Ordnung der Zünfte beziehen, so auf die Vererbung des Meisterrechts auf Witwen, Söhne und Töchter eines verstorbenen Handwerksmeisters. Die Söhne erbten stets ganzes Meisterrecht, die Töchter hingegen nur halbes. Witwen erhielten ganzes Meisterrecht; verheirateten sie sich jedoch wieder, und zwar mit einem Werkverständigen ohne Meisterrecht, so behielten sie nur das halbe. Ferner trafen die Innungsbriefe Bestimmungen über den gemeinschaftlichen Ankauf von Holz und Brotkorn, über die Aufnahme von Lehrlingen, die Pflichten der Jungmeister, über Leichenbegleitung, Aufzüge an Festtagen usw. An jedem Sonntage mußten die Bäcker vor dem Rate erscheinen und zu den Heiligen schwören, daß sie dem Brote nach dem jeweiligen Kornpreise die rechte Größe gegeben hätten. Die Fleischer mußten sich verpflichten, „kein scherbiges, stetiges oder mageres Vieh zu schlachten und redlichen Kauf zu geben“. Und daß der Rat sehr scharf auf die Erfüllung dieser Verpflichtungen achtete, lassen die Strafregister jener Zeit deutlich erkennen. Wie sehr man aber andererseits sich die Gunst der Zünfte zu erhalten suchte, geht u. a. daraus hervor, daß Kurfürst Friedrich der Sanftmütige der Fleischerinnung das Recht der Nachhutung auf dem Großen und Kleinen Anger und der Kuhlache für Schweine und Schafe und im Großen Lug für Rinder verlieh. Das stellte ein wichtiges Privileg dar, das erst Ende des 19. Jahrhunderts bei der Separation gegen zwölf Morgen Land im Großen Anger abgelöst wurde. Die Fleischerinnung zeichnete sich überhaupt durch umfangreichen Grundbesitz aus. So gehörte ihr z. B. auch die Waldmark Fleisscherwerder, welche ja heute noch durch ihren Namen daran erinnert und später in den Besitz der Stadt Wittenberg überging, wofür ihr die „Fleischerwiesen“ überwiesen wurden.
Bei dieser Gelegenheit sei bemerkt, daß Wittenberg schon frühzeitig ein städtisches Schlachthaus besaß. Nach einer noch vorhandenen Stadtrechnung vom Jahre 1509 brachte dieses an Benutzungsgebühren 2 Schock, 14 Groschen, 2 Pfennige und 1 Heller. Es muß recht stark benutzt worden sein, da an Gebühren erhoben wurden:
für ein Rind oder Schwein 1 Pfennig,
für jedes andere Stück Schlachtvieh 1 Heller.
Natürlich blieb es nicht bei den genannten vier alten Zünften. Die übrigen Handwerker schlossen sich ebenfalls frühzeitig zusammen und suchten die gleichen Rechte wie jene Zünfte zu erwerben. Bereits 1356 erlangte die Innung der Gewandschneider als solche Anerkennung, indem bestimmt wurde: „niemand der ein (anderes) Handwerk habe, solle schön Gewand schneiden bei einer halben Mark Strafe“. Bald folgten noch andere Gewerke nach, und gegen Ende des 15. Jahrhunderts gab es in Wittenberg außer den vorgenannten fünf, die der Kürschner, Kramer (das sind die späteren Nadler, Gürtler und Klempner), Huf- und Waffenschmiede, Messer- und Kleinschmiede (Schlosser), Böttcher und Leineweber.
Es verdient erwähnt zu werden, daß auch die Hirten im Kreisamt Wittenberg schon frühzeitig sich zu einer Zunft zusammenschlossen. Die älteste urkundliche Nachricht darüber stammt aus dem Jahre 1556, wo von dem damaligen Amtsschöffer Hyronimus Zorn die von den Hirten auf dem Fläming übergebenen 17 Artikel genehmigt wurden. Wegen der großen Verschiedenheit der Hutung gliederte sich die Hirtenzunft in eine solche auf dem Fläming und die in der Aue. Erstere hielt im Frühling und Herbst ihre Zusammenkunft in Zahna, leztere zu den gleichen Zeiten in Kemberg ab. Jede Hirtenzunft hatte ihre Oberhirten, der nach den Zunftartikeln Streifälle zu entscheiden hatte. In diesen Artikeln war u. a. bestimmt, daß jeder, der in die Hirtenzunft aufgenommen sein wollte, sich ein halbes Jahr vorher bei dem Oberhirten melden und nach erfolgter Aufnahme fünf Taler „Einkaufsgeld“ zahlen sollte. Wer einen anderen Hirten aus seinem Dienste verdrängte oder ihm Knechte abspenstig zu machen suchte, verfiel der festgesezten Strafe. Ungetreue Hirten, die das anvertraute Vieh verwahrlosten, wurden gleichfalls bestraft. Allen wurde befohlen, bei ihren Zusammenkünften ihre Wehren von sich zu legen und sie an den Wirt des Versammlungsortes abzugeben. Aus dieser Bestimmung läßt sich erkennen, daß die Hirten damals wegen häufiger räuberischer Angriffe auf ihre Herden bewaffnet zur Hutung zogen, andererseits auch, daß es bei den Zusammenkünften der Hirten wiederholt zu Tätlichkeiten unter sich gekommen sein mag.
Nach dem Beispiele der Handwerksmeister begannen um die Mitte des 15. Jahrhunderts auch die Gesellen sich zu Brüderschaften zusammenzutun, um in dieser Geschlossenheit ebenfalls Einfluß in der Stadt zu gewinnen. Eine Urkunde vom Jahre 1449 nennt die Brüderschaften der Bäcker, der Mühlknappen-, Schneider-, Schuster- und Leinewebergesellen.
Jede Zunft hatte ihre Grenzen, über die sie nicht hinausgreifen durfte, ohne die Rechte einer anderen zu verletzen. Nur eine Vereinigung gab es, die der Natur der Sache nach ihre Mitglieder aus allen Kreisen der Bürgerschaft wählte. Es war dies die Brüderschaft der Schützen, die zur Unterscheidung deshalb die Bezeichnung Gilde trug, und die zuerst im Jahre 1412 urkundlich erwähnt wird, als sie einen Altar in der Marienkirche (Stadtkirche) stiftete.
Im 15. Jahrhundert standen die Zünfte auf der Höhe ihrer Macht, von der sie in den folgenden Jahrhunderten langsam, aber stetig herabglitten und zuletzt zur Bedeutungslosigkeit hinabsanken. Die Schuld trug die Form der Zünfte, welche der Zeit nicht mehr entsprach und zur Schale ohne Kern geworden war, die dem einzelnen die Bewegungsfreiheit nahm und die freie Entfaltung der Persönlichkeit und der eigenen Kraft unterdrückte. Die Steinschen Reformen, im Jahre 1808, welche die Gewerbefreiheit brachten, versetzten den alten Zünften den Todesstoß.
Infolge der fortschreitenden Entwicklung des Maschinenwesens und anderer Umstände wurde aber die Lage des Handwerkers immer ungünstiger, und immer lauter erhoben sich die Stimmen, welche eine zeitgemäße, zweckentsprechende neue Vereinigung forderten, um im engen Zusammenschluß den Kampf um die Existenz des Handwerks besser führen zu können, als dem einzelnen möglich war. Die Staatsregierung trug diesem berechtigten Verlangen zunächst durch entsprechende Bestimmungen in der „Gewerbeordnung“ Rechnung, die im Jahre 1897 wesentlich erweitert und verbessert wurden. Auf der Grundlage dieses neuen Handwerkergesetzes entstanden die heutigen Innungen, in denen das, was von den alten Zünften stark und des Bestehens wert war, auch in der neuen Zeit sich durchsetzt und fortdauert. Möge aus ihnen wie in der Vergangenheit so auch in der Gegenwart und Zukunft Segen für die Stadt und das Vaterland erblühen.
Richard Erfurth †
aus: „Unser Heimatland“ 26.10.1929