Wittenberg hatte um die Jahrhundertwende eine ganze Portion Originale in seinen Mauern.
Sie säten nicht, sie ernteten nicht, und unser himmlischer Vater ernährte sie doch.
Unsere Stadt war reich, unsere Umgegend steinreich, man kannte weder Finanzamt noch 8-Stunden-Tag.
Wer arbeiten wollte, brauchte gar nicht aufzuhören.
Es ging aber auch ohne Arbeit, wie wir gleich sehen.
Auf der Rathaustreppe sonnt sich ein Mann in den besten Jahren, als der Bürgermeister erscheint und sich die Frage erlaubt, was er sonntags und was er in der Woche macht.
„Sonntags mache ich nischt und wochentags mache ich gar nischt,“ lautet die Antwort.
Na, sagt der Bürgermeister, dann ziehe mir wenigstens alle Tage meinen Wandseher auf, wisch das Datum ab und bringe die Zeitung mit. Es soll dein Schade nicht sein.
Zur Belehrung: Ehe man den Abreißkalender erfand, ließ man den Querbalken der inneren Stubentür in den Büros, Wirtschaften und so weiter schwarz streichen, mit weißer Farbe die 7 Tage drauf malen und die Daten mit Kreide anschreiben.
(siehe Lutherstube)
Lange überlegt der Mann, denn es geht ihm jetzt sehr gut, weil er immer gesorgt hat, daß seine Frau tüchtig Arbeit hat.
Nun soll sie den Bürgermeister auch noch betreuen.
Als er in seine Wohnung Mittelstr. 26 kommt, hat Pohle, denn so heißt er, eine heftige Aussprache mit seiner kleinen Frau.
Diese endet damit, daß Pohle sofort die Zeitungskarte vom Bürgermeister holt.
Das Kreisblatt verkaufte Pappkarten für jeden Monat, die beim Zeitungsholen gelocht werden. Zwar hatte Wittenberg selbständige Dienstmänner, die mit Mütze, blankem Schild mit Aufschrift die Straßen bevölkern. Aber zum Kalendermachen, Uhrenaufziehen und Zeitungsholen hatte sich noch keiner erboten.
Am nächsten Tag hat Pohle die erste fertiggewordene Zeitung in Händen. Er sitzt auf der Rathaustreppe und liest das Neueste heraus.
Attentat auf König!
Dann schwenkt er die Zeitung, rennt durch das Rathaus, durch alle Straßen, Geschäfte und ruft:
„Das Neueste aus der Welt!“
Die Fenster öffnen sich, die Wagen halten. Man tritt in die Haustür, bespricht die Neuigkeit.
Alle haben Zeit.
So geht es jeden Nachmittag.
Früh wischt er die Kalender ab, zieht Uhren auf, läuft Wege und wird Vertrauensmann in vielen Geschäften und Familien.
Längst läuft seine Frau mit und ruft:
„Pohle istda !“.
Das Neueste in Häusern, treppauf, treppab.
Bald ist er stadtbekannt.
Nach 20 Jahren sind Pohlens unabkömmlich, denn sie sind nie krank. Die Jahre rennen, Pohlens rennen mit, trotzdem sie immer kleiner werden. Pohle war mit der Zeit ein sehr belesener Mann geworden. Er hatte den gewaltigen Aufstieg der Presse miterlebt.
Er wußte, daß es 1840. erst 4 000 Zeitungen in der Welt gab, die 1890 auf 38 000 anwuchsen.
Zwar hatte Amerika auf Grund seiner Sprache die meisten Zeitungen, aber die deutschen Zeitungen schickten schon 1890 monatlich 600 Millionen Exemplare in die ganze Welt.
Hierzu lieferte Wittenberg mit Gräfenhainichen Papier und Druck, Leipzig und Berlin den Vertrieb, das Dreifache der Yankees!
Gerade im Zeitungswesen erkennt man die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes und des ganzen Volkes.
Man fragt sich, was heute bei uns geschehen muß, um einen
derartigen Aufstieg hervorzubringen. In Wittenberg wurden besonders die Berliner Morgenpost und die Magdeburger Zeitung
durch die Post zugestellt.
Da naht das Verhängnis!
Eine auswärtige Zeitung brachte es zuerst, das Kreisblatt druckte es nach, die Familie Pohle las es mit Schrecken:
Die Welt geht unter!
Ein großer Astrologe hatte berechnet, daß im kommenden Jahr, Monat, Tag und Stunde der größte im Weltall befindliche Komet mit der Erde zusammenstößt.
Sein Stand ist genau beschrieben und Pohle sieht ihn abends direkt über Eckschwädts Hausgiebel glänzen.
Was soll da aus seinen vielen Freunden, seiner guten Kundschaft werden?
Ist es nicht Unsinn, wenn die Leute noch so viel anschaffen und arbeiten?
Zuerst annoncierte er seine gesamte Wirtschaft zum Verkauf.
Die Ungläubigen annoncierten darauf:
Zum Weltuntergang von 8 Uhr ab Speckkuchen bei Sauermann. Ferner: Auf zum letzten Hopser ins Weltall bei Amanda in Kamtschatka, (heute Bürgergarten).
Jetzt rannten Pohlens mit doppelter Schnelligkeit und suchten alle Wittenberger vom Weltuntergang zu überzeugen.
Der letzte Karnickel wurde noch verspeist, der letzte Stuhl verfeuert, dann erwarten Pohlens den letzten Tag.
Als die Sonne feurig rot hinter Knüppelsdorf aufgeht, steht Pohle mit seinem Kanarienvogel im kleinen Bauer und Frau Pohle mit ihrem Goldfischglas im Arm vor dem Rathaus.
Es haben sich noch allerhand Gläubige eingefunden, die den Untergang erwarten.
Statt dessen kommt ein wunderschöner Sommertag die Collegienstraße herauf, und die Sonne scheint auf die Rathausstufen, bis der letzte Gläubige ausrückt.
Pohle schämt sich.
– Er kommt nicht wieder. –
Als am nächsten Tag in Wittenberg die meisten Uhren stehen, wird die Sache kitzlig.
Und unangenehm wird es, weil Pohle keine Zeitung brachte. Schlecht sieht es aus, als man sich in den Wochentagen verheddert und sonntags arbeitet, weil man sich Jahrzehnte nicht um seinen Kalender kümmerte.
Da rafft sich die Bürgerschaft auf.
Nach dem Lachen der Stadt, kriegt Pohle eine neue Wirtschaft, Lebensmittel, Geld, Kleidung, mehr als er jemals hatte.
Aber nur seine Frau trägt in aller Stille weiter Zeitungen aus.
Pohle selbst sitzt zu Hause und liest Zeitungen.
Wer aber 30 Jahre und länger treppauf, treppab rennt, darf nicht stille sitzen, sonst holt ihn der Deibel ab.
Dies wollen wir uns alle merken, und trapp rennen, bis die Welt untergeht.
Schon einmal ist eine solche Geschichte im Kreise Wittenberg passiert, wir erfuhren erst Anfang der neunziger Jahre davon. Damals stand das Wittenberger Reiterkorps in hohem Ansehen, weil die Jungen von 10 Jahren aufwärts von der Artillerie im Reiten ausgebildet waren.
Die hieraus entstandenen Kunstreiter wurden zu den Ringreiten und Wettrennen der Umgegend geschickt, und blieben bis zum letzten Tanz, dem Rausschmeißer.
In Holzdorf bei Jessen hieß der letzte Tanz:
Stiefel muß sterben –
und hatte folgende Bewandtnis.
Stiefel war 1529 Pfarrer in Holzdorf.
Er hatte seinen Bauern eingetrichtert, daß Christus am 3. Oktober 1533 vormittags 10 Uhr das Weltgericht halten werde.
Die Bauern glaubten, aßen und tranken, bis alle Vorräte erschöpft waren. Am Morgen des 3. Oktober sammelte sich die Gemeinde in der Kirche, um den Jüngsten Tag abzuwarten.
Ein furchtbares Unwetter trat ein, Stiefel hatte also richtig gerechnet. Aber der Himmel klärte sich auf, herrliches Wetter trat ein. Jetzt wurden die Holzdorfer bösartig und verhauten den Stiefel mörderlich, indem sie riefen:
Stiefel muß sterben! Die Sache kam vor das Konsistorium in Wittenberg, man holte den Stiefel ins Schloß.
Hier erkannte man, daß Stiefel nichts taugt für Holzdorf und schickte ihn nach Jena.
Dort wurde er durch die Verbreitung der Algebra in Deutschland Professor an der Universität, ohne den Weltuntergang erlebt zu
haben.
Die Studenten ließen sich zum Ergötzen ihres Professors gläserne Stiefel machen und sangen noch um die Jahrhundertwende bei jedem Stiefel Bier, den sie am Tisch rundherum tranken, das bekannte Lied.
Von Jena wanderte die Sitte nach Holzdorf zurück und kam durch das Reiterkorps in unsere Stadt.
Bald standen in Wittenberg in vielen Gastwirtschaften, wo Reiter verkehrten, große gläserne Stiefel von 3 bis 5 Liter Inhalt.
Es ist nicht leicht, aus einem Stiefel zu trinken, ohne zu kluckern.
Es ist vielmehr ein reines Lotteriespiel, denn die Regel schreibt vor:
Der vorletzte Trinker zahlt den Stiefel,
der älteste trinkt ihn an,
der dümmste hat gekluckert und
zahlt den nächsten,
während die ganze Meute singt:
Stiefel muß sterben, ist noch so jung, jung, jung,
Stiefel muß sterben, ist noch so jung.
Wenn das der Absatz wüßt,
daß Stiefeli sterben müßt,
Tät er sich grämen, tät er sich grämen.