Die Steine

Heimatgeschichtliches von den Wittenberger Pflastersteinen

Die Steine selbst – nämlich die Pflastersteine – so schwer sie sind!… Ja, schwer sind sie, das hat jeder von uns sehen können, der die Arbeiten in der Großen Friedrichstraße, der Post-, Jüden- und Coswiger Straße einigermaßen verfolgte, ehe sie eine „Teer“straße wurden. Diese schönen runden Wittenberger Pflastersteine mit dem überaus harten Rücken, die so manches mal herhalten mußten,
wenn die Postkutsche daherrumpelte, wenn der Lastwagen hoch und schwer mit allerlei Waren beladen, durch die Häusereihen donnerte, wenn der Bürger – eine Staatsaktion im Herzen – stolz und zielsicher-festen Schrittes über den Fahrdamm ging, wenn die Soldaten durch die Stadt marschierten oder wenn Radfahrer und Autos daher gerast kamen. Unerschrocken und willig hielt der gute Pflasterstein seinen runden Rücken hin. Ruhig ließ er sich stampfen, stoßen und treten. Jahrzehnte, Jahrhunderte lang! – Selten hat man es ihm gedankt. Man hat ihn nur dann beachtet, wenn man unvermutet in einer Seitengasse in einen Regen- oder gar in einen Schmutztümpel trat. Dann erst erinnerte man sich, daß doch in der Hauptstraße gepflastert sei und daß man auf den schönen festen Steinen doch besser und sicherer laufen konnte. Das gute Wittenberger Pflaster hat bisher nur bitteren Spott erfahren und ertragen müssen.

Zu Luthers Zeiten gab es in Wittenberg noch keine gepflasterte Straße oder Gasse (der Ausdruck Straße war damals noch gar nicht im Gebrauch). Man hatte sich zu Zeiten schlechten Wetters, wenn die Gasse einem „übelen Morast“ glich, vielfach damit geholfen, daß man Stege und Bretter an den Straßenseiten entlang legte, nur um den allernötigsten Verkehr aufrecht erhalten zu können. Luther selbst spricht oftmals bildlich „von dem unflätigen Koth auf der Gassen“. Es kann getrost gesagt werden, daß er zu diesen Worten auch in den Wittenberger Straßen ein Vorbild gefunden hat.
Damals war man nicht so schnell bei der Hand mit dem Straßenbau. Der bekannte Brief Luthers an Spalatin über „den zum Himmel schreienden Zustand des Weges von Wittenberg nach Kemberg“ hat erst im Jahre 1638 – über hundert Jahre nach seinem Entstehen – auf dem Landtage in Torgau durch Bewilligung der Mittel dazu seine Erledigung gefunden.

Auch in der Stadt Wittenberg selbst war es nicht viel anders. Es fehlten überall die zum Straßenbau nötigen Mittel. In einem „Reskript Herrn Friedrich August, Königs in Polen und Churfürst zu Sachsen“ vom 6. August 1736 an den Rat der Stadt Wittenberg heißt es:
„Bester Rath, liebe Getreue. Wasgestalt teils Privati und Communen, deren an sich verschiedentlich erlassenen Instructionen ohnbeachtet zu der ihnen in Ansehung des Straßenbaues obliegenden Schuldigkeit sich keineswegs zeithero bequemenwollen*), und wie Ihr dahero in Euern diesfalls unterm 28. Julii a. c. erstatten gehorsamsten Bericht, daß die hierunter am saumseligsten und widersetzlichsten sich Erweisenden, hierzu durch die zugleich vorgeschlagenen Zwangsmittel angehalten werden möchten, ohnmaßgeblichen angehalten, hierauf ist uns geziemend Vortrag geschehen, und hierauf unser gnädigstes Verlangen, befehlende, Ihr wollet zur Angemessenheit verfahren, und wo nötig, die erforderlichen Arbeiten selbst anlegen lassen, jedoch den Beitrag des diesfallsigen Aufwands nicht von dene ordentlich angewiesen Straßenbau-Quanta bestreiten, sondern solche jedesmal sodann wöchentlich von den Renitenten durch militärische Execution*) hinwiderum eintreiben. An dem geschieht unser Wille und Meinung.
Datum Dresden, den 6. August 1736. Joh. Chr. v. Heinid.“
In einem Mandat Friedrich Augusts, Herzog zu Sachsen, vom 28. April 1781, ordnet er für seine sämtlichen Städte, zu denen auch Wittenberg gehörte, an, die Straßen zu bauen und zwar sagte er bezüglich der entstehenden Baukosten,
„daß diese von den Städten und soweit deren Weichbild gehet, den Räthen aus denen Kämmeren-Einkünften, und wo es Herkommens, oder die Kämmeren-Einkünfte nicht zulänglich sind, mit Zuziehung oder auf alleinige Kosten der Communen“ zu bestreiten seien.

Den Fuhrleuten verbot er den Gebrauch der eisernen Hemmschuhe und der eisernen Hemmketten bei 1 Thaler Strafe. Auch die Benutzung nachteiliger „Karrengeschirre“ ist den Fuhrleuten bei Strafe untersagt. Für den Straßenbau selbst bestimmte er:

„Ehe mit dem Bau zu beginnen, ist in Augenschein zu nehmen:
– ob das Terrain steiget oder fället?
– ob solches trocken oder sumpfigt, wie tief die Sümpfe sind und was sie vor Grund haben, ob beständige oder nur Märzquellen in den Tractum fallen?
– wie die stehenden oder zufließenden Wasser gefasset und aus der Gegend der Straße geleitet werden können? indem alle Nässe einzig und allein denen Straßen nachtheilig ist?
– ob und wie viele Brücken und Schleußen zu bauen sind?“

Ferner bestimmte er, die
„Löcher aus den Straßen zu gehöriger Zeit auszufüllen“
und „das Wasser möglicher maaßen abzuziehen.“
Ein ganz besonderes Augenmerk hatte der Kurfürst auf das verwandte Material und da besonders wieder auf die Pflastersteine gerichtet. Er verordnete
„Die Steine sind verschiedene Arten, als zu Tage liegende, Feld, Wacken, Pflaster und Flußsteine“.
Sandsteine waren ihm nicht genehm. Denn er sagte in seinem Mandat:
„Sandsteine nehme man nur, wenn man einige Steine ins Wasser und andere an die Luft leget und nach Verlauf einiger Zeit gesehen hat, wie sie sich gehalten haben“.
Den größten Wert legte er jedoch darauf, daß mit den Steinen und vor allem mit der Heranfuhr derselben wirtschaftlich umgegangen wurde. Wörtlich schreibt er:
„Zu achten ist auf die Nähe wegen Ersparnis der Kosten, sonderlich des Fuhrlohns.“
In dieser Hinsicht war Wittenberg vielen anderen Städten weit voraus.

Es hatte verschiedene seiner Amtsdörfer verpflichtet, gegen ein unscheinbares Privileg Pflastersteine heranzufahren.

So mußte das Dorf Gallin alljährlich neun zweispännige Fuhren Pflastersteine bis zum Marktplatz oder dorthin, wo sie gebraucht wurden, liefern. Als Gegenleistuna hatten die Galliner Bauern das Recht, ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse auf dem Markt zu Wittenberg frei von allem Standgeld und allen anderen Abgaben feil zu halten. Dasselbe war mit Dorf Hohndorf der Fall. Die ganze Dorfgemeinde Hohndorf mußte fünf zweispännige Fuhren liefern, während für das Richtergut daselbst bestimmt war, daß es alljährlich eine Fuhre Pflastersteine zu liefern hatte. Die Dörfer Thießen und Trajuhn zahlten noch im Jahre 1822 eine „Steinrente“, also eine Rente für die in früheren Jahren abgelöste Verpflichtung, Steine zu liefern oder zu fahren. Auch Gielsdorf und Prühlitz waren in früheren Jahren zu „Steinfuhren“ verpflichtet.

Diese Steinfuhren und Steinlieferungen sollte man nicht unterschätzen. Es ist uns von Gallin und Hohndorf bekannt, daß diese beiden Dörfer bereits im Jahre 1628 die Steinlieferungen ausführten. Erst mit dem Oktober 1846 hörten diese Verpflichtungen auf und zwar „auf ewige Zeit“, wie der Rezeß sagt. 218 Jahre hindurch – wenn nicht noch länger – hat Gallin alljährlich neun zweispännige Fuhren Pflastersteine nach Wittenberg hineingefahren. Das sind fast 2000 Fuhren. Bei Hohndorf trägt es auch etwa 1300 Fuhren aus. Welche Mengen die übrigen Dörfer angefahren haben, ist auch nicht annähernd feststellbar. Jedenfalls aber kann behauptet werden, daß der größte Teil aller sichtbaren Pflastersteine der Altstadt Wittenberg von den oben genannten Dörfern geliefert oder herangefahren worden ist. Ich denke dabei natürlich nur an die schönen runden, mit dem harten Rücken, nicht etwa an die neueren Pflasterarten.

Nun sind unsere Steine verschwunden.

Deckte sie früher die gute Mutter Erde mit schützender Krume zu, so wird es in Zukunft die feste schwarze Asphaltschicht tun. Man will nun einmal die Steine wieder gänzlich in der Dunkelheit verschwinden lassen. Nachdem sie Jahrhunderte lang ihren Dienst getan haben, geht es nun mit einem mal nicht mehr. Der verzärtelte, verwöhnte und zu bequeme Mensch will nicht mehr bei seinem Gehen oder Jahren ein wenig aufgerüttelt werden, deshalb muß eine glatte Bahn geschaffen werden. Unsere guten Pflastersteine sind aber auch hier nicht unnütz. Sie geben die feste Grundlage hierzu.
Und auch in der ferneren Zukunft werden sie das Rennen und Hasten und Jagen der Tage – unsere Tage und auch die unserer Nachkommen – unter der schützenden Asphaltdecke verspüren und werden daran denken müssen, daß sie einstmals den schönen runden Rücken den undankbaren Menschen hingehalten haben.
——————————————————————————–

*) Auch die Bürger der Stadt Wittenberg waren soweit ihre Häuserreihe reichte, zu Beiträgen am Straßenbau verpflichtet.

 **) Der Kommandant von Wittenberg war angewiesen, für derartige und auch noch einige andere Exekutionen jederzeit eine „Rotte“ Soldaten mit einem Unteroffizier zur Verfügung zu halten

Robert Ernst †

aus: „Deutsche Heimat“ vom 28.10.1933