1935.08.01. Wittenberger Zeitung
Spinnen und Weben gehören seit ältester Zeit zu den Tätigkeiten des weiblichen Geschlechts. Ueberall war die Spindel – ein längliches, an beiden Enden zugespitztes Gerät – heimisch, Märchen und Sagen wissen von ihr zu erzählen. Zwar wurde durch das Spinnrad die Spindel in den meisten Orten verdrängt, aber in Gebirgsgegenden wußte sich die Spindel zu behaupten. Das mit ihr gesponnene Garn erkennt man als gleicher, fester und schöner als das mit dem Spinnrad hergestellte. Nach germanischer Götterlehre ist Frigg , Odins Gemahlin, die Lehrerin und Beschirmerin des Spinnens, als welche sie heute noch im Glauben des Volkes fortlebt. In den zwölf heiligen Nächten geht sie zur Zeit der Abenddämmerung durch die verschneiten Dorfgassen und lugt durch die Butzenscheiben, um zu sehen, ob die Rocken leergesponnen seien. Bei der an Lichtmeß zu Ende gehenden Spinnzeit überzeugt sie sich auf gleiche Weise, ob das zugewiesene Flachsquantum gesponnen sei. Je nach Ausfall der Kontrolle erfolgt Lohn oder Strafe. Die zur Winterszeit in den Dörfern üblichen Spinnstuben waren unleugbar volkskundliche Pflegestätten; Märchen, Sage und Volkslied erfreuten sich hier warmer Förderung. Daß dabei Aberglaube und Gespenstergeschichten nicht vergessen wurden, beweist schon der Umstand, daß der Rocken neben dem Besen als Reitpferd der Hexen galt. Gespenstergeschichten, bei stürmischer Wintersnacht in molliger Stube erzählt, üben immer einen prickelnden Reiz aus. Das Stechen mit der Spindel ist ein beliebtes Märchenmotiv, wovon u.a. das ewigjunge „Dornröschen“ erzählt. In den Händen der Parzen und Schicksalsgöttinnen wird die Spindel zum Zaubergerät, mit dem sie des Lebens Faden verlängern oder kürzen.
Die Spindel ist das Symbol der Frau; der einsamen Spinnerin weckt die einförmige, einlullende Beschäftigung Sehnsucht nach einem Freier.
„Spinn, spinn Mägdelein, morgen kommt der Freier dein“
tröstet das Volkslied.
,,Spindel, Spindel, geh du aus, bring den Freier in mein Haus!“
Auch in Redensarten und Sprichwörtern wußte die Spindel Eingang zu finden. Einen mageren dürren Menschen bezeichnet man als spindeldürr. Aus den Kopf eine Spindel machen heißt: Faden um Faden des Traumgewirrs abspinnen. Dem Manne krumme Spindeln drehen, heißt ihn hintergehen.