Die Spechte

Im östlichen Teile unserer Stadt sind die Spechte zu Hause.
Die bewohnen die
– Dresdenerstr.,
– Kamerun,
– die Specke,
– Labetz und treiben Ackerbau und Viehzucht.
Jeder hat seinen Spitznamen, angepaßt an Gestalt, Beruf oder Wohnung. Das Oberhaupt der Sippe ist der Sau-Hacksch, bekannt nach dem Gasthof gleichen Namens in Labetz, dessen Besitzer er ist. Hier feiern die Schweine Hochzeit.
Hier kann man sich bestellen, ob man Sauferkel oder Hacksche haben will. Hier weiß man, daß man Hähne für die Bratpfanne
oder Huhnküken zum Eierlegen erhält.
Das beste Zuchtvieh wird hier gehalten, und man arbeitet nach dem Naturgesetz, was da sagt:
Der im Zeugungsakt charakteristisch überlegene Teil erzeugt das Gegenteil. Daher die vielen Hähne vom alten Dorfhahn, die vielen Melkziegen und die schweren Sauen der Umgebung.
Der zweite heißt Speck, weil seine Wirtschaft in der Specke liegt, die sich zwischen Knüppelsdorf und Labetz befindet.
Der dritte ist die Schwartenwurst, denn sein Gesicht ist von einer Schwartenwurst schwer zu unterscheiden.
Der vierte heißt Hirsch, man sagt auch goldener August, weil sein Vorname August ist, der den goldenen Hirsch bewirtschaftet.
Der fünfte, Bock, ist Bierkutscher bei der Bockbrauerei, zum Unterschied von Schultheiß-Specht.
Nun sollte in Amerika eine Erbschaft angetreten werden und die Spechte fanden sich zu einer Besprechung beim alten Riebisch, Kupfergassenecke ein.
Riebisch war der erste Soldat vom 20. Inf. Regt., der Wittenberger Boden betrat, als das Regiment von Treuenbrietzen in Wittenberg einmarschierte. Er war Tambormajor, er wies seinen Freunden eine Nebenstube zur Unterhaltung an.
Anfänglich ging es ruhig zu.
Erst nach der 5.Lage je ½ l Bier und 5 Nordhäusern wurde es lebhafter.
Weil Schwartenwurst schwer hörte, erklärte Bock, er sei ein Mistvieh, und Hirsch wollte ihn aus den Lumpen stoßen.
Plötzlich kommt Paukenschmidt und gebietet Ruhe.
Er hatte schon das gefundene Fressen für sich gewittert, denn die Spechte spendierten. Bald hatte er 5 P.aar Würstchen, 5 halbe Bier und 5 doppelte Nordhäuser verschluckt.
Jetzt will er aber auch in die Spechtsche Erbschaft einreden.
Als die Spechte gar nicht zu Worte kommen, setzen sie ihn auf die Mittelstraße.
Bis jetzt wäre alles glatt gegangen, wenn nicht einer den kaiserl. Helm hinterhergeworfen hätte.
Dieser flog dem vorbeikommenden Bürgermeister direkt unter die Stiefel. Von diesem großen Stiefel erhielt der arme Helm einen Tritt, der ihn bis zu Spediteur Dehne beförderte. Von da ab kommt er in Besitz der Jugend, die ihn erst nach Wochen an Paukenschmidts Türklinke in der Neugasse hängt.
Eine Anzeige mußte stattfinden.
Adolf Dietschke, Jüdenstr., empfing die Spechte zur Vernehmung.
Er redete sie gleich mit ihren Spitznamen an.
Vertrauensvoll sitzen sie um ihn und erzählen den Hergang.
Zum Schluß sprach Schwartenwurst:
„Adolf, was sollen wir tun?“
Dietschke rät zu einem Rechtsanwalt und bald erscheint Schwartenwurst mit einem Kober voll Süßäpfeln im Büro des Rechtsanwalts Levi, als dieser nach Wittenberg kam hieß er Levi, später Levin, dann Ledien.
Folglich wußte Levi, daß viele Wege nach Rom führen, denn er sagt:
„Euch kann nichts passieren, es ist keiner geschädigt. Ihr wart in einem Extra- Raum, den Helm hat Paukenschmidt wieder, was nachher geschah, fällt unter die Stiefel des Bürgermeisters.“
So kommen die Spechte vor den Richter.
Amtsgerichtsrat Herr will es ganz genau machen. Er sieht in die Akte, rückt mehrmals seine Brille, ehe er ruft:
„Herr Sauhacksch!“
Der Alte erhebt sich und sagt:
„Nee – nee, Herr Rat, wenn Sie das so genau nehmen, ich Specht.“ „Warten Sie, bis Sie aufgerufen werden!“
Wieder rückt er seine Brille, ehe er ruft „Schwartenwurst“.
„erlobn Se mal, ich heeße Specht“, schreit die Schwartenwurst.
Der Richter wird böse und fragt:
„Ist denn ein Herr Hirsch hier?“
Da springt der goldene August auf und schreit:
„Hirschheißichnicht, Hirschheiß- ich nicht, ich heeße Specht!“
Der Richter klappt die Akten zu und sagt dann zu Bock:
„Haben wir uns nicht schon mal gesehen?“
„Nu freilich, Herr Rat, ich bin der Kutscher mit de jroße Ledderschürze, der Ihnen das Bier von de Bockbrauerei bringt.
Ich bin also der Bock und heeße Specht!“
Dem Richter wird es schwarz vor Augen bei dem Gelächter, was die Leute im Zuhörerraum anstimmen.
Soll er den Termin vertagen – nein!
Deshalb fragt er den letzten:
„Dann sind Sie wohl der übriggebliebene Speck?“
Dieser schüttelt sein Haupt und sagt:
„Nee, nee, Herr Richter, entweder ist es ein Irrtum, denn bei uns bleibt keen Speck übrig, oder ein Druckfehler, denn ich heeße Specht.“
Der Rat schnappt nach Luft und ruft dann:
„Der Älteste der Sippe erzähle den Vorgang!“
Der Sau-Hacksch erzählt wahrheitsgetreu.
„Der Klügste von Ihnen kann sich nun verteidigen.“
Man schubbt die Schwartenwurst vor und die erklärt:
„Herr Richter, Sie können uns gar nischt, hat der Levi gesagt, wo er mich den Kober voll Süßäpfel abnahm. Wir waren im geschlossenen Raum, Schaden ist nicht entstanden, die Polizei durfte nicht eingreifen und Paukenschmidt soll nicht immer so ville saufen.“
Dem Richter fiel ein Stein vom Herzen, er schloß sich der Schwartenwurst an und sprach ihn frei.
Die Spechte zogen mit Paukenschmidt in der Mitte von Kneipe zu Kneipe.
Als sie bei Malchen Müller ihr Erlebnis erzählten, verschwand der Sauhacksch und holte von Rennert sein wöchentliches Quantum von 1 Pfd. geschnittenen Varinas für 50 Pfg.
Die große Tüte klemmte er fest unter den Arm und weiter gings in die vielen Kneipen der Collegienstraße-Dresdenerstraße.
Vom „Blauen Hecht“ wanderte der Sau-Hacksch allein bis zum Thüringer Hof, der letzten Kneipe vor seiner eigenen.
Es ist schon nachts 12 Uhr, als der späte Gast die Stube betritt. „Nanu“, sagt der Wirt,
„Du hast wohl Deine Gerichtsakten gleich mitgebracht oder hast Du Preußische Papiere gekaut?“
Er weist auf die Tüte unterm Arm, doch diese ist leer und geplatzt. Da rennt der Sau-Hacksch nicht etwa nach seinem nahen Hause, sondern im Dusel zurück zu Malchen am Holzmarkt.
Malchen schläft, Rennert schläft, kein Stein liegt auf der Straße. Jetzt zieht er seinen Stiefel aus und wirft ihn in Rennerts Schlafstubenfenster.
Schon 5 Minuten später hat er neuen Tabak und rennt zurück in Richtung Labetz.
Dies nannte man früher „prompte Bedienung“, später sagte man „Dienst am Kunden“, und heute heißt es:
„Hamwirnich, kommt auch nicht wieder rein!“
Das alte Wittenberg lacht und freut sich über die Geduld
und die Gerechtigkeit seiner Richter.

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