Die Sintflut

Die Sintflut von Richard Erfurth

Zu Anfang des Jahres 1524 lief ein schlimmes Gerücht durch die deutschen Lande und verursachte bei den Menschen Furcht und Schrecken. Zumal in der Stadt Wittenberg war die Angst sehr groß, die Angst vor dem Untergange der Welt.

Der berühmte Astronom Professor Johann Stöfler in Tübingen hatte nämlich am Himmel eine eigenartige Stellung der drei Sterne Saturn, Jupiter und Mars im Sternbild der Fische festgestellt und dies dahin gedeutet, daß am 23. Februar 1524 eine allgemeine Sintflut kommen werde.

Luther Zitat

Die Sorge vor dem drohenden Unheil stieg immer höher, je näher man dem verhängnisvollen Tage kam. Kluge Leute wiesen freilich den Gedanken an einen Weltuntergang als töricht zurück. Zu diesen gehörte vor allem Dr. Martin Luther, der den Tübinger Professor als falschen Propheten und Erreger öffentlichen Ärgernisses scharf angriff und verurteilte, dieweil doch, wie er sagte, kein Mensch sicher wissen könne, wann das Ende der Welt kommen werde.
„Wenn aber“, so fuhr er fort, „jener lehrt und schreibt, er wisse Zeit und Stunde, so läuft solches der heiligen Schrift stracks zuwider, dieweil unser Herr Jesus Christus im Evangelium Matthäns 24, 36 sagt: Von dem Tage aber und der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, sondern allein mein Vater. Und im andern Kapitel desselbigen Evangeliums spricht er:
Denn ihr wisset weder Zeit noch Stunde, in welcher des  Menschen Sohn kommen wird. Wenn darum de Tübinger behauptet, es zu wissen, so schilt er unsern Herrn Christus einen Lügner, dieweil dieser doch klar und deutlich gesagt hat:
„Ihr wisset nicht Tag nach Stunde. Auch der Stöfler weiß das bei
all seiner Gelehrsamkeit nicht, un wenn er trotzdem vorgibt,
es zu wissen, so lügt er, und seine Rechnung ist falsch, mit der er
sich vermißt, Gottes große Geheimnisse zu ergründen, die
dieser doch aus seiner Weisheit niemand offenbaren will.
Wenn aber jener solches wagt und vermeint, die Worte der
Schrift in den Wind schlagen zu können, so hat ihm solches der Teufel eingeblasen. Darum wird Gott ihn richten und seine
Weisheit als eitel Phantasie zuschanden machen.“

Aber trotz dieser ernsten, warnenden Worte des Reformators, die überall in Wittenberg und darüber hinaus verbreitet wurden, gab es doch viele, die den Prophezeiungen des Tübinger Professors Glauben schenkten. War doch damals eine wildbewegte Zeit, in der die Meinungen hart gegeneinander stritten. Nur erst kurze Zeit war vergangen, seitdem der Professor Dr. Karlstadt jenen Sturm entfesselt hatte, der die junge evangelische Kirche in ihren Grundmauern zu erschüttern drohte, und den der von der Wartburg herbeigeeilte Luther nur mit Mühe stillen konnte.

So konnte es nicht wundernehmen, daß bei dem Durcheinander der Geister die erregten Menschen nur zu leicht geneigt waren, schlimmen Wahrsagungen Gehör zu schenken, und daß man deshalb Vorbereitungen traf, um der von Stöfler geweissagten Sintflut zu begegnen.

Besonders einem Manne machten die Dinge schwere Sorgen, das war der Bürgermeister Johann Hohndorf in Wittenberg, der seit 1511 Stadtrichter war, 1517 zum Bürgermeister gewählt wurde und als solcher 1534 starb. Hohndorff zählte zu Luthers Freunden, der ihn auch bei der Taufe seines ersten Sohnes zum Gevatter bat. Zu dem Freundeskreis zählte auch der Maler Lucas Cranach, und man behauptet, daß dieser Hohndorff auf dem berühmten Altarbild in der Wittenberger Stadtkirche abgebildet habe, und auf dem rechten Flügelbilde, welches die Absolution darstellt, in dem vor dem Pfarrer Bugenhagen knienden und von ihm losgesprochenen Ratsherrn.

Die Prophezeiung des Tübinger Professors schuf Hohndorff große Unruhe, denn als Bürgermeister fühlte er sich für das Wohl und Wehe der Stadt Wittenberg verantwortlich. Wohl wußte er genau, was Luther über jene Weissagung geurteilt, aber konnte nicht auch ein so kluger Mann wie der Reformator irren? Und in der astronomischen Wissenschaft war ihm Professor Stöfler gewiß überlegen. Von diesen Gedanken und widerstreitenden Gefühlen bewegt, schritt Hohndorff Mitte Februar an einem Spätnachmittag dem Elbtore zu. Der Regen, der seit einigen Tagen fast unausgesetzt niedergegangen war und allen Schnee hinwegspülte, hatte seit einer guten Stunde aufgehört. Der Bürgermeister strebte deshalb aus den engen Gassen der Stadt hinaus, und draußen ein wenig Luft zu schöpfen und sich von den anstrengenden Geschäften des Tages zu erholen.

Sein Weg führte ihn am Zimmerplatze Meister Konrads vorüber. Mit Verwunderung bemerkte er, daß dieser mit seinen Gesellen beschäftigt war, starke Balken aneinander zu fügen, während daneben eine ans Brettern gefügte Hütte stand, wie man sie auf den Flößen sah, die von Böhmen die Elbe herabschwimmen.

Eine Weile schaute der Bürgermeister der Arbeit zu.
„Heda, Meister Konrad“, rief er dann über den Platz,
„was baut Ihr denn da für ein seltsam Ding zusammen? Das ist doch kein Dachstuhl und kein Gerüst. Man sollte shier glauben, es sei ein Floß. Seid Ihr am Ende wohl gar unter die Floßknechte gegangen und wollt mit einem Floß elbabwärts nach Hamburg oder gar England reisen?“

Der Angeredete blickte von seiner Arbeit auf, und da er den Bürgermeister gewahrte, legte er die Axt beiseite, lüftete die Kappe zum Gruß und trat näher.
Hohndorff streckte ihm die Hand entgegen und wiederholte seine Frage.
Meister Konrad kratzte sich verlegen hinter dem rechten Ohre.
„Je nun“, antwortete er dann, „Gevatter Hohndorff, ihr habt wohl ein Recht zu dieser Frage. Aber ihr kennt ja wohl das Sprichwort:
Ein kluger Mann baut vor“
„Daß ihr da etwas baut, das sehe ich wohl“ entgegnete der
andere lächelnd, „nur möchte ich gerne erfahren, was Ihr da
mit Eueren Gesellen baut“.
„Hm, Bürgermeister, Ihr kennt doch die Prophezeiung des Professors Stöffler in Tübingen, daßam 23. Februar die Welt in
einer Sintflut untergehen soll.“
„Ach so“, sprach der Bürgermeister lachend, “
und da baut Ihr wohl nach dem Beispiele von Vater Noah
so eine Art Arche, um auf dieser dem allgemeinen Verderben
zu entrinnen!“
„Ihr habt`s erraten; Bürgermeister. Aber spottet nur nicht. Ihr tätet auch wohl besser, auf Rettung zu denken. Wenn es Euch recht ist, will ich Euch gern auch solch ein Fahrzeug zimmern. Holz ist genug dazu vorhanden.“

Hohndorff war ernst geworden. „Sagt mir, Gevatter“, sprach er, glaubt Ihr denn, was der Tübinger Professor weissagt?“
„Man muß dem wohl glauben“, war die Antwort, denn er ist doch ein gelehrter Mann, der seine Sache versteht, und er beweist ja auch, was er sagt, klar und einleuchtend.“
„Wißt Ihr denn aber auch, was unser Doktor Luther darüber gesagt hat? und der ist doch gewiß nicht minder klug, als der Stöfler.“
„Weiß wohl, Doktor Martinus beruft sich auf die heilige Schrift, dieweil darin geschrieben stehe, daß niemand Zeit und Stunde wisse, in welcher der Herr zum Gericht über die Erde kommt.“
„So, das wißt Ihr also. Aber Ihr glaubt dennoch dem Tübinger Professor mehr als unserm großen Glaubensmann Luther?“
„Je nun“, erwiderte Meister Konrad nicht ohne Verlegenheit, „wer aber vermag mir zu sagen, welcher von beiden recht hat? Der Doktor Luther beruft sich auf die heilige Schrift und der Professor Stöfler auf die Wissenschaft und seine astronomischen Beobachtungen und Berechnungen. Wem soll man da wohl mehr Glauben schenken?“

„Ei, ei“, versetzte Hohndorff und drohte mit dem Finger, wenn das der Doktor Luther hörte! Und was würdet Ihr ihm dann antworten?“
„So würde ich“, antwortete der andere, „zu ihm sagen: Hochwürdiger Herr Doktor, irrt Ihr Euch auch nicht in dem, was Ihr aus der Schrift lest? Haben doch auch Papst und Konzilien geirrt, wie hr selbst lehrt. Und behauptet doch der Karlstadt, daß Ihr in manchem, was Ihr aus der Schrift gelesen, im Irrtum seiet. Ja, das würde ich ihm sagen. Und wenn er schon recht haben sollte, so ist es doch darum gewiß kein Fehler, wenn man sich als gewissenhafter Mann auf Dinge vorbereitet, die eintreten können. Steht doch auch, wie ich in der Bibel lese, die uns Doktor Martinus so trefflich verdeutscht hat, im selbigen Kapitel des Evangeliums Matthäi geschrieben: Darum wachet und seid bereit, denn ihr wisset nicht, welche Stunde der Herr kommen wird. Will man uns in Wittenberg darum schelten, wenn wir uns auf die geweissagte Sintflut vorbereiten, so gut wir können? Der Nachbar Kettner hat einen großen Kahn erworben, auf welchen er Frau und Kinder mit der nötigsten Habe bergen will, und Gevatter Prambalg und noch manche anderen haben ihre besten Habseligkeiten zusammengepackt, um sich bei hereinbrechender Flut auf die Flämingsberge zu retten, dieweil sie meinen, daß die Flut sie dort nicht erreichen werde. Und ich, Gevatter Bürgermeister, baue mir eben, wie Ihr seht, ein Floß, um, so Gott will, mit den Meinen darauf dem drohenden Unheil zu entgehen. Jedenfalls ist Vorsicht zu allen Dingen nütze, und auch der Doktor Luther darf mich darum nicht schelten.“

Man merkte es Hohndorff an, wie nachdenklich ihn die Rede Meister Konrads gestimmt hatte. Er mochte diesem denn auch nicht widersprechen, denn auch ihn quälte hart der Zweifel, was wohl in dieser Sache das rechte sei. Er sagte darum bloß:
„Wir wollen hoffen, daß die üble Weissagung nicht in Erfüllung geht und Doktor Luther recht behält.“ Damit reichte er dem anderen die Hand zum Abschiede und setzte in schweren Gedanken seinen Weg fort.
Die folgenden Tage brachten erneut heftige Regengüsse, die im Verein mit der Schneeschmelze in den sächsischen und böhmischen Bergen der Elbe große Wassermassen zuführten, so daß diese bald über die Ufer trat und das Land, das damals noch nicht wie heute durch hohe Dämme geschützt war, weithin überflutete. Das Wasser wuchs von Stunde zu Stunde und stieg zuletzt so hoch, daß es bis an die Stadtmauer von Wittenberg reichte.

Da mochte es denn freilich manchem scheinen, als ob die Prophezeiung Stöflers sich erfüllen sollte. Darum richtete denn auch Meister Konrad die auf dem Floß befestigte Hütte wohnlich ein und barg in ihr, was ihm zum Mitnehmen notwendig erschien, und Georg Kettner, der Tuchmacher, rüstete für alle Fälle seinen großen Kahn. Einige verließen sogar bereits mit einem Teile ihrer Habe die Stadt und suchten Zuflucht auf dem Gallun, dem Bollensberge und anderen Flämingshöhen. Martin Luther mochte bitten und schelten und zur Vernunft ermahnen die betörten Leute waren von der Angst um ihr Leben erfaßt und ließen nicht von ihrem Wahn.

Da wurde zuletzt auch Bürgermeister Hohndorff von der allgemeinen Furcht angesteckt. Er lud Frau und Kinder auf einen Wagen und sandte sie zu einer befreundeten Familie im hochgelegenen Dorfe Teuchel. ihn selbst hielt das Pflichtgefühl als Bürgermeister in Wittenberg zurück. Er dünkte sich als ein Kapitän, der das sinkende Schiff nicht eher verläßt, bis auch der letzte Mann daraus gerettet ist. Um aber von der Flut nicht unversehens überrascht zu werden, schloß er die Tür seines Wohnhauses ab und stieg auf den hohen Dachboden, wo er sich mit einem Bett und dem nötigen Hausrat so wohnlich als möglich einrichtete. Vor allem versah er sich reichlich mit Speise und Trank. Unter anderem ließ er „ein Viertel Gebräude Bier“ hinaufschaffen, um, wie er sagte,
„beim guten Trunke zu leiden“. War doch das Wittenberger Bier, „Guckuck“ genannt, gar trefflich und genoß weithin einen guten Ruf.

Von seiner hohen Warte aus hatte Hohndorff einen weiten Blick auf die wildwogende, schier unabsehbare Flut, aus der nur noch die Bäume als dunkle Punkte hervorragten, und auf der Eisschollen, entwurzelte Bäume, losgerissene Bretter, umgestürzte Gartenzäune und anderes einhertrieben und das Bild der Verwüstung vermehrten.

Weiter jedoch als bis zur Stadtmauer stieg das Hochwasser nicht, und nachdem es dort einige Tage gestanden, ging es langsam wieder zurück, und endlich hatte die Elbe wieder ihr altes Bett eingenommen. Da beruhigten sich auch die aufgeregten Gemüter der Wittenberger Bürger wieder. Die Ausgewanderten kehrten in die Stadt zurück; Meister Konrad räumte sein Floß wieder aus, während Meister Kettner die im Kahne geborgene Habe wieder ins Haus zurückbrachte.

Als Bürgermeister Hohndorff auf seiner hohen Zufluchtsstätte den Inhalt des Vierfasses prüfte, fand er dieses bis auf die Neige geleert. Da stieg er denn auch von seiner Warte herab und übernahm das Stadtregiment wieder. Martin Luther hatte recht behalten, und die Weissagung des Tübinger Propheten war elend zuschanden geworden.

Ein Lutherwort:

Laß die Welt schrecken, trotzen und drohen, wie lange sie will, es muß ein Ende haben: aber unser Trost und Freude wird kein Ende haben. Also sollen wir uns vor der Welt nichts fürchten, sondern mutig sein. Vor Gott aber sollen wir uns demütigen und fürchten.

 

Richard Erfurth †

aus: „Glaube und Heimat“ 1940
Eine geschichtliche Erzählung aus Wittenberger Vergangenheit