Die Messerschmiede

1967.01.13. Freiheit

Früher gab es vier  Messerschmieden, einer dieser Berufsgenossen war der Meister Schulze, wohnhaft Scharrenstraße 8.
Vor einigen Tagen traf ich nun seinen 79 Jahre alten Sohn Kurt Schulze. Er hatte sich gerade seine Brötchen vom Bäcker geholt, denn er ist Witwer und muß sich selbst versorgen, die Ehe war kinderlos. So haben wir es hier mit dem letzten Wittenberger Messerschmied zu tun.

In seiner kleinen Werkstatt ist alles noch so wie zu Vaters Zeiten. Jedes Stück Handwerkszeug hat seinen angestammten Platz.
In diesem alten Haus, das etwa um 1780 erbaut wurde und so recht typisch für die Altstadt als Wohnhaus mit Kleingewerbe ist, wird die Messerschmiede seit etwa 100 Jahren betrieben. Der Vater des jetzigen hochbetagten Meisters, des letzten Messerschmiedes im ganzen Kreisgebiet überhaupt, kam aus der alten Flämingsstadt Belzig nach hier. Dort hatte er das Messerschmiedehandwerk erlernt. Ein Bruder des Vaters erlernte das gleiche Handwerk bei dem gleichen Belziger Meister, und ließ sich dann in Jüterbog nieder. Die Messerschmiedemeister aus diesem Familienzweig leben heute noch Braunschweig.
Um die Jahrhundertwende erlernte Kurt Schulze das ehrsame Handwerk, doch dann kam der erste Weltkrieg, den er von Anfang an mitmachen mußte. Gesund zurückgekehrt, übernahm er in den zwanziger Jahren das väterliche Handwerk mit der Werkstatt und dem kleinen Verkaufsladen. Geschäft und Handwerk gingen gut. Mitten im Gespräch zeigte mir Kurt Schulze eine alte Korrespondenzkarte aus dem Jahre 1909, genau vom 1. August 1909. Damals wollte Gustav Meyer, ein „Fabrikant für chirurgische Messer und Instrumente“ von Carl Schulze „umgehend 2 Dutzend Holzreißer, wie gehabt, nicht zu breit“ haben.
Ich wurde belehrt, was ein Holzreißer überhaupt ist. Gleich ging Herr Schulze zu einem Kasten und entnahm ein rohes, leicht rund gebogenes, schmales Eisenstück, Das eine Ende wurde angebogen und scharf geschliffen, während das andere in einen von Meister Schulze selbst angefertigtem Holzgriff zu stecken kam. Damit wurden die Namen der Holzkäufer im Wald an Ort und Stelle eingeschlagen bzw. geschnitten. Der Meister erklärte mir die erforderlichen Arbeitsvorgänge bei der Herstellung Holzreiẞers, es sind: das Schmieden, das Härten, das Anschlagen und das Schleifen, dazu kommen noch das Anfertigen des Holzgriffes und das Befestigen.
Das Messerschmiedehandwerk hatte von jeher nur wenige Lehrlinge, weil die Zahl der selbständigen Meister und die Erwerbsmöglichkeiten nur in bestimmtem Rahmen vorhanden waren. Bei Schulzes hat man immer nur einen Lehrling ausgebildet, der nach Beendigung der Lehre sein Glück auswärts versuchte, ein Geselle wurde nicht beschäftigt. Gearbeitet wurde für den lokalen Markt und die nähere Umgebung. Ein „Export“ von handwerklichen Fertigwaren, wie oben nach Thorn und Bromberg, war nur selten. Kurt Schulze hat aber nicht nur Messer und Scheren geschliffen, das konnten die Schleifer auch, nein, sein Handwerk hatte die Aufgabe, Bestecke selbst anzufertigen, einschließlich Griffe.
So finden wir noch heute in seiner Werkstatt zurechtgeschnittene Hölzer, die wie Brennholz zum Feuermachen daliegen, weil er ab und zu immer noch einmal zum Handwerkszeug greift und auf Bestellung  Messerschmiedearbeit verrichtet. Auch Scheren und Messer schleift er hin und wieder. So ist er in der kleinen Werkstatt alt und müde geworden.
Alt ist auch sein Handwerk, dessen letzter Meister er in Wittenberg ist. Wir wünschen ihm im neuen Lebensjahr und für die weiteren Jahre alles Gute. – Seine Werkstatt gleicht einer solchen aus dem Jahre 1575, deren Abbildung vor mir liegt. – Eine Textbeigabe sagt aus, daß der Besteckmacher aus dem Schmiedehandwerk kommt, doch daß seine Werkstatt nicht verrußt und grob ist, denn er geht mit feinen Geräten um und macht Messer, Gabeln und Löffel. Bereits 1535 erhielten in der damals so hoch entwickelten Stadt Nürnberg, wo die handwerkliche Produktion einen hohen Stand wie nirgends anderswo erreichte, die Messerschmiede ein eigenes Wappen. Infolge der oben angeführten Gründe kam es bei uns in Wittenberg und in Mitteldeutschland überhaupt zu keiner Zunftbildung.

H. Kühne

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