Die Gifthalle

Es ist eine bekannte Tatsache, daß sich das Glück und die Zufriedenheit der Bewohner einer Stadt in der Anzahl der Kneipen zeigt. In unserer alten Lutherstadt hatte fast jedes Haus eine Kneipe, die nur bestehen konnte, weil alle Leute gut verdienten.
Ein altes Sprichwort sagte:
Wer nischt wird, wird Wirt.
Unter den vielen Kneipen befand sich die „Gifthalle“, Collegienstraße 18, die wir heute samt ihren Gästen besprechen wollen.
Am 1. September 1871 verkaufte der Brauer Johann Lysius an den
Dachdecker Gottfried Henze für 3 200 Taler sein Haus Collegienstraße 18.
Frau Henze hat drei Männer gehabt, die sie alle vergiftete.
Beim Tod des dritten Mannes kam es ans Tageslicht.
Sie kam ins Zuchthaus, wo sie verstorben ist.
Von da ab hieß das Haus die Gifthalle.
Nicht zum Verwechseln ist dies mit dem Posthalter Zimmermann, dessen Frau die vier Kinder aus erster Ehe vergiftete.
Die Gifthalle pachtete in den 80-er Jahren der Lohnkutscher Wilh. Müller, der Collegienstraße 85 wohnte.
Hierdurch wurde sie von Arbeitern, kleinen Beamten und Geschaftsleuten heimgesucht.
Im Jahre 1897 kaufte der Drechsler Rudolf Meinel das Haus für
38 000 Mark und damit verschwand die Gifthalle für immer.
Aus ihrer Blütezeit wollen wir das Leben und Treiben in einer solchen Kneipe festhalten und damit zeigen,

wie Wittenberg weint und lacht.

An einem schönen Sommermorgen fanden sich Pockarsch-Karl,
Nenzes-Eugen, Falkenheins-Wilhelm und August Pflug zum Frühschoppen in der Gifthalle ein.
Gegenüber bei Knapens-Frieden, jetzt Bosse, sitzen schon Kantum, der Türmer, Thiele, der Hechtkopp, Pinkter, der Schneider und der rote Faust bei Nordhäuser mit Rum.
Die letzteren Viere werden durch Musik und Gesang in der Gifthalle angelockt, nehmen Knapens-Frieden noch mit und ziehen hinüber. Zum Überfluß trifft Breizmanns-Ernst von Kleinwittenberg ein, der Streichhölzer und Stiefelwichse verkaufen will.
Nebenbei erzählt er, daß ihm Pastor Zitzlaff eine schöne Hose schenkte. Alle bewundern die Hose, Breizmann muß sie aus-
ziehen.
Kaum ist dies geschehen, wirft sie der Hechtkopp auf den hohen dreistöckigen Kachelofen.
Alles Klettern und alles Betteln von Breizmann ist vergebens.
Als ihm die Schinken rot sind von den Schlägen, setzt man ihn samt seinem Stiefelwichskorb auf die Collegienstraße.
Jetzt läuft er ohne Hose bis Klein-Wittenberg und erzählt jedem von der bösen Gifthalle.
Heute würde das gar nicht genieren, denn unsere jungen Damen laufen in Badehosen ohne Hemde.
Um zu sehen, wie weit Breizmann schon rennt, stehen alle auf der Collegienstraße.
Plötzlich erblicken sie auf der anderen Seite den alten Meister Notzeblum im Zylinder und einen Kindersarg auf der Schulter.
Notzeblum wird so lange bestürmt, bis er mit in die Gifthalle
kommt und seinen Sarg unter die Bank schiebt, die sich an den
Wänden entlangzieht.
Damals gab es keinen Wagen für tote Kinder, sondern man trug sie selber zum Kirchhof.
Wie die Beerdigung entstand und wie sie endete, beschreibt der nächste Abschnitt.

Notzeblum war Tischler und hatte sehr viele Kinder.
Als wieder eins angekommen war, bat er bei der Taufe den Archidiakonus Schleußner:
„Lieber Gevatter, wenn Sie mal wieder mit dem lieben Gott zusammenkommen, bitten sie ihn doch, daß das Kinderkriegen aufhört.“
„Nein, lieber Meister, das tue ich nicht, denn je mehr Kinder, desto mehr Segen.“
„Ach“, stöhnte der Meister, „da hängen die Sägen und keine Arbeit.“
Aber der liebe Gott hatte Einsehen, denn die Kirche gab ihm von nun ab Arbeit.
Betrachten wir eine seiner Rechnungen, die folgendermaßen lautet: Drei einhalb Tage geputzt, poliert und blank gemacht, der Mutter Maria ein Kind gedrechselt, dem Weihnachtsmann den Sack angeleimt, macht 17 ½ Silbergroschen.
Damals entstand der Ausruf im Handel:
Es stimmt wie eine Kirchenrechnung.
Eine zweite Erleichterung schickte der liebe Gott durch die Jugend. Im Schwanenteich nahmen die Krebse überhand.
Am nördlichen Ufer konnten sich abends die Leutnants mit ihren Liebchen kaum ins Gras setzen. Das südliche Ufer, was vorwiegend von alten Herren benutzt wurde, war genauso von Krebsen überlaufen.
Zwar hatte der Bankherr Hermann Gröting zwischen Denkmal und Heydrichs-Treppe eine lehnenlose, frostfreie, wasserdichte Steinbank aufstellen lassen, aber die war so hart, daß selbst weniger zart besaitete Damen vor der Grötingsbank einen Fluchtversuch machten.
Deshalb rüstete die Jugend zum Krebsfang.
Das Schock = 64 Stück kam bis 3 Groschen.
(Zur Belehrung: Ein runder Eisenreifen wurde mit Netz bespannt, in der Mitte Senkblei und Haken zum Köder, dies wird eine Hand breit unter Wasser am Spieß aufgehängt. Der Krebs frißt am frisch abgezogenen Frosch, bis das Netz hochgezogen wird.
Die Frösche lieferte in großen Mengen der Donnersberg am Stadtgraben.)
Für Notzeblums 2 ½ – jährigen „Kuki“ wurde es Zeit, daß er in die Geheimnisse der Froschjagd eingeweiht wurde.
Fangen, abziehen, zerteilen mußte gelernt sein, deshalb kam er mit. Wir nannten ihn Kuki, weil er so unvorschriftsmäßig schielte. Vorläufig hatte er die in einer Zigarrenkiste gefangenen Frösche zu
bewachen. Als bereits ein Dutzend drin waren, schielte Kuki unter den Deckel. Dieser sprang auf, die Frösche ins Wasser
und Kuki hinterher.
Die großen Jungens riefen: „Kuki, machsMaul zu.“
Aber er riß es auf und brüllte, daß man es in Pratau hörte.
Ein Mann aus Pratau kam mit seinem Hundewagen in der Kastanienallee, angelte mit der Wagenstange den Kuki, stellte ihn Kopp, haute ihm den Hintern voll, aber Kuki hatte abgekluckert.
2 große Jungen packten ihn auf eine Jacke, trugen ihn zu Notzeblum auf den Abtreter und verschwanden lautlos.
Am anderen Tage machte Meister Notzeblum aus dem untersten
Schubfach der seligen Kommode seiner Schwiegermutter den kleinen Sarg, in dem nun Kuki unter der Bank der Gifthalle steht.
Die Sangesbrüder in der Gifthalle hatten den Ausgang nach der Mittelstraße benutzt, und in deren Kneipen weitergemimt.
Als Meister Notzeblum am Abend heimkam, fragte seine Frau:
„Na, haste denn den armen Kuki gut begraben?“
„Ei, der Tausend“,
rief der Meister, „den habe ich ganz vergessen! Mutter, der Kirchhof war schon zu. Morgen muß ich zeitiger hingehen.“
Am nächsten Tag bezog Kuki in dem untersten Schubfach der
seligen Kommode seiner leibhaftigen Großmutter seine Villa
in der Dresdenerstraße (Friedhof).

Dort fängt er Frösche bis zum jüngsten Tag.

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