Wittenberg war immer eine saubere Stadt.
Die Verwaltungen, die Geschäfte, sogar die Elbe war sauber und klar.
Es ist daher zu begreifen, daß jeder Wittenberger an seiner Elbe, in der er groß wurde, hängt. Er kann es nicht fassen, daß ihm
jetzt die Elbe durch Übertragungen von Krankheiten feindlich
gegenübersteht, weil man es versäumte, sie durch Kläranlagen
sauber und klar zu halten.
Eine Berührung mit Wasser, was den Wittenberger gesund erhielt, soll er meiden oder sich erkaufen.
Die neue Badeanstalt in Piesteritz, sie soll sogar mehr als 2000…. Mark kosten, sowie das Planschbecken in Friedrichstadt bieten keinen Ersatz für den großen freien Elbstrom .
Vor der Jahrhundertwende besaß Wittenberg zwei städtische und eine Militärbadeanstalt in der Elbe. In letzterer wurden fast alle Jungens vom Schulanfang an militärisch im Schwimmen ausgebildet. Das Militär hatte an den leichten Körpern der Kinder bessere Objekte für die Ausbildung der zu Schwimmlehrern erwählten Soldaten.
Der Preis betrug 3 Mark.
Diesen Betrag verdiente sich die Jugend durch Tauchen nach Kohle oder Sechsern.
Die über 70 Jahre alte Mutter Zippler tauchte bei den Kohleausladestellen nach Kohle. Sie lehrte uns tauchen, um ihre Kiepe schnell zu füllen und zahlte in Sechsern, die sie ins Wasser warf. Soldaten, Arbeiter, Spaziergänger warfen ebenfalls Sechser, die Jugend haschte danach und nur wenige erreichten den Grund. Ein Jahr später sind wir Besucher der Pferdeschwemme, denn das Glück der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde.
Wittenberg hatte einen großen Pferdebestand, und an manchen Sommermorgen schwammen über 20 Tiere mit ihren leichten Reitern im Strom.
Mit 10 Jahren brachte der Weihnachtsmann die erste rote Badehose, weil sie im Winter am billigsten war. Diese zogen wir gleich früh an, gingen zur Badeanstalt Rehmisch und legten unsere Kleider hinter die Weiden.
Rehmisch hatte unterhalb der Elbbrücke nur eine Bretterbude, wo er Getränke verkaufte. Er kannte uns bald, beachtete uns kaum. Weibliche Besucher kamen in diese Badeanstalt erst, als die Stadt hochgelegene Zellen bauen ließ.
Jetzt zogen wir um zur städtischen Badeanstalt an der Vogelwiese zu „Zumpe“. Dieser baute alljährlich eine richtige Zellenstadt mit Gastwirtschaftsbetrieb weit im Strom auf.
Jede Zelle war ca. 4 qm groß und über 2 m hoch.
Wir konnten trotz der Höhe hineinsehen und zwar durch ein Astloch. Wenn eine Frau baden ging, dauerte es lange Zeit, bis sie in den weiten, mit Spitzen besetzten Badeanzug kam.
Kletterte sie die kleine Treppe hinab, drückte das Wasser große Luftblasen aus dem Anzug.
Kam sie aus dem Wasser, klebte der nasse Anzug am Körper bis sie Hilfe schrie, und die Badefrau ausziehen half.
Für uns Lochkieker ein großes Vergnügen.
Die meisten Frauen trugen in den Zellen keinen Badeanzug.
Bei einer fetten Beamtenfrau beobachteten wir, daß sie immer mit einer Tasche ins Wasser ging.
Wir glaubten, daß sich darin ihr Schmuhgeld befand.
Erst ein Mädchen, das wir als Lochkieker ausbildeten, klärte uns auf. Es ist keine Tasche für Schmuhgeld, sondern die große Narbe einer Bauchoperation.
So lernte man die Unterschiede und die Mode der Badeanzüge kennen. Nach Abschaffung der weiten rockartigen Anzüge trugen die Damen enganschließende, ausgeschnittene, mit Borten und Schleifen besetzte und ganz tolle Mützen.
Hierin wollten sich die Damen aber auch zeigen, und die Zellen mußten entfernt werden.
Es entspann sich ein kameradschaftliches Verhältnis, ein Konkurrenzkampf im Springen, Schwimmen und Tauchen.
Wer von den Mädchen einen exakten Kopfsprung vom Turm machte, konnte sich einen Ehemann wählen.
Am 1. Mai war Anschwimmen.
Meist wurde ein Dampfer angehalten, der die ganze Meute im kleinen Kahn bis Holzdorf mitschleppte.
Bei Gäbelts war Tanz, bis die Schwimmstaffeln zu Wasser gelassen wurden. Ca. 1 Stunde später wurden sie in der
Badeanstalt empfangen.
Manchmal war es recht kalt, aber das gab’s zu. Ein Foto aus dieser Zeit zeigt das Eintreffen einer Damenstaffel aus Hohndorf.
Alles bekannte Wittenbergerinnen in ihrer Jugend.
Diese Leute werden die freie Elbe nie vergessen und die künstlichen Planschbecken immer ablehnen, zumal ein Bad vom Markt bis Piesteritz stets 1 Mark Kosten verursacht.
Heute, Mitte Oktober 1957, ein wunderschöner Herbsttag,
will ich mal wieder zur Elbe.
Der Stammtisch verlangt Auskunft über die weitere Entwicklung vom Sau-Hacksch, Gasthof-Apollensdorf, Piesteritzer Bad, Friedrichstädter-Bad, Freibad Rehmisch und Stadtbad Vogelwiese. Mein altes Fahrrad und ein junges Mädchen für die Foto-Aufnahmen begleiten mich. Wir befahren die Dessauerstraße, sehen die Nachteile der Bahnschranke, die Vorteile der Neubauten und sitzen dann im alten Gasthof Apollensdorf.
Seit einem Jahre wird er durch Herrn Veit, den man aus der Nähnadel an der Elbe entfernte, bewirtschaftet.
Jede Stube, jede Tür, jeder Tisch waren früher alte Bekannte.
Heute ist es ein modernes Lokal, was in Bremen oder an der Wasserkante stehen kann.
Wir knipsen den Einsturzgiebel und fahren zurück zum Piesteritzer Bad. Der Volkspark mit Bad und Sportplätzen ist menschenleer. Das Bad ist geschlossen, das Wasser abgelassen, wir hoffen, daß das Becken durch Frost nicht beschädigt wird.
Die Anlagen sind nicht nur für Piesteritz, sondern für die ganze DDR ein großer Aufbauerfolg.
Die Wittenberger haben es in der kurzen Badezeit zu wenig besucht.
Es wird aber für sportliche Wettkämpfe so lange bevorzugt werden, bis die großen Rivalen Magdeburg und Dessau ihre noch besseren Sportanlagen zur Geltung bringen.
Durch die Rothemarkstraße, um den Schloßturm und Auraschanze fuhren wir zur Pferdeschwemme.
Breit kommt die Elbe mit ca 4 m Wasserstand durch die Elbbrücke. Sie ist voll bis zum Überschwappen, aber kein Wiehern der Pferde empfängt sie, nur die Wellen gurgeln in den Buhnenlöchern. Dasselbe finden wir an der Stelle, wo einst das städtische Freibad von Rehmisch stand.
Nur eine hohe Säule zeugt von verschwundener Pracht, und die
Besatzung übt hier ihre Flußübergänge.
Deshalb fahren wir schnell durch die Stadt, durch Berliner- und Annendorferstraße nach Bad Friedrichstadt.
Der ehemalige Königsplatz ist eingezäunt, aber für Lochkieker ist freie Sicht. Ein Rasenstreifen stellt den Strand dar.
Zwei bescheidene Becken für Schwimmer und Nichtschwimmer genügen den Anforderungen, bis die freie Elbe ihr Vorrecht wieder fordern wird.
Vorläufig ist dieses kleine Bad bei den Wittenbergern nicht unbeliebt. Deshalb wünschen wir ihm ein recht langes Leben und fahren über Kamerun, durch die Specke, zum Sau-Hacksch, jetzt Heidekrug in Labetz. Leider sind die Pforten wegen Kartoffelernte geschlossen. Durchs Fenster sehen wir nicht mal den Handwerksburschentisch, an welchem der alte Specht die Handwerksburschen des Kreises beköstigte, ehe er sie auf den Heuboden beförderte und die Fechtpfennige einkassierte.
Wir heben uns den Innenbesuch für später auf und fahren um die Arado-Neubauten zur Vogelwiese und zum Strombad Wittenberg, wie es am Eingang steht.
Als erster empfängt uns der alte Kahn, er liegt schiffbrüchig im Rasen an der Treppe. Jahrzehnte war er Rettungskahn und hat manchen Sturm erlebt.
Die Kastanien, die wir in der Jugend pflanzten, stehen noch, wenn auch mit großen Wunden vom Eisgang.
Die alten Steinplatten, welche die Stadt zur Befestigung der Ufer lieferte, begrüßen uns.
Auf ihnen ging Luther spazieren, sie lagen einst auf der Collegien- straße und wurden unter Mithilfe des Schwimmvereins hier eingebaut.
Im Geiste sehe ich noch die Badeanstalt, wie sie Fritz Eylert bewirtschaftete. Mitsamt ihren sorgenlosen Menschen, die hier Erholung fanden.
Sogar der große Anker, an dem die Badeanstalt befestigt war, ist noch nicht als Buntmetall verkauft.
Dann wende ich mich dem Neuaufbau unter Paul Zander zu.
Mit wieviel Fleiß und Sorge ist er entstanden?
Die Wirtschaftsräume, der Gastwirtschaftsbetrieb, die Umkleideräume, die Aufbewahrung für Boote und Fahrräder usw.
Noch steht alles, aber dem Untergang geweiht.
Nicht ein Karnickel kommt noch hierher, denn das Gras steht überhoch, die Uhr am Eingang blieb stehen seit Jahren.
Ich wende mich der Elbe zu.
Sie kommt rauschend um die Probsteiecke und geht über die Buhnen, glänzend in der Herbstsonne, aber unbelebt.
Lange sehe ich in den breiten Strom, suche vergeblich nach einem kleinen Fischchen, wo früher Tausende spielten.
Und das Wasser rauscht zu meinen Füßen, als wollte es sagen:
Willst du mich nicht mehr haben? Da versprach ich der Elbe:
Warte ab! Lange dauert es nicht mehr!
Liege ich erst drüben auf dem nahen Kirchhof, bin ich alle Nächste bei dir! Und ich rufe unseren Schwimmergruß in die Eichen der Probstei und wieder ruft das Echo wie damals übern Strom:
„Hohi, hohi, hohi, hoo!
Wind und Wellen gehen hoch.
Dann gibt’s keine Sorgen mehr,
dann wird es schön sein
wie damals in der Jugend !“