Nur wenige Wittenberger wissen heute noch, wie mittwochs und sonnabends (vor Errichtung der Torgauer Bahn) der Wochenmarkt zustande kam.
Der Stammtisch gibt unserer heutigen Generation ein bescheidenes Bild, was für eine Kraftentfaltung nötig war, um den Warenüberschuß des reichen Wittenberger Hinterlandes an den Mann zu bringen.
Nicht nur unsere Elbaue und der Fläming, sondern die vielen von der Bahn entfernten Dörfer, von Annaburg im Osten und Klieken im Westen, brachten ihre Erzeugnisse nach Wittenberg.
Längst hatte man erkannt, daß das Warenangebot niedrige Preise schafft und die Warenknappheit das Geschäft hebt.
Trotzdem wurde alles Verkaufsfähige der Bauern durch Boten auf den Markt geworfen.
Wenn es im Sommer lange Tag war, konnte die Arbeit auf 14 – 16 Std.
verteilt werden. Im Winter, besonders bei Eis und Schnee war es eine Tier- und Menschenschinderei.
Hier bringen wir den Beweis.
Es ist drei Uhr nachts, in Wittenberg haben gerade die letzten
Kneipen geschlossen. Da wird Vater Lehmann in Treuenbrietzen,
Frau Saage in Niemegk, Kürsten in Seyda und viele andere geweckt. Der Nachtwächter ruft:
“ ’s is Marcht in Wittenbarch!“
Die Botenleute füttern die Pferde, packen den Wagen und sind um vier auf der schneebedeckten Straße. Der schon übervolle Wagen wird durch die Zusteiger in den Dörfern immer schwerer.
Auch die Botenfrauen buckeln ihre Kiepen auf, um pünktlich am
Treffpunkt zu sein.
So treffen sich z. B. die Frauen von Bösewig, Bleddin, Globig, Wartenburg bei Ferdinand Göhrisch in Dabrun.
Da der kürzere Weg über die Grobe Sau unpassierbar ist, waten sie über die Wilde Kölke, Melzwig nach Dabrun.
Nante hat schon einen Eimer Kaffee gekocht, und während man sich aufwärmt, beladet die nimmermüde Anna den Hundewagen mit den
Kiepen. Jetzt spannt sie sich vor die Hunde und die Flecken, Doranthan, Josten, alle schieben bis Wittenberg.
Der Wiesenweg, Wachhaus – Bude 100 ist gesperrt, sie müssen über Pratau.
Hier begegnen sie den Holzfuhren von Radis und Schleesen, den klapperdürren Hundewagen mit Kienäppel und Kienholz von Gniest
und Ateritz. Von allen Seiten strömt es im Dunkeln heran, denn:
“ ’s is Marcht in Wittenbarch!“
So finden sich die Botenfrauen des ganzen Kreises in Gruppen zusammen, um ihre schwere Last auf halbem Wege zu erleichtern.
Nur wer die Kiepen mal anhuckt, bekommt Respekt vor den Frauen.
In Wittenberg hat jede Frau ihr Quartier, wo sie ihre Ware fertig macht.
Was hat sie alles drin? Butter, Eier, Käse, Wurst, Speck, Schinken, Hühner, Gänse, Hasen usw.
Was sie aber mitbringen muß, geht auf keine Kuhhaut.
Das ganze Dorf muß sie befriedigen und hat selbst noch einen kleinen Handel mit Tabak und Kurzwaren.
Zwar haben viele Kaufleute wie Schugk, Leopold, Strensch, Rennert Gespanne zur Belieferung, aber Pakete bis zu 10 Pfd. besorgt die Botenfrau.
Die Geschäftswelt unterstützt den Botenhandel, weil er den Kontakt mit der en gros-Kundschaft aufrecht erhält.
Deshalb muß ich vor Schulanfang die Aufträge von den Boten abholen, nach Marktschluß erfolgte die Belieferung.
Während die meisten Beamtenfrauen noch schlafen und die Geschäftsfrau ihren Kaffee trinkt, steht die Botenfrau als erste auf dem Markt. Inzwischen haben viele Wittenberger ihre Ware angefahren.
Gustav Stein, Theo Boost, Heinrich Schütz bieten Wollsachen an. Kunze, Frömmichen, Lehmann haben Korbwaren.
Schuster Wagner, Frau Wagner packen Holz- und Filzpantoffeln aus. Klebitz bändigt seine Heringe, Rosenthal bringt Tauben, Hühner, Enten, während Butter-Thiele auch Geflügel hat.
Sogar Schmelzes Mariechen, dem blinden Kraneis seine Liebe, kommt von Mahlendorfs herüber und ruft:
„Koofen se keen Kwerl?“
Jetzt treffen auch unsere Vorstädter ein.
Sie sind ein Stadtteil für sich, mit eigenen Anschauungen, Schulen und Festen.
Fromme Leute von altersher besuchen sie sonntäglich die Kirche . Als 1422 die Askanier ausstarben, wurde zur Feier des Tages die große Glocke der Stadtkirche eingeweiht.
Die ganze Stadt spendete Geld, nur die Vorstädter drückten sich davor.
Da griff der Glockengießer zur Selbsthilfe.
Als die Glocke zum ersten Mal erklang, rief er aus dem Turmfenster zwei Namen, die von der Glocke sofort mitgerufen wurden. Wer heute nur kurze Zeit dem Klang der Glocke zuhört, vernimmt deutlich den Ruf:
„Gänsicke und Blumenthal! – Gänsicke und Blumenthal!“
Zwei alte hochgeschätzte Familien unserer lieben Vorstadt.
Vor 1885 kamen sie mit der Karre angeschoben und wer sich
noch an Henzes Gottloben erinnert, wie er sich quälte, seine
5 Zt. Mohrrüben vom Weinberg zum Markt zu karren.
Dann waren sie auf einmal auf den Hund gekommen, bis die Polizei die Kläffer vom Markt verwies. Nun kam die gute Kuh zu Ehren.
Während Mutter stolz auf dem Wagen thronte, führte Vater das
Prachtstück durch die Straßen. Dies hat sich viele Jahre erhalten, wenn auch einige Obereifrige nun zwei Leinekühe anspannten. Plötzlich hat Bräses Krischan ein Pferd.
Unsere Vorstädter halten sonst treu zusammen, doch will einer dem anderen den Rang ablaufen. Hat Krischan ein Pferd, muß der Nachbar zwei haben. Ist dies geschehen, wird der Kuhwagen ausrangiert, ein gummibereifter angeschafft. Heute ist auch dies überlebt. Der Krieg hat sie verschont, auf Grund ihres Fleißes und „Intelligenz“fahren sie heute mit Auto und Zugmaschine vor.
Früher gingen sie erstmal über den Markt, wegen Angebot und Nachfrage und Preis.
Ware, die wenig angefahren war, konnte man zu hohen Preisen kaufen, denn gute Ware schickten sie nach Leipzig.
Sind aber viel Kartøffeln vorhanden, dann schreit die Mutter:
“ ’s kommt keen Aas, Fritze, Kaiserkrone zieht nich mehr, schreib bloß Kardoweln an, aber nich widder falsch.“
Bräsens Krischan hat sich verspätet und kommt nun angaloppiert; die Frauen rufen:
„Krischan, Deine Liese hat wohl Preßkohlen gefressen, die looft ja wie een Eilzug?“
„Nee, ich habe eben mit Roßschlächter Reinicke verhandelt, deshalb looft sie so.“
Geißlers Minna hat den besten Quark. Sie verkauft ihn mit dünnem Spargel zusammen.
Eine Dame fragt nach dem Preis. 6 Groschen!
„Nein, das ist zu teuer für die dünnen Dinger.“
„Wieviel wollen sie denn geben?“
„Nicht mehr als die Hälfte!“
„Nee, dann sind sie ooch nich mehr als 3 Groschen wert.“
Jetzt kommt Wachtmeister Schulze und Gehbur und kassiert 10 Pfg. pro Kiepe. Weil es dabei nichts zu handeln gibt, verschwinden viele Einheimische und handeln in den Geschäften.
Eine Vorstädterin handelt um ein 4-Groschenbrot. Es ist ihr zu klein, deshalb fragt sie:
„Ist das wirklich ein 4-Groschenbrot?“
„Wenn ’s Ihnen nicht paßt, lassen se ’s liegen,“ sagt der Bäcker.
„Ih. Du verkneteter Deegaffe, begieß doch Deine Knirpsbrote mit der Gießkanne, damit se wachsen, und laß Deinen Schafkopp mit rinbakken, damit se Jewicht kriejen.“
Auch Fleischer Mittag, Schulze Mittelstraße, Knoll Pratau, Schröder Klebzig beschicken den Markt.
Auf Anfrage fordert die Meisterin 5 Groschen pro Pfund.
„Nee, zu teuer, ich biete 4 Groschen!“
„Wirklich“, ruft die Meisterin, „wo wohn se denn, junge Frau, ich bringe ’s ihnen davor noch zu Hause!“
An der Marktplumpe hält ein Hundewagen, das Milchmädchen tauft die Milch. Sie ist für die Gesundheit der Städter, denn Wasser ist das Gesündeste.
Nach der Milchtaufe ruft sie „Sahne! Sahne!“
Deshalb legte die Stadt die Marktplumpe still.
Die Hausfrauen kosten mit kleinen Messern die Butter, ehe sie kaufen, und selbst die Kinder versuchen ihr Heil.
Zwei Kinder holen einen vollen Topf Wurstsuppe mit Grützwurst. Da sagt der Junge zur Schwester:
„Mieze, wenn ’s Dich zu schwer wird, kann ich ja ‚was abtrinken.“
Den Marktleuten ist das Handeln angeboren, und es dauert bis zum Tode.
Eine Vorstädterin liegt auf dem Totenbett.
Ihr Mann tröstet sie: „Jräme Dich nich, daß de sterben mußt, det findet sich alles alleene und wird schon jehen. Eenmal missen wir ja alle schterben!“
Da richtet sich die Alte noch einmal hoch und schreit:
„Det isses ja eben, du Schafkopp, könnte ich zehnmal schterbn, würde ich mich aus det eene Mal nischt machen.“
Milde und liebenswürdig war der Markthandel nicht.
Jeder dachte:
„Laß dich nich verblüffen und wehre Dich Deiner Haut!“
Auch in anderer Weise war der Markt nützlich.
In Wittenberg gab es zwei Zeitungen, die meist Annoncen enthielten und oft von drei bis vier Familien zusammen gelesen wurden.
Wer Neues erfahren wollte, ging zum Markt. – Die Knapen erzählt
schon der Thielen:
„Die Schulzen hat een Jungen gekriejt, der sieht aber seinem Vater ähnlich!“
„Nanu, kennst de denn den?“
„Wat, Schulzen soll ick nich kennen? Ich meene doch Schulzen
unsen Nachbar!“
„Un ich meene doch den Vater von de Schulzen ihren Jungen!“
Da kommt die Lutschen dazu.
„Was weeste Neies?“
„Jestern hat Sittens Röschen ihre Mutter jebeicht.“
„Un was sacht nu die Olle? – So, das is ja ne nette Jeschichte!“
„Un nu, wie heeßt er denn?“
„Da hat ihn ja Röschen gar nich nach jefracht.“
„Röschen, Kind – als jebildet Mächen fragt man doch, und mit wem hatte ich die Ehre?“ –
Gerade will die Mucken mit Fischen vorbei, da rufen die drei:
„Nanu, Mucken, so schnell?“
„Ja, Kinder,“ sagt das Mißverständnis, „mein Oller is schon so ’n
Stüermann, nich een Jahr bringt er mich um das Kap der guten
Hoffnung herum!“
„Wie wars bei Eure Volkszählung?“ erkundigt sich eine Frau aus der Jüdenstraße.
„Nu, der Zähler frug, sind das der Knaben alle?“
Da rief die Ortlitzen aus der Nebenstube:
„Een Ooogenblick Herr Rechnungsrat, gleich kommt noch eener zu.“
Eine Treppe höher fragt der Zähler:
„Dies sind alle Ihre Kinder? – und Sie haben keinen Mann?“
„Ach Jott ne, sie loofen ja immer jleich wieder wech!“
Da tritt Christoph Rehahn zu den Fünfen und fragt:
„Habt Ihr von dem Maurergesellen gehört?“
„Nee, erzähle!“
Christoph wohnt bei Bäcker Sauermanns und besucht als Zuhörer alle Gerichtsverhandlungen. Heute ruft Gerichtsrat Thiemann einem Maurergesellen zu:
„Gestehen Sie! Sie haben den Zeugen mit einem Instrument geschlagen!“
„Ih wo, Herr Richter, ich habe in meinem Leben noch nie ein Klavier besessen.“ verteidigt sich der Maurer, und wird darauf frei
gesprochen.
Vor Knoke & Giesicke standen zum Markt immer einige Lohnkutscher, Wilhelm Seifert, Jüdenstraße und Skirls August Mittelstraße 25.
August schläft meist auf seinem Kutschbock, und die Sperlinge entleeren sich auf seinem Blechhut.
Nachher zankt er: „Das hat man von de Biester, erst
füttert man se fett und dann benehmen se sich so unanständig.“
Vor Leonhardts Ecke stehen die Gelegenheitsarbeiter.
Eine Frau kommt schreiend angerannt: „Manne hol schnell den Doktor, das Gretchen hat een Sechser verschluckt!“
„Nee, diese Weiber“, sagt Männe, „jetzt soll ich eene Mark opfern, um een Sechser zu retten! Weeßt de weiter nischt Neies?“
„Ja! Schlechte Zeiten gibt’s! Der Kaviar wird ooch schon deirer.“
Markt 1 wohnt Max Salzmann, er verkauft Textilien, Strümpfe usw. Jeden Markttag sitzt Gottlieb ohne Beine vor seiner Ladentür und spielt: „Oh, Susanna, wie ist das Leben doch so schön.“
Gottlieb ist eine schlechte Reklame, er braucht weder Strümpfe noch Hosen. Salzmann ist aber Geschäftsmann, er gibt ihm einen
Groschen und schickt ihn drei Häuser weiter.
Bei Merks ist der Schuhladen von Franz Schröder, wo Susanna so lange klingt, bis Schröder den Groschen bringt, damit Susanna bei Holzhausen singt.
Inzwischen laufen 6 Jungen bei Zigarren-Lauterbach rein.
Der Inhaber Otto Thiemig ist Junggeselle.
„Haben Se Suleika mits goldene Mundstück?“
Als Thiemig verneint, ruft die Bande: „Die schaffen se sich man an!“
So ist auf dem Wochenmarkt manches bekannt geworden, was sich
sonst unter Geheimratstöchtern nicht erzählen läßt.
Um ein Uhr ist der Markt vorbei. Die Stände werden abgebrochen, die Wittenberger gehen nach Hause.
Die Vorstädter verhandeln in der Juristenstraße ihre Reste und kaufen dort ihren Bedarf.
Nur der Sandmann ruft noch durch die Straßen: „Weißen Saaand!“
und die Slowaken klappern mit ihren Mausefallen die Häuser ab.
Die Botenleute packen ihre Wagen und Kiepen und machen
sich gegen drei Uhr auf den Heimweg.
Inzwischen ist der Markt gesäubert.
Sogar die Rentiers, die als Sehleute mit Hund Käsestempler den Markt bevölkerten, haben sich in die Kneipen zurückgezogen.
Dort besprechen sie die Marktlage für den nächsten Markttag.
Bis der Nachtwächter wieder ruft:
“ ’s Marcht in Wittenbarch!“